Ruth Kinet: Amos Oz, Sie sind der Erste, der mit dem Siegfried-Lenz-Preis ausgezeichnet wurde. Siegfried Lenz war Ihnen ein Freund. Was hat Sie beide verbunden?
Amos Oz: Siegfried und seine damalige Frau Lieselotte kamen uns kurz vor unserer ersten Reise nach Deutschland im Kibbuz Chulda besuchen. Wenn Schriftsteller sich zum ersten Mal begegnen und jeder die Bücher des anderen vorher gelesen hat, dann ist diese Begegnung kein Treffen zwischen Unbekannten. Als wir uns dann trafen, sind wir fast sofort Freunde geworden. Ich wusste schon einiges über die Biografie von Siegfried Lenz. Ich wusste, dass er kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in Dänemark zu den Briten übergelaufen war. Ich wusste das aus seinen Büchern und auch aus seiner Biografie. Es gab zwischen uns eine sehr warme Verbindung. Wir haben ihn oft in seinem Haus in Hamburg besucht und seine Frau und er waren häufig unsere Gäste in Arad. Wir waren sehr eng verbunden.
Kinet: Es gab Zeiten in Ihrem Leben, da hatten Sie es sich zum Grundsatz gemacht, niemals deutschen Boden zu betreten. Wer oder was konnte Sie davon überzeugen, es doch zu tun?
Oz: Als ich ein Kind war, habe ich nicht nur beschlossen, niemals deutschen Boden zu betreten. Ich hatte auch beschlossen, dass ich niemals Gegenstände benutzen würde, die in Deutschland hergestellt wurden. Mit einer Ausnahme: Bücher. Ich konnte die Bücher aus Deutschland nicht boykottieren, denn wer Bücher boykottiert, ist ein bisschen wie diejenigen, die er boykottieren will. Als man in Israel begann, die Bücher von Nachkriegsautoren ins Hebräische zu übersetzen, las ich alles, was übersetzt wurde: Grass, Böll und Lenz und Ingeborg Bachmann, die ganze Gruppe 47. Alles, was an deutscher Literatur übersetzt wurde, auch ins Englische, las ich. Und plötzlich schien es mir immer schwieriger, mit allen Deutschen für alle Zeiten im Unfrieden zu sein. Ich war gezwungen, mich selbst zu fragen, was hätte ich getan, wenn ich, so wie Siegried Lenz, ein Jugendlicher in der Zeit der Nationalsozialisten gewesen wäre. Das sind keine einfachen Fragen. Diese Fragen haben in mir auch die Neugierde geweckt, das neue Deutschland kennenzulernen. Das hat mich dazu gebracht, dorthin fahren zu wollen, um mir selbst ein Bild zu machen.
"Die Beziehungen zu Deutschland können niemals normal sein"
Kinet: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie in Deutschland sind?
Oz: Ich war sehr oft in Deutschland und tagsüber ist alles gut. Ich spreche, ich streite, ich halte Vorträge, manchmal lache ich auch mit Freunden. Aber nachts fällt es mir schwer zu schlafen. Auch nach mehr als 20 Besuchen in Deutschland fällt es mir schwer, nachts Schlaf zu finden. Auch ich in Österreich geht es mir so.
Kinet: Im kommenden Jahr feiern wir 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland. Konnten Sie sich zu Beginn der 1960er-Jahre vorstellen, dass es irgendwann überhaupt denkbar sein könnte, eine Beziehung zu Deutschland aufzunehmen?
Oz: Ich hielt es schon für möglich, aber vielleicht nach 300 Jahren. Ich dachte nicht, dass es so schnell gehen würde. Ich dachte und denke noch immer, dass die Beziehungen zu Deutschland niemals normal sein können. Intensiv ja, aber nicht normal. Sie können nicht sein wie die Beziehungen zwischen Uruguay und Neuseeland oder Kanada und Bulgarien. Es wird immer eine sehr tiefe Intensität in diesen Beziehungen sein. Darüber hinaus, ob die Israelis das wollen oder nicht, ob die Deutschen das wollen oder nicht, gibt es sehr viele jüdische Gene in der deutschen Kultur und nicht wenige deutsche Gene in unserer Kultur hier in Israel. Deshalb sind die Beziehungen intensiv, manchmal sehr eng, Aber auf keinen Fall jemals normal.
Kinet: Als es in Israel darum ging, ob man diplomatische Beziehungen zu Deutschland aufnehmen sollte, wurde auf den Straßen und Plätzen des Landes demonstriert. Wo standen Sie damals?
Oz: Ich gehörte damals zu den Demonstranten. Ich dachte, es sei zu früh. Ich fand, man müsse wenigstens warten bis die ganze Generation der Nationalsozialisten nicht mehr lebt. Ich hielt es für zu früh. Heute denke ich das nicht mehr. Ich denke, dass wir mit den neuen Generationen von Deutschen viel zu besprechen haben. Nicht nur über die Zeit des Nationalsozialismus, nicht nur über die Ermordung des jüdischen Volkes, auch über das, was lange vorher war. Wir haben vieles, worüber wir sprechen können. Wir können über Heine und Kafka sprechen und vieles mehr.
Kinet: Ihr neues Buch "Das Evangelium nach Yehuda", das soeben auf Hebräisch erschienen ist und im März unter dem Titel "Judas" in deutscher Übersetzung erscheinen wird, erzählt die komplizierte und unmögliche Liebesgeschichte zwischen einem 25jährigen jungen Mann und einer 45-jährigen Frau. Warum haben Sie aus Judas Ischariot den Protagonisten ihres Romans gemacht?
Oz: Er hat mich interessiert, seit ich 15 oder 16 war. Damals habe ich zum ersten Mal das Neue Testament gelesen und diese Geschichte hat mich nicht überzeugt. Zunächst habe ich vor vielen Jahren einmal recherchiert, wie viel diese 30 Silberlinge wert waren, die er für den Verrat Jesu' bekommen hat. Das ist nicht viel Geld. Es entspricht in etwa dem, was damals ein Sklave kostete. Judas war kein armer Mann, aber nehmen wir an, dass er Jesus für Geld verkauft hat. Warum erhängte er sich dann noch am selben Abend? Wie passt das zusammen? Es gibt noch etwas, das meiner Meinung nach nicht zusammenpasst: Warum soll es diesen berühmten Kuss gegeben haben, mit dem Judas den Soldaten zu verstehen gegeben haben soll, wer von den Jüngern Jesus war. Die Leute, die kamen, um Jesus gefangen zu nehmen, wussten wie Jesus aussieht. Ganz Jerusalem wusste wie Jesus aussieht. Er hatte schon einige Skandale in Jerusalem verursacht. Warum musste Judas ihm einen Kuss geben, um ihn der Festnahme zuzuführen? Jesus bestritt auch nicht, dass er Jesus sei. Diese ganze Geschichte passte für mich nicht zusammen. Ich habe mir viele Fragen gestellt. Und in meinem Buch gibt es eine angesichts der christlichen Erzählung der Geschichte sehr kontroverse, sehr provokante Antwort. Nämlich, dass manchmal gerade der, den man einen Verräter nennt, der loyalste, liebevollste und treuste von allen ist.
"Judas Ischariot ist das Tschernobyl des Antisemitismus"
Kinet: In der christlich geprägten Welt wurde aus Judas Ischariot der Archetypus des Verräters. Was macht einen Verräter aus?
Oz: In der christlichen Welt oder wenigstens Teilen davon wurde Judas Ischariot nicht nur zum Archetypus des Verräters, sondern auch zum Archetypus des Juden. Ich denke, dass die Figur des Judas Ischariot das Tschernobyl des Antisemitismus bedeutete. Wenn ich zum Beispiel an wunderbare Malereien und Zeichnungen aus der Renaissance denke, die das letzte Abendmahl darstellen, auf denen Jesus in der Mitte zu sehen ist mit einem Heiligenschein um seinen Kopf und 11 Jüngern, die alle schön sind und für gewöhnlich arisch aussehen und nicht semitisch und nur einem, der in der Ecke sitzt und genau so aussieht, wie die Karikatur eines Juden im "Stürmer". Dieser Mann ist das Tschernobyl des Antisemitismus. Und ich hatte das Bedürfnis, diese ganze Sache auf den Kopf zu stellen.
Kinet: Im Laufe der Geschichte wurden auch schon einige herausragende Leute als Verräter beschimpft...
Oz: Die Frage, wer wen als Verräter bezeichnet, interessiert mich schon seit vielen Jahren. Ich meine dabei nicht einen banalen Verräter, der Geheimnisse für Geld ausplaudert, das interessiert mich nicht. Ich meine Leute, die ihrer Zeit voraus waren. Oftmals ist ein Verräter Einer, der sich wandelt und der nur in den Augen derer, die Veränderungen hassen, sie nicht verstehen und sich vor ihnen fürchten, ein Verräter ist. Als Lincoln zum Beispiel die Sklaven in Amerika befreit hat, hat das halbe amerikanische Volk ihn als Verräter gebrandmarkt. Churchill, der das britische Empire aufgelöst hat, war in den Augen des britischen Volkes ein Verräter. Oder de Gaulle, der die französische Kolonialherrschaft in Algerien beendet hat. Millionen von Franzosen nannten ihn einen Verräter. Als Saddat nach Jerusalem kam, beschimpften ihn Millionen von Arabern als Verräter. Als Menachem Begin den ganzen Sinai zurückgegeben hat, um Frieden dafür zu bekommen, nannten ihn viele Israelis einen Verräter. Als Gorbatschow den kommunistischen Block aufgelöst hat, haben ihn viele Kommunisten als Verräter bezeichnet. Der Klub dieser Verräter ist ein sehr ehrenwerter Klub.
Kinet: Auch Sie selbst wurden immer wieder als Verräter bezeichnet...
Oz: Oft! Und ich nehme das als Ehrennadel an. Ich bin bereit, sie mir an den Kragen zu heften.
Kinet: Trauen Sie Benjamin Netanjahu zu, ein Verräter in ihrem Sinne zu werden?
Oz: Ich weiß nicht, denn Menschen sind nicht verschlossen, sie sind offen. Sie sind dazu in der Lage, zu überraschen. Was Benjamin Netanjahu in einem Monat oder einem Jahr tun wird, weiß nicht nur ich nicht, sondern auch er selbst nicht. Die Antwort lautet also: Ich habe keine Ahnung. Aber an dem Tag, an dem Benjamin Netanjahu ein Verräter genannt werden wird, werde ich wissen, dass sich etwas bewegt.
"Jetzt brauchen wir zwei Staaten"
Kinet: Sie waren einer der ersten in Israel, die zwei Staaten für zwei Völker gefordert haben. Wie es scheint, ist das Thema in den vergangenen Jahren nicht mehr auf der Tagesordnung der israelischen Regierung. Glauben Sie dennoch immer noch an diese Möglichkeit?
Oz: Ich glaube, dass es keine andere Möglichkeit gibt. Israel ist sehr klein, kleiner als Sizilien und kleiner als Dänemark. Aber die israelischen Juden haben kein anderes Land. Und die arabischen Palästinenser haben auch kein anderes Land. Beide Völker können sich nicht vereinen, man kann sie nicht nach Jahrzehnten des Blutvergießens, der Gewalt, des Hasses, des Terrors und der Besatzung in ein Bett stecken und ihnen sagen "jetzt beginnen eure Flitterwochen". Das ist unmöglich. Man muss sich nur vorstellen, dass 1945 jemand zu Polen und Deutschen gesagt hätte, sie sollten jetzt einen gemeinsamen Staat bilden. Das geht nicht. Vielleicht kann sich im Lauf der Jahre eine Föderation entwickeln, ein gemeinsamer Markt, eine gemeinsame Wirtschaft. Aber das müsste ein evolutionärer Prozess sein. Jetzt brauchen wir zwei Staaten.
Kinet: Sie haben immer gesagt, Israel müsse Gebiete zurückgeben, um Frieden zu bekommen. Im August 2005 hat die Israelische Armee die Siedlungen im Gazastreifen geräumt. Seitdem sind über 14.000 Raketen auf das israelische Staatsgebiet niedergegangen. Haben Sie sich geirrt?
Oz: Zu meinem Bedauern hat die Armee die Siedlungen in Gaza ohne ein Abkommen geräumt. Anstatt das im Rahmen eines Abkommens mit Mahmud Abbas zu tun, hat die israelische Armee einfach die Siedlungen geräumt und das Gebiet der Hamas überlassen. Das war eine Katastrophe für Israel und für Gaza. Selbstverständlich war es notwendig, die Siedlungen zu räumen, aber das hätte nur im Rahmen eines Abkommens geschehen dürfen.
Kinet: Es gibt einen Satz, den man in Israel wieder und wieder hört, nämlich, dass es auf palästinensischer Seite kein Gegenüber gibt, mit dem man reden könne.
Oz: Das ist ein klassischer Satz. Wenn man nicht reden möchte, gibt es niemanden, mit dem man reden kann. Aber seit mehr als zwölf Jahren liegt eine Friedensinitiative der Arabischen Liga auf dem Tisch, derzufolge die Grenzen von 1967 wiederhergestellt werden sollen und eine gemeinsame Lösung für das Problem der palästinensischen Flüchtlinge gefunden werden soll und dass im Gegenzug die gesamte arabische Welt mit Israel Frieden schließt und seine Existenz anerkennt. Man muss die Vorschläge dieser Initiative nicht so umsetzen, wie sie dastehen, man kann über sie verhandeln, aber man kann nicht behaupten, es gebe niemanden, mit dem man reden könne, wenn ein solcher Vorschlag auf dem Tisch liegt.
Kinet: Vor unser aller Augen löst sich zurzeit in Syrien und dem Irak die Staatlichkeit auf, der sogenannte Islamische Staat terrorisiert dort Kinder, Frauen und Männer mit wirkungsvoll inszenierter roher Gewalt. Die Schauplätze dieses Wahnsinns liegen nicht weit von Israel entfernt. Wie nehmen Sie diese Entwicklungen wahr?
Oz: Ich beobachte eine dramatische Zunahme des fanatischen Islam in allen möglichen Formen. Auch im Iran trägt der Islam fanatische Züge und in Pakistan gibt es Elemente eines fanatischen Islam. Natürlich auch im Irak, in Syrien, in Gaza und in Hebron. Aber nicht nur in der muslimischen Welt nimmt der Fanatismus zu. Auch in der christlichen Welt, zum Beispiel in den USA, in Russland oder Ungarn. Es gibt auch ein Erstarken des Fanatismus in der jüdischen Welt, bei uns in Israel. Im 21. Jahrhundert geht es nicht um die Auseinandersetzung zwischen Ost und West, sondern zwischen Fanatikern und der übrigen Menschheit.
"Die israelische Regierung hat viele Dinge gemacht, die einen aufregen"
Kinet: Was empfinden Sie, wenn Sie sehen, dass tausende junger Israelis hier keine Lebensperspektive sehen, sich von der Regierung in Jerusalem im Stich gelassen fühlen und Israel verlassen, um in Berlin zu leben?
Oz: Ich möchte dazu drei Dinge sagen: Erstens werde ich niemals irgendjemandem vorschreiben, wie und wo er zu leben hat. Ich habe dazu kein Recht. Zweitens ist es ein ganz normales Phänomen im 21. Jahrhundert, dass Millionen von Menschen ihre Länder verlassen, um irgendwo anders zu leben. Das passiert überall. Und drittens würde ich persönlich das nicht tun, denn ich halte eine Eintrittskarte in der Hand, mit der ich an einem der interessantesten Dramen der gesamten Geschichte teilnehmen kann. Ich wäre nicht dazu bereit, auf mein Recht auf Mitwirkung an diesem Drama zu verzichten. Ich wäre auch auf keinen Fall bereit, auf das zu verzichten, was Israel mit all den Schwierigkeiten, die es hier gibt, mir anzubieten hat. Wenn es mein Schicksal sein sollte, mitten auf der Straße zu stürzen, dann möchte ich lieber in einer israelischen Straße hinfallen und nicht in New York, Paris oder Berlin, sondern hier in Israel. Hier ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass Menschen mir aufhelfen und sich um mich kümmern.
Kinet: In Deutschland hat die Kritik an Israel vor allem seit dem Gaza-Krieg vom Sommer sehr zugenommen und für viele Deutsche ist es inzwischen nicht mehr selbstverständlich, das Verhältnis zu Israel als ein besonderes zu definieren. Selten ist von Israel in einem positiven Kontext die Rede.
Oz: Ja. Es ist schade, dass sehr viele Menschen in Deutschland und Europa, die Hollywood und Western-Filme eigentlich nicht mögen, doch denken, dass sich die Dinge mit den Kategorien "good guys - bad guys" erschöpfend analysieren lassen. Sie möchten eine Petition zum Wohle der Guten unterschreiben, gegen die Bösen demonstrieren und dann mit einem guten Gefühl schlafen gehen. Das, was zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern geschieht, ist aber kein Western. Es ist eine Tragödie. Ich habe oft gesagt, hier prallt Recht auf Recht, in der letzten Zeit Unrecht auf Unrecht. Ich bedauere es, dass Menschen ein kompliziertes, tragisches Problem auf ein Plakat oder einen Slogan bei einer Demonstration reduzieren. Aber ich kann anderen Leuten nicht sagen, was sie denken oder fühlen sollen. Natürlich hat die israelische Regierung in den vergangenen Jahren viele Dinge getan, die einen aufregen, auch in meinen Augen. Aber der Unterschied ist, dass ich mich sehr über die israelische Regierung aufregen kann, ohne zum Beispiel die Hamas zu lieben.
"Die hebräische Sprache ist mein einziges Zuhause"
Kinet: Lassen Sie uns über die hebräische Sprache sprechen. Das Hebräische hat sich in den vergangenen Jahren in ungeheurem Tempo verändert. Es gibt eine Fülle von Wortneuschöpfungen und Worten, die mit neuen Bedeutungen aufgeladen wurden. Fühlen Sie sich in dem Hebräisch von heute noch zuhause?
Oz: Selbstverständlich fühle ich mich darin Zuhause. Die hebräische Sprache ist mein einziges Zuhause. Ich bin kein Chauvinist dieses Landes, sondern ein Chauvinist der Sprache dieses Landes. Ich liebe das Hebräische sehr, ich liebe zwar nicht alles, was mit dieser Sprache geschieht, aber so ist das ja mit jeder Liebe. Ich fühle mich nicht nur Zuhause im heutigen Hebräisch, sondern ich bin auch hingerissen von den Veränderungen, die sich im Hebräischen vollziehen. Das Hebräische hat sich im Laufe meines Lebens, und ich bin heute 75, in einer Weise verändert, in der europäische Sprachen sich im Laufe von 300 oder 400 Jahren verändert haben. Und es ist sehr interessant, in einer solchen Phase zu leben und zu schreiben. Derlei schnelle Veränderungsprozesse haben sich zum Beispiel im elisabethanischen Englisch zu Lebzeiten von Shakespeare vollzogen. Ich sage nicht, dass jeder Dichter in Tel Aviv, der auf Hebräisch schreibt, ein Shakespeare ist. Es gibt vielleicht fünf oder sechs davon, nicht mehr. Aber die Dynamik der Sprache ist mit dem Ausbruch eines Vulkans zu vergleichen. Das ist unglaublich interessant. Das heißt nicht, dass ich jede Veränderung gut finde. Aber es ist sehr interessant.
Kinet: Während der Vorbereitung auf dieses Gesprächs stieß ich auf das Gedicht "Sachqi Sachqi" des hebräischen Dichters Shaul Tschernichowski, das er 1894 in Odessa geschrieben hat. Als ich dieses Gedicht las, erkannte ich Ihren Geist und Ihre Haltung gegenüber den Menschen und dem Leben wieder.
Oz: Das Gedicht "Sachqi Sachqi" ist tatsächlich eines der Gedichte, das mir am nächsten ist auf der Welt. Sowohl das Gedicht, als auch die Melodie, die dazu komponiert wurde.
Kinet: Könnten Sie es vortragen?
Oz: Sachqi Sachqi al ha chalomot ...
Übersetzung:
Lach nur, ja, lach nur über die Träume,
die ich träumend erzähle.
Lach nur, denn ich glaube an den Menschen,
immer noch glaube ich an dich.
Übersetzung:
Lach nur, ja, lach nur über die Träume,
die ich träumend erzähle.
Lach nur, denn ich glaube an den Menschen,
immer noch glaube ich an dich.
Immer noch strebt meine Seele nach Freiheit,
ich habe sie noch nicht an das goldene Kalb verkauft.
Immer noch glaube ich an den Menschen,
an seinen Geist, seinen starken Verstand.
ich habe sie noch nicht an das goldene Kalb verkauft.
Immer noch glaube ich an den Menschen,
an seinen Geist, seinen starken Verstand.
Vor etwa drei Wochen hat die Israelische Nationalbank einen neuen 50-Shekel-Schein herausgegeben mit dem Bild von Tschernichowski. Auf diesem Geldschein stehen zwei Zeilen eben dieses Gedichts: "Immer noch glaube ich an den Menschen, an seinen Geist, seinen starken Verstand".
Jetzt steht das auf unseren Geldscheinen, dabei war Tschernichowski ein sehr armer Mann. Manchmal hatte er nicht einmal etwas zu essen. Aber etwas ist noch wichtiger: Dass jeder, der jetzt einen 50-Shekel-Schein in der Hand hält, diese Zeilen lesen kann: "Immer noch glaube ich an den Menschen, an seinen Geist, seinen starken Verstand."
Jetzt steht das auf unseren Geldscheinen, dabei war Tschernichowski ein sehr armer Mann. Manchmal hatte er nicht einmal etwas zu essen. Aber etwas ist noch wichtiger: Dass jeder, der jetzt einen 50-Shekel-Schein in der Hand hält, diese Zeilen lesen kann: "Immer noch glaube ich an den Menschen, an seinen Geist, seinen starken Verstand."
Kinet: Amos Oz, vielen Dank für dieses Gespräch.
Oz: Vielen Dank auch Ihnen, Ruth, Danke.