Irgendetwas stimmt nicht - in der "Heidi"-Inszenierung am Schauspiel Hannover. Da steht ein Berg, meterhoch. Bis hinauf in den Schnürboden ragen die schroffen Felsen. Ganz oben liegt die Alm. In den Fenstern der kleinen Hütte leuchtet verführerisch das Licht.
"Also natürlich haben wir einen Berg auf der Bühne, das ist schon einmal Fakt", erklärt Regisseur Florian Fiedler.
Aber dieser Berg ist trotz aller Größe viel zu klein. Wie Riesen sehen die Menschen aus, die über dieses Gebirge im Maßstab eins zu vier stapfen. Wenn Heidi durch die Tür die kleine Hütte betreten will, muss sie auf allen vieren hindurchkriechen. Der Großvater lugt wie ein Dinosaurier hinter dem Gipfelkreuz hervor.
Traum von den Bergen
Der Traum von den Bergen, er ist nicht echt. Das zeigt Florian Fiedler schon in diesem ersten Bild. Heidis Sehnsucht nach einem besseren Leben ist es dagegen schon.
"Sie ist eine Anarchistin der Liebe", erklärt Fiedler. "Und sie verändert die Welt um sich herum."
Und wirklich gibt es für das Waisenkind einiges zu verändern. In einem sterilen Luxus-Loft sitzt sie im tristen Frankfurt. Keine Berge, sondern riesige, blendend weiße Wände ragen hier empor. Unter kaltem Neonlicht liegt Heidi auf einem Bett - und träumt. Von den Bergen.
Als riesige Bildprojektion erscheint die Bergwelt auf den Wänden des Penthouses. Eine Welt, in der der desinteressierte Vormund zum grummeligen Alm-Großvater wird. Aus der bösen Tante wird eine blinde, gute Großmutter. Die erscheint mit ihrem Kopftuch wie eine Frau aus einem anderen Kulturkreis. Oder ein Flüchtling. Und der besorgte Butler wird zum geliebten Freund Peter. Mit dem kann Heidi über den riesigen, idealtypischen Berg klettern.
"Grundsätzlich würde ich immer sagen, muss Theater für Kinder immer genau so gut sein wie für Erwachsene und auch mit den gleichen tollen Schauspielern",
glaubt Regisseur Florian Fiedler.
"Nicht dass hier nicht auch Verfremdungen stattfinden können, aber sie müssen eleganter sein."
Eine Geschichte - zwei Perspektiven
Alles soll zu einem audiovisuellen Erlebnis verschmelzen, das an das Kino erinnert. Und spätestens wenn Heidi schlafwandelt, gelingt das auch. Wie eine Variante eines David-Lynch-Films erscheint in solchen Momenten das Stück. Im Flimmern der Videoaufnahmen weiß niemand mehr, welche der Welten real ist. Alle Figuren auf der Bühne gibt es zweimal - in einer guten und einer bösen Version. Nur Heidi in ihrem Streben nach dem Glück ist einzigartig. Ihre Gefühle sind echt.
"Ich kann das gar nicht so theoretisch beschreiben. Sie ist sehr naiv und sehr gutgläubig und sieht sehr viel Gutes in den Menschen", sagt die Schauspielerin Sophie Krauß, die ihre Heidi mit dem unbedingten Glauben an das Gute ausgestattet hat.
Dass das Mädchen die Welt einfach in ihrer Phantasie umbaut, wenn sich die Wirklichkeit ihrem Traum nicht fügen will, ist die überraschende Interpretation dieses Abends. In einer Inszenierung, der es gelingt ein - und dieselbe Geschichte aus zwei Perspektiven zu erzählen: Aus dem Blick des unschuldigen Kindes, das bedingungslos glaubt. Und aus dem Blick der desillusionierten Erwachsenen, für die die Bergwelt nur als Kindertraum funktionieren kann.
Als zum Schluss der leuchtend rote Vorhang vor dem Bergpanorama langsam zufährt, bleiben dann auch Fragezeichen, wie lange die Weltflucht des Heidi-Mädchens halten wird. Die böse Tante lauert jedenfalls bereits hinter dem Gipfel, um die Berg-Luftblase bald wieder platzen zu lassen.