Zu seiner Vermenschlichung gehört es, dass neben seine Widersacher - den Teufel, das Krokodil, den Räuber, den Zauberer - auch eine eigene Familie trat, die Großmutter und die Gretel, sowie sein Freund, der Seppel. Leider wurde der Kasperl im Lauf seiner Entwicklung nicht nur menschlicher, sondern auch pädagogischer - bis er schließlich als echter Langweiler für die Hamburger Polizeipuppenbühne genauso herhalten musste wie als Verkehrskasper.
Inzwischen gelingt es einer neuen Generation von Puppenspielern, dem Kasperl wieder etwas von seiner anarchischen Kraft zurückzugeben, ja sogar den Bogen zurück zum Kasperltheater für Erwachsene zu schlagen: Im Stück "Macbeth für Anfänger" rebellieren Kasperl und Seppel gegen den Puppenspieler, der ihnen nicht zutraut, Shakespeare zu spielen. Dabei schrecken sie auch nicht vor dem Königsmord zurück: "Es ist soweit. Das war die Glocke, König, die uns lädt zu Himmel oder Hölle. Sprich dein Gebet ..."
Diese Lange Nacht können Sie nach der Sendung sieben Tage lang in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachhören.
Die Intendanten von "Doctor Döeblingers geschmackvollem Kasperltheater" haben es weit gebracht. Der Kasperl darf das erste Fass auf der "oidn Wiesn" in diesem Jahr anstechen. Der Seppl und Großmutter helfen fleißig mit.
Richard Oehmann: "Ich habe den Kasperl aus meiner Kindheit als nicht so interessant in Erinnerung. Der Kasperl war immer so ein fleißiger Helfer, der Prinzessinnen befreit, aber sonst nichts Interessantes geboten hat - von der Figur so wie der Asterix, während der Obelix der Lustige war. Man mag den Obelix, aber der Asterix ist einem wurst. So war für mich der Kasperl. Wir haben dann so langsam eine Form entwickelt, wie die beide lustig sein können, ohne dass der eine immer der Weiß-Clown ist und der andere der dumme August. Das war uns bei den alten Stücken immer zu langweilig. Wenn man bei Pocci liest, ist der Kasperl schon wieder eine lustigere Figur, mit dem kann ich mehr anfangen. Wobei die Stücke dann einfach zu alt sind, um wirklich witzig zu sein."
Josef Parzefall: "Wenn man anfängt, Kasperltheater zu spielen, muss man sich erst mal überlegen, wer sind diese Figuren überhaupt? Wir wollten die nicht übernehmen von anderen Stücken oder was man aus der Kindheit kennt, sondern haben uns die Figuren ganz neu erspielt auch durch Improvisationen, auch die Vorstellungen, die wir von vornherein immer gehabt haben: Also eben dass der Kasperl nicht der Retter der Welt ist und der Seppel entweder der brave Nachbar, der immer sagt: ‚Kasper, was machst du immer für Unsinn?’ Auch den Zauberer haben wir neu entwickelt und die Großmutter, dass sie uns auch nahe sind von Personen, die wir selber kennen oder interessant finden. Das war eigentlich das Lustigste an dem Ganzen."
Kasperl: Ja, endlich - da ist es ja! Das Stück, nach dem ich so lange geschrien habe: ein Stück über unsere Propaganda-Kasper im Dritten Reich! Zwar nicht vor Stalingrad, krawumms, aber immerhin: "Herrmann geht nach Engelland".
Seppl: Und wo bleibe ich?
Kasperl: Wenn dir das erspart geblieben ist, kannst du drei Burzelpäume schlagen vor Freude.
Im Mai 1941 soll der Puppenspieler Herrmann an der besetzten französischen Kanalküste deutsche Matrosen unterhalten. Aber Levi Blauspan, der Hauptdarsteller seines Erfolgsstückes "Der Jude im Dorn" ist verschwunden. Kasper, ein aufrechter Nazi, ist misstrauisch - zu Recht, denn Puppenspieler Herrmann hat ein Geheimnis.
Ein brauner Kasper, ein durch Folter verkrüppeltes Krokodil als Spitzel, der Puppenspieler Herrmann als Mitläufer, der versucht Levi Blauspan die Flucht nach England zu ermöglichen: Das grimmige Kasperl-Stück, das der Puppenspieler und Autor Hartmut Liebsch entwickelt hat, erinnert an ein ganz spezielles Kapitel der Nazi-Propaganda.
Hartmut Liebsch studierte an der staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst Stuttgart im Studiengang Figurentheater. Er lebt und arbeitet seit 16 Jahren als freier Puppenspieler, Schauspieler, Puppenbauer, Regisseur und Theaterveranstalter in der Alten Mühle Kochertürn bei Heilbronn.
Hartmut Liebsch: "Ende der 30er-Jahre wurde in Stuttgart das "Reichsinstitut für Puppenspiel" gegründet, das war eine Institution, die eigentlich die Arbeit der Puppenspieler professionalisieren wollte, eine Ausbildung schaffen, das Niveau heben wollte. Nur war das Reichsinstitut für Puppenspiel angeschlossen an das Amt Feierabend und Kraft durch Freude. Dieses Reichsinstitut für Puppenspiel hat dann Leitfäden herausgegeben, wie der Kasper zu spielen sei, wie der Charakter der Figuren zu sein hat. Das Reichsinstitut für Puppenspiel hat Spieltexte herausgegeben, "Der Jude im Dorn" und "Kasper fährt nach Engelland" habe ich gefunden in der Bibliothek des "Deutschen Instituts für Puppenspiel" - das sind böse Propagandastücke, die auf niederstem Niveau Juden und Engländer verunglimpfen wollen, Kampfmoral heben wollen, mies und plump gemacht. Das Reichsinstitut für Puppenspiel hat dann auch noch normierte Figurensätze vertrieben: Kasper, Gretel, Jude, Polizist, Chamberlain konnte man als Massekopf aus Pappmaché kaufen und damit Stücke aufführen. Sprich: das deutsche Kaspertheater war eine Zeit lang weitgehend gleichgeschaltet."
Der Puppenspieler, von Ehrgeiz besessen, plant eine Aufführung von Shakespeares "Macbeth". Als seine alten Kasperpuppen erfahren, dass sie nicht mitspielen dürfen, kommt es zum Aufstand: Hinter dem Rücken des Puppenspielers beginnt das Ensemble auf eigenes Risiko mit der Tragödie. Macbeth für Anfänger
"Wenn du mich fragst, ich persönlich hätte es ja lieber gehabt, du hättest deine Abgründe für dich behalten. Aber du hast es ja nicht anders gewollt. Und deshalb hat uns auch der Tristan Vogt in seinem Stück "Macbeth für Anfänger" mitspielen lassen. Aber dann hat der Theaterdirektor irgendwie Schiss bekommen - und wollte wieder nur "Kasperl und die Geburtstagstorte" spielen lassen."
Kasperl: Ich hab langsam eine Tortenphobie, das kannst du mir glauben.
Seppl: Ja, und genau deswegen hast du dann auch den Puppenspieler umgebracht.
Kasperl: Was hab ich?
Seppl: Den Puppenspieler umgebracht. Bitte, das Stück ist ja dokumentiert.
Kasperl: Meine Herren. Wie kommt man denn auf so was?
Tristan Vogt (Tristan Vogt, Puppenspieler, Schauspieler, Autor und Regisseur): "Ich bin selber als Kind mit dem Hohnsteiner Kasper aufgewachsen, das war das Größte, ein sehr harmloser, sehr liebvoller Kasper. Mit dem bin ich groß geworden, ich habe später sogar bei einer dieser letzten Bühnen, die es noch gab (die Hohnsteiner hatten mehrere Bühnen), ein Praktikum gemacht nach dem Abitur."
…
"Wir spielen mit einer Tradition, wo die Figuren harmlos sind, aber das Schöne an diesem Plot, den der Gyula Molnàr geschrieben hat, ist, dass die Figuren die Harmlosigkeit satthaben und etwas ganz anderes wollen. Damit sind wir auch total beim Shakespeare-Thema, denn in Macbeth geht es ja darum, wie unbescholtene Bürger vom Bösen erfasst werden. Macbeth war eigentlich ein gut integrierter Bürger und Freund des Königs, genauso wie der Kasper bei uns. Dadurch dass man im ersten Teil ein absurdes, verrücktes, aber liebevolles Kaspertheater spielt, lernt man die Figuren kennen, die dann im zweiten Teil, wenn sie den Macbeth spielen, gar nicht merken, dass sie spielen. Die Figuren behalten ihre Dialekte bei, das ist der Trick, dass sie ganz bei sich bleiben, auch wenn sie ihre Shakespeare-Texte sprechen. Ich habe die selber übersetzt, natürlich an der Übersetzung orientiert, aber dass die im Kasperduktus auch weitersprechen. Der Seppel spricht fünfhebige fränkische Jamben, da hat mir Fitzgerald Kusz geholfen, ein begnadeter Mundart-Dichter und -Lyriker aus Nürnberg."