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Amerikas Moderne im Fokus

"Abstrakte Fotografie" könnte man die frühen Arbeiten des amerikanischen Fotografen Charles Sheeler nennen, wenn er 1915 etwa die Seitenwand einer weißen Scheune so fotografiert, dass sie mehr als Struktur denn als Gebäude erscheint. Gleichzeitig gilt er als erster Dokumentarist einer eigenständigen amerikanischen Kultur, denn er lichtete auch Fabriken ab, Industrieanlagen wie die Ford-Werke und natürlich Hochhäuser. Das Städelsche Kunstinstitut in Frankfurt am Main zeigt jetzt Arbeiten des modernen Klassikers Charles Sheeler.

Von Rudolf Schmitz |
    Das fotografische Werk von Charles Sheeler, das heute so viele Überraschungen für uns bereit hält, war ursprünglich aus der Not geboren. Wie viele angehende amerikanische Maler war Sheeler 1909 in Paris gewesen und hatte sich in Cezanne, Picasso, Matisse und Braque verliebt. Das blieb nicht ohne Folgen für seine eigene Malerei. Sein New Yorker Kunsthändler kündigte daraufhin die Zusammenarbeit. Um sich über Wasser zu halten, begann Charles Sheeler zu fotografieren, neu gebaute Häuser zunächst, später dann Kunstwerke im Auftrag von Sammlern. Und diese Fotografie, die uns heute so begeistert, war objektiv, distanziert, streng formal und schnörkellos. In den Worten von Edward Steichen, dem wir den Begriff der Straight Photography verdanken, war Charles Sheeler "objektiv, bevor es der Rest von uns war". Wenn Sheeler die Seitenwand einer Scheune fotografiert, dann sieht man zunächst nur ein weißes Feld, das aus Linien und Strukturen besteht. Ein kleines Fenster unten rechts, ein leicht zu übersehendes Huhn am unteren Bildrand, ein paar Dachziegel ganz oben geben schließlich den Hinweis, um welche Alltäglichkeit es sich hier handelt. Der analytische Kubismus, den die berühmte Armory Show früh nach Amerika gebracht hatte, schlug sich nicht so sehr in der amerikanischen Malerei als vielmehr in der Fotografie nieder, vor allem bei Paul Strand und Charles Sheeler.

    Wenn er 1917 die Holztreppe seines Wochenendhauses in Untersicht fotografiert oder dann, 1920, die berühmte Serie über verschattete und von Rauchschwaden verdeckte Hochhäuser von Manhattan, dann gewinnt man den Eindruck, hier habe jemand den Kubismus "in Natur" aufgespürt, in der eigenen Umgebung und Lebenswelt. Charles Sheeler arbeitete in Serien und verblüffend filmisch: als seien die ineinander geschachtelten Manhattan-Facetten, die er präsentiert, nur die Ausschnitte eines langen und geduldigen Kameraschwenks.

    Um 1912 begann Sheeler mit der Fotografie, Anfang der dreißiger Jahre, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, hörte er damit auf, um sich wieder der Malerei zu widmen. Da allerdings malte er nach eigenen Fotovorlagen.

    Die Ausstellung im Frankfurter Städel zeigt Charles Sheeler mit all' seinen Gesichtern, es sind Bilder aus der Privatsammlung Lane, 1965 von der Witwe Sheelers erworben. Und es ist leicht zu verstehen, warum sich das amerikanische Sammlerehepaar für den Nachlass von Charles Sheeler begeisterte. Denn hier geht es nicht nur um einen ausgezeichneten Fotografen, dessen Silberchlorid-Abzüge bei aller thematischen und formalen Wucht oft nur Postkartengröße haben. Auch der europäisch-amerikanische Dialog ist hier mit Händen zu greifen. Als Charles Sheeler 1927 in der Nähe von Detroit die Produktionsanlagen der Ford Motor Company besuchte und dort seine berühmte Serie über die kraftvolle Geometrie und die rhythmische Struktur dieses Industriekomplexes fotografierte, begann auch Renger-Patzsch im Ruhrgebiet mit einer Serie von Industriefotografien. Die neue Sachlichkeit in der Fotografie war eine europäisch-amerikanisches Simultanwahrnehmung.

    Aber das Werk von Charles Sheeler, wie es sich jetzt im Frankfurter Städel ausbreitet, ist noch in anderer Hinsicht verblüffend. Da meint man Vorwegnahmen der fotografischen Konzeptkunst unserer Tage zu sehen. 1918 fotografierte Charles Sheeler die Kunstsammlung des befreundeten Ehepaars Arensberg. Duchamps Akt, die Treppe hinuntersteigend, über einer Biedermeierkommode. Kunst im privaten Wohnambiente, als Gegenstand, mit dem man sich umgibt, schmückt und definiert. Das ist exakt die Fotografie, wie sie Louise Lawler dann in den achtziger Jahren präsentiert. Und die wenigen Blumen- und Blütenfotografien, die es in dieser Ausstellung gibt, wirken in ihren bedrohlichen Schwarzweiß-Kontrasten wie die Blumen des Bösen, die sehr viel später einmal Robert Mapplethorpe komponieren wird.

    Charles Sheeler, das ist für die meisten Fotografiehistoriker Maschinenästhetik und Präzisionismus. Der Fotograf betonte, dass seine Freude an einem Ford Lincoln genau so groß sei wie an einem Musikstück von Bach oder an einem Bild von El Greco - "die Teile arbeiten so wunderbar zusammen", sagte er. Doch wenn man das Spiel aus Licht und Schatten, Monumentalität und Kontur auflösendem Rauch sieht, das viele seiner Industrie- und Stadtfotografien überzieht, so ist da auch immer etwas Abgründiges und Unheimliches im Spiel, eine Erschütterung, die von der Objektivität dieser Fotografie nicht gänzlich verdeckt wird. Es war der mit Charles Sheeler befreundete Arzt und Schriftsteller William Carlos Williams, der davon sprach, dass die einfachsten Dinge für eine Nation am wichtigsten seien. Von dieser Transzendenz des Einfachen handelt die großartige Ausstellung im Frankfurter Städel.