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Anatolij Sobtschak: "Die Messer in meinem Rücken" - Politik im russischen Stil

Namen, die man wieder nennt. Dass Leningrad heute wieder Sankt Petersburg heißt, ist Anatolij Sobtschak zu verdanken. Der erste direkt gewählte Bürgermeister der Metropole an der Newa wurde in Sibirien geboren, und er starb in Ostpreußen - an "Herzstillstand", wie es offiziell heißt. Der Tod in Rauschen am 19. Februar 2000 ereilte ihn, als seine politische Karriere längst beendet war. Anatolij Sobtschak gehörte zu Russlands Demokraten der ersten Stunde. Sein politischer Stern ist schnell aufgestiegen und genauso schnell wieder verlöscht. Als das Pflaster in Sankt Petersburg zu heiß wurde, floh Sobtschak nach Paris. Er begreift sich als Opfer einer Hetzkampagne. Und so gab er seinem letzten Buch denn auch den Titel "Die Messer in meinem Rücken". Dietrich Möller hat es gelesen.

Dietrich Möller |
    Namen, die man wieder nennt. Dass Leningrad heute wieder Sankt Petersburg heißt, ist Anatolij Sobtschak zu verdanken. Der erste direkt gewählte Bürgermeister der Metropole an der Newa wurde in Sibirien geboren, und er starb in Ostpreußen - an "Herzstillstand", wie es offiziell heißt. Der Tod in Rauschen am 19. Februar 2000 ereilte ihn, als seine politische Karriere längst beendet war. Anatolij Sobtschak gehörte zu Russlands Demokraten der ersten Stunde. Sein politischer Stern ist schnell aufgestiegen und genauso schnell wieder verlöscht. Als das Pflaster in Sankt Petersburg zu heiß wurde, floh Sobtschak nach Paris. Er begreift sich als Opfer einer Hetzkampagne. Und so gab er seinem letzten Buch denn auch den Titel "Die Messer in meinem Rücken". Dietrich Möller hat es gelesen.

    Beginnen wir mit einem Zitat:

    "Die Kommunisten und Pseudodemokraten, die die Macht im Lande haben, rechnen jetzt mit den wahren Demokraten ab, mit denen, die Anfang der ´90er Jahre den Kampf gegen das kommunistische Regime führten. Einige sind bereits nicht mehr am Leben (Sacharow, Starowojtowa, Adamowitsch, Men, Tichonow), andere sind gezwungen, im Exil zu leben (Korotitsch, Stankewitsch), wieder andere verzichten auf ihre politische Tätigkeit und arbeiten heute im Journalismus, in der Wissenschaft usw. Sie wollen mit dem bestehenden Regime nichts zu tun haben.. ."

    Aus dieser Gruppe - so der Autor weiter - sei nur noch Boris Jelzin übriggeblieben. Der Rückschluss bleibt dem Leser überlassen: Jelzin trage die Verantwortung für die Macht der Kommunisten und Pseudodemokraten; auf ihn und seine Herrschaft falle die Schuld, dass Russland immer noch in jenem merkwürdigen Zwischenstadium verharre, zwar keine bolschewistische Diktatur mehr zu sein, doch längst auch kein demokratischer Rechtsstaat.

    Der Autor heißt Anatolij Sobtschak, und einst gehörte er in die Reihe der von ihm aufgezählten Kämpfer gegen das kommunistische Regime - freilich erst in dessen Endzeit, ganz anders also als etwa Andrej Sacharow. Als der in Verbannung und unter strenger Polizeiaufsicht lebte - und dennoch agierte! -, war Sobtschak im damaligen Leningrad ein wohlbestallter Universitätsprofessor, wenn auch nicht Mitglied der Kommunistischen Partei. Als aktiver Demokrat trat er zu den ersten freien Wahlen im März 1989 und dann als gewählter Abgeordneter in Erscheinung; und so recht ins Bewußtsein der russischen und ausländischen Öffentlichkeit geriet er als freigewählter Bürgermeister von Leningrad, dem er mit einem Referendum vom Oktober 1991 seinen eigentlichen Namen zurückgab: St. Petersburg. Seine politische Arbeit als Abgeordneter, skizzierte er so:

    "Ich leitete das Komitee für Gesetzgebung. Auf meine Anregung hin wurde das Gesetz zur freien Ein- und Ausreise der Bürger verabschiedet, das ein großes Loch in den 'Eisernen Vorhang' gerissen und das Land aus der internationalen Isolation befreit hat. Als Vorsitzender eines parlamentarischen Ausschusses deckte ich die Verbrechen des Militärs bei der brutalen Auflösung der Demonstration in Tiflis am 9. April 1989 auf. Ich ... war Vorsitzender der Gesetzgebenden Versammlung, die 1993 binnen kürzester Zeit die neue russische Verfassung ausarbeitete. Als ... Bürgermeister von St. Petersburg habe ich mich erfolgreich eingesetzt für die Realisierung der wirtschaftlichen und politischen Reformen. Aber dadurch machte ich mir auch viele Feinde. Nachdem ich im Juni 1996 die Gouverneurswahlen in St. Petersburg verloren hatte, begann eine wilde Hetze gegen mich. In den Massenmedien wurde ich aller möglichen Sünden beschuldigt, verleumdet und verunglimpft. Man versuchte mich aus der Politik zu eliminieren, ja sogar physisch zu vernichten."

    Und davon handelt das vorliegende Buch: "Die Messer in meinem Rücken - Politik im russischen Stil". Jene Politik trieb ihn im November 1997, schwer herzkrank, ins Pariser Exil. Zwanzig Monate blieb er dort - und schrieb dieses Buch -, dann kehrte er zurück. Er mochte sich gegen Messerstiche in seinen Rücken gefeit sehen, denn sein ehemaliger Stellvertreter in St. Petersburg, Wladimir Putin, war mittlerweile zum Chef des Föderalen Sicherheitsdienstes berufen worden, zum engsten Vertrauten Präsident Jelzins. Vielleicht konnte Sobtschak auf Putin vertrauen, vielleicht war sein Tod durch Herzversagen am 19. Februar vorigen Jahres auf die früheren Auseinandersetzungen, Beschuldigungen und Ängste zurückzuführen. Vielleicht aber auch, dass die ihn Verfolgenden noch einmal aktiv geworden waren: Das Ergebnis einer Obduktion ist bis auf den heutigen Tag geheim geblieben. Es ist müßig, über den Grund zu spekulieren. Indessen bietet sich an dieser Stelle an, des Juristen Sobtschak Worte über die russischen Rechtsschutzorgane, speziell auch über die Staatsanwaltschaft, zu zitieren: Die Staatsanwaltschaft...

    "... unterliegt keinerlei Kontrolle durch den Staat, geschweige denn durch ein Gericht, d.h. die Staatsanwaltschaft hat praktisch freie Hand. Darum sind die Gefängnisse voller Menschen, die ohne jeglichen Grund oder aus einem nichtigen Anlaß verhaftet wurden. Gleichzeitig gibt es aber auch in großen Fällen, wie z.B. Auftragsmorden, Wirtschaftsverbrechen, keine nennenswerten Ergebnisse... In Anbetracht dessen, was mir widerfahren ist, denke ich, daß niemand in diesem Lande vor der Willkür der Staatsorgane geschützt ist. Zu unserem Unglück wurde keine dieser Machtstrukturen - Gericht, Staatsanwaltschaft, Innenministerium - nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes wirklich reformiert, weder in organisatorischer noch in personeller Hinsicht."

    Was Sobtschak im Vorfeld der Gouverneurswahlen - der Bürgermeister sollte fürderhin "Gouverneur" heißen - widerfuhr, ist schnell erzählt. Im Dezember 1995 warf man ihm vor, bei einer kleinen Baufirma zugunsten seiner Nichte interveniert zu haben, für eine gerade 16 Quadratmeter messende Wohnung. Eine Lappalie mithin, ob es nun geschah oder nicht (Sobtschak versichert, nichts mit jener Firma und der Wohnung zu tun gehabt zu haben). Doch in Moskau wurde auf gemeinsamen Beschluss der Chefs des Sicherheitsdienstes, des Innenministeriums und der General-Staatsanwaltschaft eine Untersuchungskommission eingesetzt, als gelte es, einen Korruptionsfall landesweiten Ausmaßes zu klären. Bis zu den Wahlen und über sie hinaus wurden die Massenmedien mit Hinweisen versorgt, die Sobtschaks Ruf ruinieren sollten. Zugleich wurde ein Konkurrent im Rennen um den Gouverneursposten massiv von Moskau aus unterstützt. Sobtschak verlor die Wahl. Wenn er in seinem Buch die Namen derjenigen nennt, die er als die entscheidenden Männer für die Kampagne gegen ihn auszumachen glaubte, so bezeichnet er damit zugleich den engsten Kreis um Jelzin. Und aus dem Präsidenten selbst war längst ein herrschsüchtiger Egozentriker geworden, der den Begriff "Demokratie" nur noch im Munde führte, statt dass er ihn auszufüllen bemüht war. Die einst klugen Ratgeber um ihn, zu denen Sobtschak sich ausdrücklich zählt, begannen ...

    "... Jelzin ... zu ärgern und zu ermüden. Er ersetzte sie durch andere Berater, die ihm keine Ratschläge erteilten, aber dem 'Zaren Boris' bedingungslos gehorchten und seine Befehle widerspruchslos befolgten."

    Und von dieser Spezies finden sich überall genügend Vertreter, ganz besonders in Russland mit seiner bürokratischen Tradition.

    "Ob unter der Herrschaft der Zaren oder unter der Tyrannei der Bolschewiken, die russische Gesellschaft war immer in Stände gegliedert, und die Beamten bildeten einen besonderen, sehr wichtigen Stand, der nach seinen eigenen Gesetzen und Regeln handelte. Unter Kommunisten hieß dieser Stand die sowjetische Parteinomenklatura. Dieser bürokratischen Beamtenelite gelang es auch jetzt, ihre Privilegien zu bewahren. Der Zusammenbruch des kommunistischen Systems hatte sie verständlicherweise in große Aufregung versetzt. Während die einen ihre Posten verloren, stellten die anderen auf Business um, aber die Mehrheit blieb im Amt. Diese Leute, die heute andere Dienstbezeichnungen haben und in anderen Arbeitszimmern sitzen, setzen jedoch immer noch Macht mit Gewalt gleich. Sie haben nur vor einem starken Mann Achtung, nur er kann bewirken, daß sie auch arbeiten. Wenn sie merken, daß die Zügel gelockert werden, verstehen sie das als Freibrief für Nichtstuerei, Willkür und Mißbrauch."

    Hier nun sind wir bei einem anderen wichtigen Teil des Buches. Ist es schon besonders aufschlussreich, was der Autor über die Methodik der Verleumdung und Verfolgung im postsowjetischen Russland berichtet, um daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, so erfahren wir nicht minder Interessantes über das Denken eines russischen Demokraten, zudem eines Mannes, der dem heutigen Präsidenten Putin nahestand und vertraute. Über Russlands Zukunft lesen wir:

    "Nur ein starker Mann an der Spitze, dem man Vertrauen schenkt, ist in der Lage, die Nation zu einer Einheit zusammenzuschweißen und die zahllosen anstehenden Probleme zu lösen. Man erinnere sich nur an schicksalsschwere Momente in der russischen Geschichte - an Jaroslaw den Weisen, Dmitrij Donskoj, Peter den Großen. Oder an den Zweiten Weltkrieg, an die Männer, die wie unumschränkte Herrscher, an der Spitze ihrer Länder standen - an de Gaulle, Churchill, Roosevelt, Stalin, deren gemeinsamer Wille und Kampf zum Sieg über den Faschismus führten."

    Der kritische Leser wird an dieser Stelle nicht umhin können, Sobtschaks Kenntnisse der Geschichte und die von ihm gewonnenen Erkenntnisse fragwürdig zu finden. Auch Sobtschak war - bei aller demokratischen Gesinnung - ein Kind seines Landes, und das war ein halbes Jahrhundert lang die Sowjetunion. Freilich, auch vor 150 Jahren hätte man dies lesen können:

    "Die Russen setzen ihre Hoffnungen stets in Gott, in einen Zaren, wenigstens aber in einen Helden. Wir sind es nicht gewohnt, selbst etwas durchzusetzen. Das Volk glaubt bis heute an Väterchen Zar oder an einen Führer, die in allen Angelegenheiten entscheiden."

    Glaubt es tatsächlich noch - heute an Putin wie weiland an Stalin und davor an Väterchen Zar? Ist das auch eine Erklärung dafür, dass das Parlament, die Duma, fast wie Wachs in den Händen des Präsidenten ist? Seit zehn Jahren gibt es keine kommunistische Diktatur mehr, und seit zwei Jahren ist der Mann Präsident, den Sobtschak förderte und schätzte. Doch ist eines der Probleme auch nur ansatzweise gelöst worden, die Sobtschak in seinem Buch als besonders dringliche auflistete? Beispielsweise:

    "Fehlende Reformen in den staatlichen Gewaltorganen... Die Dominanz der Beamten... Die zunehmende Kriminalisierung des Staates... Das imperiale Vorgehen gegenüber verschiedenen Nationalitäten... Die absurden Steuer- und Zollgesetze... Das ungelöste Problem der kostenlosen Vergabe von Grundstücken... Die unvollendeten Reformen in der Armee, in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Kultur..."

    Und so weiter, und so weiter. Ob Putin das Buch seines einstigen Vorgesetzten gelesen hat? Ob es diejenigen im Westen lasen oder lesen werden, die den Präsidenten und seine Politik rühmen? Ersteres mag sein, ohne dass Konsequenzen erkennbar geworden sind. Das andere ist zu bezweifeln. Wer immer an Russland und seinem Weg aus der kommunistischen Diktatur interessiert ist, wird Sobtschak mit einigem Gewinn lesen. Vieles scheint Geschichte zu sein, eine Geschichte indessen, die ohne Bewältigung geblieben ist; will sagen: Die Gegenwart ist wenig anders. Wer das ignoriert, erliegt einer fatalen Fehleinschätzung.