Archiv


Amnesty International: Menschenrechte müssen besser geachtet werden

Ruth Jüttner sagt, dass in Ägypten eine Überprüfung von Polizei und Justiz notwendig sei, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. In Libyen, so die Expertin von Amnesty International, sei die Situation um "einigs schwieriger". Hier müssten Institutionen ganz neu gebildet werden.

Ruth Jüttner im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Tobias Armbrüster: Als vor gut einem Jahr in vielen Ländern der arabischen Welt die Bürger zum ersten Mal auf die Straße gingen, da war die Hoffnung groß, dass sich die Lebensbedingungen in diesen Staaten durch diese Proteste langfristig verbessern könnten. In mehreren Ländern wurden dann tatsächlich politische Reformen auf den Weg gebracht. In Ägypten zum Beispiel finden zurzeit die ersten freien Parlamentswahlen statt, in Tunesien wurde bereits gewählt. Aber die Menschenrechtslage in vielen Ländern, die sieht tatsächlich nach wie vor düster aus. Folter und Gewalt sind an der Tagesordnung. Das entnehmen wir einem Bericht der Organisation Amnesty International. Der wurde heute vorgestellt und über den kann ich jetzt reden mit Ruth Jüttner. Sie ist Amnesty-Expertin für den Nahen Osten und für Nordafrika. Schönen guten Tag, Frau Jüttner.

    Ruth Jüttner: Guten Tag, Herr Armbrüster.

    Armbrüster: Frau Jüttner, lassen Sie uns zunächst über das wichtigste Land in der Region sprechen: über Ägypten. Wie hat sich die Menschenrechtslage Ihrer Kenntnis nach dort entwickelt?

    Jüttner: Ich denke, zunächst muss man schon noch mal daran erinnern, dass das, was die Ägypter und das Volk, was da auf die Straße gegangen ist, erreicht hat, schon erstaunlich ist. Sie haben es geschafft, dass Präsident Mubarak zurückgetreten ist, und damit ist eben eine Symbolfigur für Repression und für Stillstand aus dem Amt gejagt worden. Das Problem ist aber, dass das System der Repression, also die Polizei, die Sicherheitsdienste, die Armee, die Justiz, eben nicht reformiert worden ist, sondern weiter so operiert, wie das viele Jahre lang der Fall gewesen ist. Und was wir jetzt leider in den letzten Monaten erlebt haben ist, dass das Militär, die Armee, die die Macht übernommen hat, eben mit denselben Methoden die Proteste niederschlägt. Es kommt zu Todesopfern, wir haben mindestens 100 Menschen als Todesopfer verzeichnet. Und was besonders gravierend ist, ist, dass in den letzten Wochen und Monaten auch sehr brutal gegen Frauen, die demonstriert haben, vorgegangen wird. Es gibt Bilder über sexuelle Übergriffe gegen Frauen. Ein weiterer Punkt, der eine Verschlechterung der Menschenrechtslage darstellt, ist, dass viele Zivilisten vor Militärgerichten angeklagt werden. Es waren mindestens 12.000 Zivilpersonen, das sind so viele, wie in den ganzen 30 Jahren der Mubarak-Herrschaft nicht zusammengekommen sind. Und was notwendig ist, ist, dass es eine Reform und eine Überprüfung von Polizei, von Justiz gibt, dass diejenigen, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, eben auch in fairen Verfahren vor Gericht gestellt werden und dass Mechanismen eingesetzt werden, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, wie zum Beispiel Folter, indem man unabhängige Besuche in den Gefängnissen zum Beispiel ermöglicht.

    Armbrüster: Würden Sie dann sagen, Frau Jüttner, dass die Menschen oder die Beamten oder Staatsmitarbeiter, die bislang für Folter und Repressalien zuständig waren in Ägypten, durch diese Revolution nicht zur Seite gewischt wurden?

    Jüttner: Das ist eines der größten Probleme. Es werden jetzt zwar im Moment Verfahren durchgeführt. Mubarak ist angeklagt, der ehemalige Innenminister, auch einige andere sehr hochrangige Repräsentanten des alten Regimes. Aber sozusagen die Institution als solches, die vielen Hunderte und Tausende Mitarbeiter, die Offiziere, die hohen Beamten, die machen ihre Arbeit so wie bisher. Und was notwendig ist, ist, dass man sich wirklich mit den Menschenrechtsverletzungen der vergangenen Jahrzehnte beschäftigt, dass man aufklärt, dass man Untersuchungen einleitet, dass Transparenz auch hergestellt wird und dass diejenigen, die wirklich schwere Menschenrechtsverletzungen zu verantworten haben, vor Gericht gestellt werden, dass aber auch Trainingsmaßnahmen durchgeführt werden, um diejenigen, die jetzt in diesen Institutionen arbeiten, zu befähigen, ihren Dienst zu tun, indem sie die Menschenrechte achten.

    Armbrüster: Dann lassen Sie uns kurz noch, Frau Jüttner, auf die Lage im Nachbarland von Ägypten eingehen. Lassen Sie uns nach Libyen blicken. Dort sind die politischen Umstände ja noch bei weitem nicht so geklärt, wie das in Ägypten der Fall ist. Was lässt sich dort zur Menschenrechtslage sagen?

    Jüttner: Die Situation in Libyen ist sicherlich um ein Vielfaches schwieriger. Die neue Regierung steht vor extrem großen Herausforderungen, weil wenn dort das Ziel sein soll, dass Menschenrechte in Zukunft besser geachtet werden, dann müssen diese Institutionen praktisch von Grund auf gebildet werden. So etwas wie eine unabhängige Justiz, wie Polizei, Sicherheitskräfte, aber auch die Zivilgesellschaft, die hat es unter Gaddafi überhaupt nicht gegeben. Also auch die Gesellschaft muss sich formieren, um die Rechte, ob es die Rechte von Frauen sind, die Rechte von Minderheiten, Meinungs- und Pressefreiheit, einzufordern.

    Der Übergangsrat hat zwar zu Beginn die Menschen aufgefordert, keine Racheakte durchzuführen, zum Beispiel an denjenigen, die als Gaddafi-Anhänger gelten, aber auch zum Beispiel gegenüber afrikanischen Migranten, die verdächtigt werden, Söldner im Auftrag von Gaddafi zu sein. Was aber der Übergangsrat nicht gemacht hat ist, dann, wenn es zu Übergriffen gekommen ist, diese auch wirklich zu verurteilen. Das heißt also, in der Praxis kommt es immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen. Nach UN-Angaben sind 7000 Menschen in den Gefängnissen, aber es gibt überhaupt gar keine Justiz, es wird überhaupt nicht überprüft, warum sind die Leute in Haft, und keiner kann sich sozusagen gegen diese Inhaftierung vor Gericht wehren. Das heißt, hier ist die Menschenrechtslage noch sehr viel ungewisser und sehr viel schlechter.

    Armbrüster: Ganz kurz, Frau Jüttner. Haben Sie den Eindruck, dass die Bundesregierung und auch die Europäische Union genug tun, um diese Missstände anzuprangern?

    Jüttner: Ich denke, was wir vor allen Dingen brauchen, in Deutschland, aber auch in Europa, ist, dass es eine glaubwürdige Menschenrechtspolitik gibt. Und wenn wir beim Bereich Flüchtlingspolitik bleiben, da können wir zum Beispiel bei Libyen sehen: Da wird schon wieder auf EU-Ebene verhandelt, dass man Flüchtlinge nach Libyen zurückführen möchte, obwohl es in Libyen überhaupt noch kein funktionierendes Justizsystem gibt, obwohl es kein Asylverfahren gibt, obwohl afrikanische Migranten sehr stark bedroht sind, Opfer von Übergriffen zu werden. Trotzdem will man Flüchtlinge dorthin zurückschicken. Wenn man eine glaubwürdige Menschenrechts- und Flüchtlingspolitik machen will, dann darf solche Diskussion eigentlich gar nicht geführt werden.

    Ein anderer Bereich, wo man sehen kann, dass mit doppelten Standards gearbeitet wird, ist der Bereich der Rüstungsexporte. In Deutschland war im letzten Jahr zu hören, dass man Panzer nach Saudi-Arabien verkaufen will, ein Land, was mit Sicherheit auch eine ganz schlechte Menschenrechtsbilanz hat. Das ist nicht nachvollziehbar. Wenn man auf der einen Seite sagt, Menschenrechte sind für uns Kriterium, Leitlinie der Politik und sollen auch bei Rüstungsentscheidungen eine Rolle spielen, dann ist nicht nachvollziehbar, dass man hier solche Entscheidungen trifft.

    Armbrüster: ... , sagt Ruth Jüttner. Sie ist Amnesty-Expertin für den Nahen Osten und für Nordafrika. Besten Dank, Frau Jüttner, für diese Einschätzungen und dieses Gespräch.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.