In der Vergangenheit habe man insbesondere bei Schul-Amokläufen beobachten können, wie das Erreichen dieses Status' Nacheiferer angezogen habe, sagte Robert Kahr.
Die Berichterstattung der Tat von München sei heterogen zu bewerten. Während des Einsatzes habe es sehr viele Live-Berichte gegeben, in denen relativ viel unhinterfragt publiziert worden sei. Auch Gerüchte seien verbreitet worden. Doch es sei wichtig, dass in diesen Fällen nur verifizierbare Informationen herausgegeben werden.
Eine solche Tat sei darauf ausgerichtet, eine möglichst große Wirkung in der Gesellschaft zu erzielen, meinte Kahr. Daher sollte nicht zu sehr auf den Täter geblickt werden, sondern auf die Opfer. Unverpixelte Bilder von Täter und Opfern seien gefährlich: Zum einen ziehe dies Nachahmungstäter an, zum anderen würden die Opfer und ihr Umfeld "unwillentlich in die Öffentlichkeit gezerrt".
Idealerweise würde man nach solchen Taten abwarten, nüchtern bewerten und erst dann publizieren. Durch soziale Medien und Laienjournalisten sei dies allerdings schwierig, räumte Kahr ein.
Das komplette Interview zum Nachlesen:
Doris Simon: Ein Jahr lang hat David S., der 18-jährige Todesschütze von München, seine Tat geplant. Das war am Freitag fast ein wenig in den Hintergrund gerückt nach dem schrecklichen Anschlag von Ansbach gestern Abend, wo eine Bombe zwölf Menschen verletzt hat, einige davon schwer. Aber zurück nach München. Der Täter tötete neun Menschen, er erschoss sich dann selbst. Aber noch weit bis in die Nacht gab es die Furcht, es könnten mehrere Täter noch in München unterwegs sein. Und diese Furcht wurde ausgiebig befeuert durch Berichte, Falschmeldungen in den sozialen Netzwerken.
- Robert Kahr lehrt an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster. Er beschäftigt sich unter anderem dort mit der medialen Inszenierung von Amok. Guten Morgen!
Robert Kahr: Guten Morgen.
Simon: Herr Kahr, war die Berichterstattung über den Amoklauf von München insgesamt aus Ihrer Sicht angemessen?
Kahr: Die Berichterstattung ist relativ heterogen zu bewerten. Es gab während der laufenden Lage, wie wir das nennen, also während des Einsatzes sehr viel Live-Berichterstattung. Es war primär im Fernsehen durch Nachrichtensender geprägt. Und da war es schon sehr, sehr oft so, dass relativ unhinterfragt publiziert wurde, dass auch Gerüchte weitergegeben wurden, dass unverifizierte Nachrichten weitergegeben wurden. Das ist durchaus abzulehnen. In solchen Situationen ist es extrem wichtig, nur Informationen rauszugeben, die sich wirklich verifizieren lassen, idealerweise auch durch die Polizei publiziert wurden. Deshalb ist das als heterogen zu bewerten.
Simon: Wenn ich das richtig verstehe, ist es eher die Art der Berichterstattung, wenn wir jetzt auf das Fernsehen schauen, die Sie stört, als der Umstand, dass da stundenlang Bericht erstattet wurde?
Kahr: Natürlich ist eine solche Tat darauf ausgerichtet, eine möglichst große Wirkung in der Gesellschaft mit der Inszenierung der Tat zu erreichen. Deshalb wäre es natürlich wünschenswert, auch in einem relativ geringen Maße oder in einem relativ nüchternen Maße darüber zu berichten. Das ist unrealistisch. Es entsteht ein hohes Informationsdefizit, ein hohes Informationsbedürfnis in der Gesellschaft. Nichtsdestotrotz wäre es wichtig, nicht so sehr auf den Täter zu fokussieren zum Beispiel, die Opfer möglichst zu schützen dabei. Vor allem das ist ein Problem gewesen bei den Videos, die publiziert wurden, dass dort unverpixelt Opfer zu sehen waren, dass da unverpixelt der Täter zu sehen war. Da wissen wir mittlerweile, dass das eine sehr, sehr negative Wirkung haben kann: A für mögliche Nachahmungstäter, die sich gegebenenfalls mit dem Täter identifizieren. Und B natürlich für die Opfer und ihr Umfeld dadurch, dass sie unwillentlich in die Öffentlichkeit gezerrt werden können.
Simon: Schauen wir noch mal auf das, was Sie gerade angesprochen haben: die Nachahmungstäter. Wie weit ist denn so eine Berichterstattung nachgewiesen an Anreiz für die?
Kahr: Es werden quasi Ikonen geschaffen
Kahr: Ich habe da eine umfangreiche Studie zu gemacht. Gerade die Täter, die sehr, sehr stark in die Öffentlichkeit gezerrt wurden. Im Bereich der Schul-Amokläufe, die ja bis in die 1990er-Jahre zurückreichen, war es so, dass gerade die Täter, über die sehr viel bekannt wurde, deren Tagebücher veröffentlicht wurden, deren Manifeste, wie ja jetzt auch eines in München entstanden ist, publiziert wurden. Gerade die waren es, die es zu einem dunklen Promi-Status, wenn man so will, geschafft haben, sodass viele andere sich damit identifiziert haben und einige wenige Extremfälle sogar dann so weit gekommen sind in ihrer Entwicklung, dass sie selber zur Tat geschritten sind. Das heißt, wenn solche Ikonen quasi geschaffen werden und auch durch die mediale Berichterstattung, durch die Fokussierung auf den Täter geschaffen werden, ist das durchaus ein Potenzial für Nachahmungstäter, sich damit zu identifizieren und diesen Vorbildern nachzueifern.
Simon: Jetzt haben Sie selber, Herr Kahr, gerade das legitime Informationsbedürfnis vieler Menschen genannt. Anscheinend richtig machen gibt es in der Situation nicht. Was wäre denn ein Idealzustand in der Berichterstattung der klassischen Medien?
Kahr: Wir haben da mittlerweile relativ gute wissenschaftliche Erkenntnisse. Es gibt auch zahlreiche Publikationen, die sich damit befassen, wie sollten Medien berichten. Und da ist wie schon gesagt ein wesentlicher Aspekt, nicht zu sehr auf die Täter zu fokussieren, sondern auf das, was er angerichtet hat, zu fokussieren, auf das Leid, was er den Opfern und ihren Familien bereitet hat.
Simon: Kann man aber nicht in der aktuellen Situation, wenn man berichtet? Soweit ist man da noch nicht.
Kahr: Idealerweise würde man abwarten mit der Berichterstattung
Kahr: Das ist das Problem und das ist die große Herausforderung. Da kann man leider eigentlich mehr falsch machen als richtig als Medium. Idealerweise würde natürlich aus polizeilicher Sicht das Optimum bedeuten, würde man abwarten, würde man nüchtern und neutral die Informationen bewerten und erst dann publizieren. Im Zeitalter - darüber reden wir ja - digitaler Medien, von Social Media und des Internets, ist das dadurch bedroht, dass Laienjournalisten, Menschen auf der Straße oder von sonst wo zu dem Thema natürlich sehr, sehr umfangreich kommunizieren.
Simon: Genau das wollte ich sagen. Denn wenn sich die klassischen Medien zurückhalten, dann überlässt man das Feld ja den sozialen Netzwerken. Da haben wir am Wochenende gesehen, was da für Gerüchteküchen kochen.
Kahr: Aber selbst da - ich mache das natürlich dann in solchen Lagen sehr intensiv -, wenn Sie dann in soziale Medien schauen, sind sehr, sehr viele Menschen da, die auch durchaus die Arbeit der Medien kritisieren und auch die Arbeit oder vielmehr das Teilverhalten, das Post-Verhalten von anderen Usern kritisieren. Denn viele Menschen wissen mittlerweile darum, wie problematisch das gerade in solchen Lagen sein kann, dass es der explizite Wille des oder der Täter ist, Publizität zu erreichen, eine möglichst große Sichtbarkeit ihrer Taten zu erreichen. Da ist letztendlich die Community gefragt, da sind die Medien gefragt, dieses Ziel der Tat, dass sie dadurch erkaufen, dass sie Menschen töten und schwer verletzen, nicht zu erreichen. Da müssen alle zusammen dran arbeiten. Das ist extrem schwer, aber letztendlich eine Herausforderung unserer digitalen Gesellschaft.
Simon: Robert Kahr lehrt an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster, beschäftigt sich unter anderem mit der medialen Inszenierung von Amokläufen. Herr Kahr, vielen Dank für das Gespräch.
Kahr: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.