"We humbly ask you to bless our nation and to bless our president Donald Trump": Die Bitte um Gottes Segen für Donald Trump fehlt bei keiner Wahlkampfkundgebung evangelikaler Christen. Und genauso leidenschaftlich wie die Loyalität dieser Wähler zum amtierenden US-Präsidenten ist das Unverständnis darüber – ganz besonders in Europa.
Philip Gorski, Professor für Religionssoziologie an der Yale-Universität und bis vor kurzem Gast-Dozent an der Uni Göttingen, hat jetzt einen Führer durch das politisch-religiöse Dickicht geschrieben. "Am Scheideweg. Amerikas Christen und die Demokratie" will erklären und aufklären und dabei so manches Missverständnis geraderücken. Das größte davon sei die Annahme, dass es sich bei Amerikas Evangelikalen um einen monolithischen Block handele, sagt Gorski:
"Da muss man schon einige Unterscheidungen machen, erstens zwischen den afroamerikanischen und den lateinamerikanischen Evangelikalen, die fortschrittlicher Ansichten sind zu Fragen wie Einwanderung, Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik. Und auf der anderen Seite die weißen Evangelikalen."
Die Wahlverwandtschaft zwischen Christentum und Demokratie kann verderben
Bevor Gorski sich dem Verhältnis zwischen weißen Evangelikalen und Donald Trump widmet, unternimmt er einen Ausflug in die Geschichte von Demokratie und Christentum in Amerika. Und landet dabei unweigerlich bei Alexis de Tocqueville. Dazu schreibt Gorski:
"So weitsichtig er war, auch Tocqueville hatte seine Scheuklappen. Er war so sehr darauf fixiert, die Vereinbarkeit von Christentum und Demokratie in Amerika aufzuzeigen, dass er nicht erkannte, dass das Christentum Hierarchie und Monarchie ebenso gut integrieren konnte. Seine Scheuklappen verhinderten, der Möglichkeit ins Auge zu sehen, dass die lange und glückliche Wahlverwandtschaft zwischen Christentum und Demokratie eines Tages versauern könnte."
In einem weiteren Kapitel beschreibt Gorski, wie sich die Republikanische Partei und konservative Christen – weiße konservative Evangelikale ebenso wie konservative Katholiken – seit den 1970er Jahren immer mehr annäherten. Eine Koalition, die Donald Trump schließlich ins Präsidentenamt beförderte. Mehr als 80 Prozent der weißen evangelikalen Christen stimmten 2016 für Trump, die dominanteste Wählergruppe.
Aber warum, fragen sich viele, stehen diese selbsterklärten Hüter der öffentlichen Moral mit solchem Eifer hinter einem moralisch eher fragwürdigen Kandidaten? Gorski:
"Die meisten Beobachter in den Medien oder der Wissenschaft begreifen das als ein Tauschgeschäft. Trump verspricht Richter zu ernennen, die gegen die Abtreibung sind und sich für konservative Werte einsetzen."
Trumps Weltanschauung entspricht der evangelikalen
Eine andere, häufig genannte Begründung für das Wahlverhalten der Evangelikalen ist die sogenannte negative Polarisierung: Sie stimmen nicht für Trump, sondern gegen die Demokraten und deren Werte. Doch dem Soziologen reichen diese Erklärungsansätze nicht:
"Was da fehlt, ist, dass viele weiße Evangelikale Trump lieben, aus tiefstem Herzen lieben. Und mein Argument ist, dass Trumps Weltvorstellung auf bestimmte Weise der evangelikalen Weltanschauung entspricht. Und da geht es vor allem um den weißen christlichen Nationalismus."
Jenes Geschichtsnarrativ, demzufolge die USA von weißen Christen gegründet und aufgebaut, zu Wohlstand und Frieden geführt worden seien. Und dass deren Vorherrschaft heute durch nicht-weiße, nicht-christliche Eindringlinge bedroht sei: Einwanderer, Muslime, Humanisten, Atheisten, Kommunisten.
"Und da müsse man um jeden Preis dieses Fundament der Nation, des Landes beschützen. Und dafür braucht man einen starken Mann. Und da wurde Trump geschickt, von Gott geschickt, meinen viele."
Gottlosigkeit ist kein Argument
Wie aber kann Gott einen so gottlosen Messias erwählen? Auch diese Frage bringe die Hartgesottenen unter Trumps evangelikalen Anhängern keineswegs in Erklärungsnot, schreibt Gorski. Sie nähmen ganz einfach Anleihen beim Alten Testament. "Die meisten vergleichen (Trump) mit Kyrus, dem persischen König, der die alten Israeliten aus ihrer babylonischen Gefangenschaft befreite und ihnen erlaubte, nach Jerusalem zurückzukehren und ihren Tempel wiederaufzubauen. Wie Trump, so behaupten sie, war Kyrus ein heidnischer Mann, den Gott als Werkzeug benutzte, um sein Volk zu beschützen."
Wer so argumentiert, sei immun gegen rationale Argumente. Und auch immun gegen die dramatischen Folgen, die Präsident Trumps – so Gorski – "stümperhafte, leichtfertige und verpfuschte Handhabung" der Covid-Pandemie für Hunderttausende von Amerikanern hatte.
Für die Wahlen im November hat der Soziologe deshalb keine optimistische Prognose:
"Am Anfang der Pandemie habe ich schon gehofft, dass die Zustimmung der Evangelikalen für Trump wegbricht. Die Zustimmungswerte sind in der Tat ein bisschen gesunken. Aber ich glaube, im Endeffekt werden sie ihn dennoch wählen."
Die Hoffnung liegt bei den nicht-weißen Evangelikalen
Langfristig setzt er seine Hoffnung auf jüngere und nicht-weiße evangelikale Christen. Und darauf, dass die säkularen Progressiven ihnen in Teilen entgegenkommen:
"Werden sie bereit sein, etwas an Boden abzugeben und Sozialkonservativen im Niemandsland zwischen den Schützengräben der Kulturkämpfe zu begegnen? […] Die Zukunft der amerikanischen Demokratie wird auch von ihrer Antwort abhängen."
Philip Gorskis Buch ist eine erhellende, kraftvolle, teilweise unbequeme Mischung aus historischer Analyse, politischem Essay und aktuellem Kommentar. Und eines der wichtigen Bücher über den Zustand Amerikas vor den Wahlen am 3. November.
Philip Gorski: "Am Scheideweg. Amerikas Christen und die Demokratie vor und nach Trump"
Herder Verlag, 223 Seiten, 24 Euro.
Herder Verlag, 223 Seiten, 24 Euro.