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20 Jahre nach dem Amoklauf in Erfurt
Präventionsforschung - wie sich Amoktaten verhindern lassen

Vor 20 Jahren, am 26. April 2002, erschoss ein 19-Jähriger bei einem Amoklauf in seiner früheren Schule in Erfurt 16 Menschen. Wie lassen sich Amoktaten verhindern? Heute ist dazu viel mehr bekannt als damals - und es gibt auch eine spezielle Beratungs-Hotline.

Von Kathrin Kühn |
20. Jahrestag des Amoklaufs am Gutenberg Gymnasium
Eine Gedenktafel mit den Namen der Opfer am Gutenberg-Gmnasium 20 Jahre nach dem Amoklauf. Am 26. April 2002 erschoss ein ehemaliger Schüler am Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und anschließend sich selbst. (picture alliance/dpa)
Am 26. April 2002 erschoss in Erfurt ein 19-Jähriger in seiner früheren Schule, dem Gutenberg-Gymnasium, 16 Menschen. Der Amoklauf erschütterte nicht nur die Stadt, sondern auch ganz Deutschland. Wieso konnte das passieren?
Das ist die große Frage, die auch nach 20 Jahren noch im Raum steht. Für die Präventionsforschung in Deutschland war Erfurt ein Anlass, genauer hinzuschauen, wie sich Amokläufe verhindern lassen. Wie sieht der Forschungsstand aus und was muss noch getan werden?

Gedenken 20 Jahre nach dem Amoklauf in Erfurt

Präventionsforschung


Was hat sich in den vergangenen 20 Jahren in der Forschung getan?

An der Universität Gießen gab es ein großes interdisziplinäres Forschungsprojekt, in dem viele Amoktaten unter die Lupe genommen wurden. Dabei wurden in Fallstudien Taten zwischen 1999 bis 2012 ausgewertet. Dazu wurden unter anderem Tagebücher ausgewertet, das Internet-Verhalten analysiert und der internationale Forschungsstand herangezogen. Daraus ist in Gießen das Beratungsnetzwerk Amokprävention entstanden. Es wurde dort auch eine Hotline eingerichtet, bei der sich Menschen melden können, wenn sie befürchten, jemand, könne eine Tat planen. Dort melden sich sehr regelmäßig Personen - jede Woche etwa zwei bis drei. In den vergangenen sieben Jahren waren es insgesamt mehr als 400 Anrufe.

Gewaltprävention an Schulen, Interview mit Hagen Berndt, LPH

Was passiert, wenn jemand eine mögliche Amoktat bei dem Beratungsnetzwerk meldet?

Gemeinsam mit Kriminologen werten Mitarbeiter in dem Projekt in Gießen die Angaben aus; sie sind auch eng mit der Polizei vernetzt. Im Fall der Fälle kann sehr schnell gehandelt werden. Es gibt keine genauen Zahlen darüber, wie oft es dazu kommt. Wenn man nicht sicher weiß, ob etwas passiert wäre, lässt es sich statistisch schwerer erfassen. Generell ist es so, dass in etwa 80 Prozent der Fälle die Polizei eingeschaltet wird, in Absprache mit den Anrufern.

Nach welchen Kriterien wird entschieden, ob eine Lage ernst genommen werden sollte?

Die Wissenschaftler betonen, dass immer genau hingeschaut werden muss. So ein Vorgang dürfe nicht im Sinn einer Checkliste ablaufen, nach der sich etwas vorhersagen lässt. Es handele sich um ein „dynamisches Handlungsmuster“. Aber es gibt natürlich Hinweise: Alles wird oft länger geplant, es handelt sich in der Regel um Einzeltäter und meistens sind es Männer. Dahinter stehen auch Phänomene, wie das Gefühl, in einem bestimmten Rollenbild versagt zu haben.
Ein Beispiel hierfür ist das „Incel-Phänomen“ – junge Erwachsene, die keine Partnerin finden und dann einen Hass gegen Frauen entwickeln. Zudem gibt es in den allermeisten Fällen Anzeichen, die Freunde, Familie, Kollegen erkennen könnten. Diese Anzeichen sind aber auch nicht immer gleich. Dennoch: Potenzielle Amoktäter treten oft weniger aggressiv und unbeherrscht auf als andere „typische“ Gewalttäter. Sie leben eher zurückgezogen, aber wirken trotzdem bedrohlich.

Gibt es Unterschiede in der Erkennung je nach Alter eines Amokläufers?

Bei Jüngeren sind die Muster anders als bei Älteren. Jüngere Täter sind oft Einzelgänger, die sich schwer tun im Umgang mit anderen, sich nicht anerkannt oder sogar gedemütigt fühlen. Manchmal überfordert sie auch die Schule und sie verbringen viel Zeit vor dem Computer. Außerdem: Jüngere Täter identifizieren sich öfter mit früheren Attentätern, denen sie nacheifern.
Anders die älteren Täter: Es gibt zum einen die Gruppe derer, die größere psychische Störungen haben und zum anderen eine Gruppe, die anders auffällig ist. Oft haben sie in der Vergangenheit traumatische Erlebnisse erfahren. Letztlich muss jeder Fall vom sogenannten Bedrohungsmanagement bewertet werden.

Passiert schon ausreichend im Bereich Prävention?

Für Jens Hoffmann, Psychologe, Soziologe und Leiter des Darmstädter Instituts für Psychologie und Bedrohungsmanagement, braucht es mehr Anlaufstellen vor Ort und mehr regionale Netzwerke, in denen Polizei, Ämter, Bildungseinrichtungen und Kliniken zusammenarbeiten. Soziale Medien müssten zudem viel stärker dagegen vorgehen, dass dort keine Bilder und Videos von Amoktaten kursieren, weil es eben zu Nacheiferungstaten kommt, sagt Hoffmann. Das sei „ganz zentral.“ Aber auch die klassischen Medien müssten sehr genau darauf achten, dass sie nicht glorifizierend berichten und den Tätern keine Bühne bieten.

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