Wer aus alten Knochen die Erbsubstanz DNA isolieren und untersuchen will, trifft bei Fundstätten im Nahen Osten schnell auf Schwierigkeiten. Das warme Klima sorgt dort für einen schnellen Abbau der DNA. Wenn dann die Menschen, zu denen die zu untersuchenden Knochen gehörten, bei ihrem Begräbnis vor 800 Jahren auch noch verbrannt wurden, sollte eigentlich noch weniger ihrer Erbinformation zu finden sein. Aber manchmal kommt es anders als erwartet, wie der Genetiker Marc Haber von britischen Wellcome Sanger Institute berichtet.
"Wir hatten sehr geringe Erwartungen an das, was wir in dem Grab finden würden. Als wir aber die DNA-Sequenzierung begannen und die Ergebnisse sahen, waren wir sehr überrascht. Wir hatten es nicht mit einer einheitlichen Gruppe von Menschen zu tun. Die DNA-Daten zeigten Europäer, Menschen aus dem Nahen Osten und auch Menschen mit gemischtem Erbgut. Das war sehr überraschend und völlig unerwartet."
Nachkommen von Mischehen
Das Interessante an diesem Befund ist sein geschichtlicher Hintergrund: Das Massengrab bei Sidon im heutigen Libanon, in dem Knochen von 25 Menschen lagen, hatten Archäologen zuvor als ein Soldatengrab aus dem 13. Jahrhundert, den Zeiten der Kreuzzüge identifiziert. Woher kamen die damaligen Soldaten? Es gibt historische Quellen, die beschreiben, dass das Fußvolk der Kreuzfahrer nicht nur aus Europäern bestand, sondern dass auch Männer der lokalen Bevölkerung sich ihnen anschlossen. Die genetischen Analysen, die die Forscher an Schädelknochen von neun der Individuen vornahmen, zeigen zudem, dass auch zwei Nachkommen von Mischehen darunter waren. In der heutigen Bevölkerung des Libanons lässt sich der genetische Einfluss der Kreuzfahrer allerdings nicht mehr nachweisen.
"Wenn wir die heutige Bevölkerung des Libanons anschauen, so finden wir keine genetischen Spuren der Kreuzfahrer mehr. Offenbar fand die Vermischung nicht stark und lang genug statt. Die genetischen Einflüsse verblassten mit der Zeit, sie wurden in der Bevölkerung gewissermaßen immer weiter verdünnt. Wenn man Menschen aus dem Libanon der römischen Zeit vor 2000 Jahren mit heutigen Libanesen genetisch vergleicht, so sind sie sich sehr ähnlich. Da sollte meinen, es habe eine genetische Kontinuität gegeben, ganz ohne solche historischen Events wie die Kreuzzüge zwischen diesen beiden Perioden."
Entdeckung vergessener geschichtlicher Ereignisse
Für Marc Haber eröffnen solche Beobachtungen neue Perspektiven. Denn sie zeigen, dass man durch die Analyse von alter DNA auch auf völlig vergessene geschichtliche Ereignisse stoßen könnte. Solche, die ansonsten gar nicht dokumentiert sind und auch im heutigen Erbgut der Population eines Landes nicht mehr aufscheinen.
"Die Kreuzzüge selbst sind ja gut dokumentiert im Vergleich zu anderen historischen Ereignissen. Geschichtsschreiber hatten ja auch schon über die Vermischung der Kreuzfahrer mit lokaler Bevölkerung berichtet. Aber was ist mit Begebenheiten, über die wir sehr wenig wissen? Alte DNA könnte uns erzählen, was passiert ist, auch wenn man es in der DNA heutiger Menschen nicht mehr sieht. Dafür bräuchte man viel mehr DNA-Proben aus ganz unterschiedlichen historischen Zeiträumen – selbst wenn man davon ausgeht, dass in diesen Perioden nicht viel geschehen ist. Die alte DNA könnte uns überraschen und zeigen, dass es Vorkommnisse gab, die wir nicht erwartet hätten."