Scheck: In Ihrem Roman "Judas" zeichnen Sie Judas Ischariaroth als den Gründer der christlichen Religion. Das müssen Sie erläutern.
Oz: Ich habe das Neue Testament zum ersten Mal als 16-Jähriger gelesen, denn in jüdischen Schulen zählt das nicht zum Stoff. Jesus war mir sofort sympathisch, aber die Geschichte mit Judas ergab für mich einfach keinen Sinn. Der berühmteste Verrat der Geschichte …
Scheck: Was ließ Sie zweifeln?
Oz: Die dreißig Silberlinge. Warum sollte jemand Judas auch nur einen Pfennig dafür bezahlen, dass er Judas durch einen Kuss identifiziert, wo doch ganz Jerusalem Jesus sehr genau kannte? Und Jesus hat nie so getan, als wäre er Berlusconi. Er hat nie abgestritten, Jesus zu sein. Warum sollte jemand Judas dafür bezahlen, Jesus zu verraten? Warum sollte Judas, ein verhältnismäßig wohlhabender Mensch, seinen Gott und Herrn für 30 Silberlinge verraten, was nach heutiger Kaufkraft ungefähr 600 Euro entspricht? Und sich danach am gleichen Tag aufhängen? Für mich ergab das keinen Sinn.
Scheck: Ihr Roman lässt sich also als Versuch einer Korrektur lesen, so dass Judas eine stimmige psychologische Motivation für sein Handeln erhält?
Oz: Meine Geschichte ist kein Manifest. Der Protagonist Schmuel Asch schlägt einfach eine bessere Version der Judas-Geschichte vor. Ich jedenfalls glaube, dass seine Version besser ist. Er behauptet, dass Judas mehr an Jesus geglaubt hat als Jesus an sich selbst. Judas war der erste Christ der Welt - und vielleicht auch der letzte Christ der Welt. Vielleicht der einzige Christ der Welt. Judas wollte, dass Jesus lebendig vom Kreuz herabsteigt, und zwar zur besten Sendezeit des Fernsehens in Jerusalem, wenn die ganze Welt dabei zusehen kann. Das sollte der Beginn des himmlischen Königreichs auf Erden sein, die Erlösung der Welt. Aber das hat nicht geklappt. Judas wird zu spät klar, das Jesus ein wunderbarer Mensch war, aber eben nur ein Mensch, kein Gott.
Scheck: Judas hat sich also aufgehängt, weil ihm sein Glauben abhandengekommen ist?
Oz: Genau.
Scheck: Hat auch Amos Oz seinen Glauben verloren an manches, an das er als junger Mensch geglaubt hat, als er so alt wie Ihr Held Schmuel war, also um die 25?
Oz: Wir alle verlieren den Glauben an einige der Dinge, an die wir in unserer Jugendzeit geglaubt haben. Es wäre aber ein schwerer Fehler, "Judas" oder irgendeinen anderen meiner Romane als Manifest über den Zionismus, das Christentum, den Antisemitismus oder den Marxismus-Leninismus zu lesen. Mein Roman ist kein Manifest, er ist eher eine Art Kammermusik für vier Musikinstrumente. Und der Komponist steht mit derselben Leidenschaft hinter jedem der Instrumente. Die Geige, das Cello, die Bratsche - jedes der Instrumente bin ich.
Scheck: Die Instrumente sind quasi die vier Protagonisten Ihres Romans. "Judas" erzählt darüber hinaus eine Liebesgeschichte zwischen einem Studenten Mitte zwanzig und einer Frau um die vierzig, und es ist ein Dialog zwischen einem jungen Mann und einem recht alten, gebildeten Mann namens Gerschom Wald. War das Ihre Art, einige ungeklärte Fragen mit der Generation Ihres Vaters zu erörtern?
Oz: Alle meine Romane drehen sich um solche ungeklärten Fragen. Jeder Roman dreht sich darum. Ob Dostojewski, Thomas Mann oder Garcia Marquez: immer geht es um ungeklärte Fragen. Aber diese Geschichte verfügt über einen besonderen Twist. Es geht um drei Figuren, die sehr unterschiedlich sind. Einen 70 Jahre alten zynischen und überaus nüchternen Mann, anti-religiös und anti-ideologisch. Eine 45- jährige zornige bittere Frau. Und um einen jungen 25-jährigen Idealisten. Diese Figuren sind grundverschieden. Am Ende des Romans sind sie wundersamerweise an dem Punkt angelangt, wo sie fast so etwas wie Liebe füreinander empfinden. Das ist für mich der Kern des Romans. Und lassen Sie mich Ihnen ein Geheimnis verraten: Ich weiß selbst nicht, wie genau das in meinem Roman passiert. Und ich habe das Buch mehrfach gelesen - ich musste es selbst lesen, und weiß immer noch nicht genau, an welchem Punkt diese völligen Fremden, ja Antagonisten sich zu mögen beginnen, wie Schmuels brennendes sexuelles Verlangen nach Atalja sich in eine sehr zarte Liebe, in Zärtlichkeit und Empathie verwandelt. Es passiert im Verlauf des Buchs, aber ich weiß nicht wo. Noch so ein Wunder.
Scheck: Das Wunder hat in meinen Augen mit der Gesprächstherapie zu tun, die sie sich wechselseitig angedeihen lassen …
Oz: Sie reden einen ganzen Winter lang. Aber sie sind nicht allein in ihrem Haus. In diesem Haus halten sich auch eine ganze Reihe von Geistern auf. Ich meine damit nicht Gespenster in weißen Bettlaken die nachts komische Geräusche produzieren. Ich meine Geister, die sich an der Unterhaltung beteiligen. Ataljas Vater Abrabanel war ein prominenter Zionistenführer in den 40er-Jahren, der als Verräter ausgestoßen wurde, weil er die Idee eines jüdischen Staates ablehnte. Ihm war die Idee des Nationalstaates generell zuwider.
Scheck: Er stand in Opposition zu David ben Gurion.
Oz: Zu Ben Gurion und dem konventionellen Zionismus. Es gibt darüber hinaus den Geist des toten Micha, Gershom Walds Sohn, Ataljas Ehemann, der zehn Jahre vor der Handlungszeit des Romans auf schreckliche Weise im israelischen Unabhängigkeitskrieg umgekommen ist. Und dann sind da noch die Geister von Jesus und von Judas. Ebenfalls anwesen ist auch der Geist von David Ben Gurion, obwohl der damals noch am Leben und Premierminister von Israel war, aber auch sein Geist ist in dem Haus.
Scheck: Der Roman spielt zwischen 1959 und 1960. Wie hat Amos Oz eigentlich David ben Gurion erlebt?
Oz: Überaus zwiespältig. Als junger Mann habe ich mich zornig gegen seine autoritäre Art aufgelehnt, gegen seine Faszination von den Attributen des Nationalstaats, auch gegen seine Faszination von der Armee und dem Militär. Mein erstes politisches Engagement richtete sich gegen ben Gurion. Mit den Jahren bin ich dann ein großer Bewunderer von ihm als einem der größten Politiker und Staatsmänner aller Zeiten geworden. Ich habe immer noch Vorbehalte, habe mein Ansicht über ben Gurion aber von Grund auf verändert.
Scheck: Ihr Roman ist auch eine Reflexion der Umstände, unter denen Israel 1948 zum Staat wurde. Diese Staatswerdung ist mit einem gewissen Makel behaftet. Wie sieht das der Schriftsteller Amos Oz heute?
Oz: Wie das der Schriftsteller sieht, ist fast irrelevant. Sie können das in meinen 500 Essays und Artikel nachlesen und meinen zwei Millionen Interviews. Ich schreibe keinen Roman um zu sagen: Stimmt für ben Gurion! Oder: Stimmt für Judas! Oder: Stimmt für Gerschom Wald! Das mache ich nicht. Ich schreibe einen Roman, um jeden meiner miteinander in Widerstreit liegenden Protagonisten mit ausreichend Empathie und Unterstützung auszustatten.
Scheck: Sie wollen ihnen gewissermaßen poetische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen …
Oz: Genau. So dass auf der einen Seite Abrabanel und seine Tochter Atalja stehen, die die Schaffung eines jüdischen Staates als Katastrophe betrachten. Aber es gibt auf der anderen auch Gerschom Wald und schließlich auch Schmuel, die glauben, dass es verrückt ist zu erwarten, dass die Juden nach den Pogromen, den Verfolgungen und dem Holocaust der Nazis als einziges Volk auf der Welt ohne Gitter vor ihren Fenstern und Schlösser an ihren Türen leben sollen. Warum sollten sie? Sie haben einen hohen Preis dafür bezahlt, der Welt vorzuführen, wie es ist, als Volk keine Heimat zu haben. Das soll sich nie mehr wiederholen. Beide Argumentationslinien werden im Roman höchst überzeugend dargestellt. Sie widersprechen sich, aber ich hoffe, sie wirken überaus überzeugend.
Scheck: Atalja hat während des Unabhängigkeitskriegs ihren Mann verloren und klagt an einer Stelle im Roman: "Ihr wolltet einen Staat, die Unabhängigkeit, eine Fahne, eine Währung, Marschmusik und Uniformen. Ihr habt Ströme von Blut vergossen, eine ganze Generation geopfert, hunderttausende Araber aus ihren Häusern vertrieben." Sie hat sehr gute Argumente. Aber wie Sie sagen: als Romancier darf man niemals Partei ergreifen …
Oz: Keinesfalls. Und Schmuel Asch erwidert ihr im späteren Verlauf, sie möge doch die Alternative für das jüdische Volk bedenken. Ich glaube, seine Antwort ist mindestens so zwingend wie ihre Klage.
Scheck: Schmuel erklärt später auch, die Gespräche mit dem alten Mann hätten in ihm vor allem eines bewirkt: seine Fähigkeit zu zweifeln angestachelt. Und dass dieses Zweifeln ihn davor bewahrt habe, ein echter Revolutionär zu werden.
Oz: Gott sei Dank. Am Anfang des Romans war er ein Ausrufezeichen auf zwei Beinen. Er verlässt den Roman als Fragezeichen. Und der Roman endet mit dem Satz: "Und er fragte sich." Diese Verwandlung eines jungen Mannes von einem Ausrufezeichen in ein Fragezeichen ist also etwas Positives. Judas ist in vielerlei Hinsicht ein Bildungsroman, wie der deutsche Ausdruck so schön lautet.
Scheck: Ist denn das die Funktion von Literatur - Ausrufezeichen in Fragezeichen zu verwandeln?
Oz: Mir behagen solche Ausdrücke wie "die Funktion der Literatur" nicht - das ist mir eine Nummer zu groß. Dieser Roman handelt von einem spezifischen jungen Mann, der sich von einem Ausrufezeichen in ein Fragezeichen verwandelt. Seine geliebte Atalja ändert sich nicht - sie bleibt ein Ausrufezeichen.
Scheck: Aber nun haben Sie Ihr ganzes Leben damit verbracht, in einem kleinen Zimmer zu sitzen und auf einer Schreibmaschine oder auf einem Computer zu schreiben - da müssen Sie doch bestimmte Vorstellungen davon haben, wozu Literatur eigentlich gut ist?
Oz: Literatur ist dazu da, den Leser sich vorstellen zu lassen, er sei jemand anderes. Am Morgen aufzuwachen und zu denken: Was wäre, wenn ich er wäre? Was wäre, wenn ich sie wäre? Was wäre, wenn ich einer der drei, nein, der vier Brüder Karamasow wäre? Darum geht’s in meinen Augen bei der Literatur. Literatur hat mit Neugier zu tun. Ich halte Neugier unter anderem für eine moralische Tugend. Neugierige Menschen sind bessere Menschen als Menschen, die nicht neugierig sind, weil sie sich fragen, wie ist es, er zu sein, wie ist es, sie zu sein. Nicht um die andere Wange hinzuhalten, nicht um der universellen Liebe wegen, an die ich nicht glaube, sondern um der Empathie willen. Ich glaube sogar, dass neugierige Menschen bessere Liebhaber sind als nicht neugierige Menschen, aber es ist noch ein bisschen zu früh am Morgen, um diesen Aspekt der Neugier weiter zu erörtern.
Scheck: Unsere Sendezeit ist so spät am Abend, dass wir das schon riskieren können. Mir gefällt Ihre Idee, dass Leser bessere Liebhaber sind - darauf können wir uns einigen. Nun haben Sie sich im Lauf Ihres Schriftstellerlebens in so viele Gestalten verwandelt, was hat Amos Oz bei diesem Vorgang über sich selbst herausgefunden?
Oz: Ich habe herausgefunden, dass ich in meinem Inneren mehr als nur eine Persönlichkeit beherbergen kann. Ich bin der Überzeugung, dass jedermann das kann, die meisten Menschen wollen es nur nicht, und das ist ein Jammer. Ich halte es für eine wunderbare Erfahrung, gelegentlich ein anderes Ich zu besitzen - eine Stunde lang oder einen Tag oder eine Woche. Diese Erfahrung wird einem zugänglich, wenn man gute Literatur liest. Und sie wird einem auch zugänglich, wenn man Literatur schreibt.
Scheck: Sie haben einen ziemlichen Wirbel ausgelöst, als sie an Ihrem 75. Geburtstag einige fundamentalistische Siedler als "Neonazis" bezeichneten. Was hat Sie zu diesem Wort greifen lassen?
Oz: Ich brauche eine Lupe, um den kleinsten Unterschied zu erkennen zwischen europäischen Neonazis, islamistischen Neonazis und jüdischen Neonazis. Den Begriff Nazis habe ich nie verwendet. Die Nazis waren etwas einzigartiges, eine andere Art Mensch. Ich glaube nicht, dass diese fanatischen gewalttätigen Siedler Nazis sind. Ich möchte überhaupt niemand mit den Nazis vergleichen. Leider sind Neonazis aber sehr weit verbreitet, und wir Israelis sind nicht immun dagegen, wir haben sie auch. Es ist ein großer Irrtum zu glauben, dass die Juden, weil sie so viel erleiden mussten, durch das Leid zu Heiligen geworden wären. Ich halte das für christliche Sentimentalität. Die Vorstellung, dass man durch Leid zum Heiligen wird. Bei manchen Menschen mag das der Fall sein, andere werden dadurch rachsüchtig, zorniger und gewalttätiger. Leid zieht bei unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Folgen nach sich. Leid zieht bei unterschiedlichen Juden unterschiedliche Folgen nach sich.
Scheck: Ihr Premierminister Herr Netanjahu hat europäische Juden nach den Terroranschlägen von Pairs dazu aufgefordert, nach Israel auszuwandern. Wie denken Sie darüber?
Oz: Ich bin nicht dazu befugt, irgendjemand auf der Welt zu sagen, wo er leben soll. Aber ich sähe es gern, wenn Israel so attraktiv und verführerisch würde, dass sich alle Menschen auf der Welt am liebsten hier niederlassen würden. Aber dies ist ein Spiel der Verführung, nicht des Zwangs, der Gewalt oder der Drohung. Es geht um Verführung.
Scheck: Warum ist die israelische Gegenwartsliteratur im Moment so stark?
Oz: Diese Frage müssen die Leser beantworten, nicht die Autoren. Ich wünschte, ich könnte sie beantworten. Die Antwort würde mich selbst sehr interessieren. Aber ich weiß sie nicht – ich war noch nie ein deutscher Leser oder ein französischer oder italienischer.
Scheck: Haben Sie beim Schreiben bewusst ein internationales Publikum im Blick oder schreiben Sie für Ihren Nachbarn oder für sich selbst?
Oz: Wenn ich schreibe, ist es ganz ähnlich wie wenn ich Sex habe: ich denke da eigentlich nicht an die Außenwelt. Ich denke an das, was ich mache. Ich denke an meine Figuren. Ich denke an die Sprache, an die Worte, Adjektive, Adverbien, an die Satzzeichen. An die Leser denke ich da gar nicht – weder an israelische oder deutsche noch an chinesische und auch nicht an meinen Nachbarn. Habe ich einen Roman abgeschlossen, dann überkommt mich Furch und Zähneklappern angesichts dessen, was die Leser dazu sagen mögen, ob sie etwas mit dem Buch anfangen können. Aber diese Überlegungen setzen erst nach Schreiben ein, nicht währenddessen.
Scheck: Während Sie die Szenen der Streitgespräche zwischen Schmuel und dem viel älteren, viel erfahreneren Gerschom Wald schrieben, haben Sie da an die Streitgespräche zwischen Ihnen und Ihrem Vater Ari Klausner gedacht?
Oz: Aber ja. Soll ich Ihnen etwas verraten? Mein Vater ist jetzt 45 Jahre tot, und wir streiten uns immer noch jeden Tag über Politik. Mir gefällt es, mit ihm zu streiten.
Scheck: Hören Sie seine Stimme?
Oz: Natürlich. Tun wir das nicht alle? Laden wir nicht alle ab und zu die Toten zu uns nach Hause ein, auf eine Tasse Kaffee, auf ein Gespräch, auch auf einen Streit mit den Toten, unsere toten Eltern, unsere toten Lehrer, unsere toten Freunde. Wir machen das alle in unseren Träumen. Wir rufen die Toten eine Zeitlang zu uns zurück und schicken sie dann wieder fort, weil wir nicht wollen, dass sie in unserem Haus wohnen. Aber komm uns doch mal besuchen, lieber Toter, schaut mal auf eine Tasse Kaffee vorbei, liebe tote Eltern, lernt meine heutige Familie kennen, die kennen euch noch nicht und freuen sich auf euch, wir plaudern ein bisschen, und dann geht ihr wieder fort und kommt gelegentlich wieder auf einen Sprung vorbei.