Lerke von Saalfeld: Der Roman "Vor dem Fest" – dieses Dorf gibt es nicht, obwohl es viele Dörfer mit Fürsten… und sowieso gibt, was war notwendig, was mussten Sie alles in dieses Dorf hineinpacken, um diesen fiktiven Ort zum Leben zu bringen, was war Ihnen wichtig an Ingredienzien?
Saša Stanišić: Das war die Frage, die ich mir bei den ersten Ideen gestellt hatte, was ist einem Dorf wichtig, um Dorf zu sein. Und dieses "Wir" eines Dorfes sollte beschrieben sein in einer Fülle von Elementarteilchen, die es dann letzten Endes ausmachen. Vielleicht klingt es seltsam, aber ich habe mir immer einen Körper vorgestellt, wäre das Dorf ein menschlicher Körper, eine Art von Anatomie eines Dorfes, das war das Vorhaben.
Ich hatte eine Skizze an der Wand, auf die ich jederzeit schauen konnte, die mir die einzelnen Bestandteile des Körpers, die Organe, die Glieder gezeichnet haben. Und was gehört jetzt eigentlich dazu, außer dem ganz Gegenwärtigen einer Kneipe, die es bei meinem Dorf sogar gar nicht gibt, eines Heimatmuseums, das in sehr vielen Ortschaften, in denen ich war, vorhanden ist, den Menschen natürlich, und ich dachte mir, die Vollkommenheit von einem Dorf ist eben auch die Geschichte, und nicht nur die Geschichte als gelebte Vergangenheit, sondern auch das, was man sich in der Geschichte erzählt hatte, die Überlieferungen der Gegend, die mythologischen Geschichten, aber auch das, was die Pfarrer in der alten Zeit aufgeschrieben haben.
Ich hatte eine Skizze an der Wand, auf die ich jederzeit schauen konnte, die mir die einzelnen Bestandteile des Körpers, die Organe, die Glieder gezeichnet haben. Und was gehört jetzt eigentlich dazu, außer dem ganz Gegenwärtigen einer Kneipe, die es bei meinem Dorf sogar gar nicht gibt, eines Heimatmuseums, das in sehr vielen Ortschaften, in denen ich war, vorhanden ist, den Menschen natürlich, und ich dachte mir, die Vollkommenheit von einem Dorf ist eben auch die Geschichte, und nicht nur die Geschichte als gelebte Vergangenheit, sondern auch das, was man sich in der Geschichte erzählt hatte, die Überlieferungen der Gegend, die mythologischen Geschichten, aber auch das, was die Pfarrer in der alten Zeit aufgeschrieben haben.
"Das Dorf als menschlicher Körper"
Und dann dachte ich mir weiter, damit hätte ich die Vergangenheit und das Erzählte in dieses Dorf integriert, aber auch das, worauf das Dorf fußt. Was ist unter der Erde? Deswegen gibt es bei mir auch ein Kapitel, in dem ich mich fast archäologisch diesem Dorf nähere, indem ich dort Dinge beschreibe, die bei archäologischen Grabungen gefunden werden, sodass also Schicht für Schicht für Schicht dieses Dorf wie der Körper eines Menschen entsteht, in dem die einzelnen Teile zusammenarbeiten seit vielen Jahrhunderten.
Und am Ende habe ich gedacht, jetzt fehlt ja auch noch eine Stimme. Was ist die Stimme eines Dorfes? Ich habe lange überlegt, und die Antwort ist relativ banal, das Dorf sagt "wir". Alles, was "wir" ist, ist Dorfbewusstsein, muss auch einen Charakter haben. Wer "wir" sagt, meint viele "Iche" und diese vielen "Iche" oder "Ichs" sind charakterbildend für das Dorf. Das heißt auch, auch das Wir-Sagen eines Dorfes bekommt ein charakterbildendes Merkmal. Wenn man das alles zusammenbaut, die Natur, die das Dorf umgibt, die Stimme des Dorfes, hat man diesen lebenden Körper, der seit 700 Jahren wach ist. Und ganz egal, welche Störungen in diesem Wachsein, welche Probleme, welche Seuchen, Kriege – es ist jetzt da – und es heißt, ich muss jetzt alles erzählen, von Anfang an - eine Nacht, die 600 Jahre zurückreicht.
Von Saalfeld: Sie haben aber dieses Dorf bewusst im Osten Deutschlands gewählt.
Stanišić: Gar nicht so bewusst. Es ist vielleicht überraschend, aber die Idee des Dorfes hatte keine geopolitische Zuordnung in meinen ersten Entwürfen. Es war eine Landschaft, eine flache Ebene, umgeben von zwei Seen, sollte einen Wald auch in der Nähe haben, der so ein bisschen bedrohlich auf das Dorf hinunterschaut, sollte umgeben sein von fruchtbaren Ländereien und nicht zu nah an dem nächsten Dorf sein. Ich wollte schon eine Abgeschiedenheit. Das heißt, die Uckermark kam erst dazu, als ich mir vorgestellt hatte, wie das Dorf bei mir aussehen muss.
Ich erzählte davon einer Freundin, und sie nahm mich mit in ein Dorf in der Uckermark, das ihr bekannt vorkam aus meinen Erzählungen. Und es war ein ganz interessantes Phänomen. Wir waren da, und es hatte den Anschein für mich gemacht, dass ich wirklich in mein ausgedachtes Dorf hineinlaufe. Natürlich mit ganz anderer Häuserarchitektur und den Menschen, die da dort waren, die entsprachen nicht den Ideen, die ich hatte, aber auf jeden Fall war das topografisch mein Dorf. Ich dachte, das gibt es gar nicht, jetzt kommt die Realität in die Fiktion hinein, die ich mir überlegt hatte.
Und die Uckermark ist wirklich ein zufälliges Ergebnis meiner Suche nach dem tatsächlichen Ort. Die DDR ist nur deswegen Thema, weil sie zufällig auch in der Uckermark stattgefunden hat. Das heißt, als ich einmal beschloss, das Dorf in die Uckermark zu setzen, wusste ich ganz genau, so, jetzt beschäftige dich mal mit dem, was die Menschen hier beschäftigt. Und da war es naheliegend, dass auch die DDR darin vorkommt.
Von Saalfeld: Ich habe diese Frage gestellt, weil ich gelesen habe, dass es für Sie wichtig war, dass das Dorf an einem Ort ist, der zwei Diktaturen überstanden hat.
Das Dorf als Plattform des Lebens
Stanišić: Das sind lauter Dinge, die wichtig geworden sind, die ich mir aber von vorneherein überhaupt nicht so aufgeschrieben oder so vorhatte. Alles, was ich als fruchtbares Material vorfand, das Wenigste war geplant. Das heißt, diese Diktaturengeschichte oder dieses Systemideologische von Jugoslawien und DDR ist wirklich Zufall, weil es die Menschen interessiert und weil ich Menschen dort vorgefunden habe, die darunter gelitten haben, und heute ihr Leben nicht so führen würden, wenn diese Systeme noch existieren würden.
Von Saalfeld: Das Erstaunliche ist, Sie erzählen ja nicht die Geschichte einer Person, Sie erzählen die Geschichte vieler Personen, die sich alle – aus welchen Gründen auch Immer – in diesem Dorf bündeln; wie die Malerin Kranz, die kommt aus dem Banat, andere sind dort angesiedelt, einer kommt sogar aus Düsseldorf. Dieses Dorf wird zu einer Plattform des Lebens, aber, nicht am Tag, sondern in der Nacht. Welche Rolle spielt die Nacht, was war das Faszinierende, dass Sie 80 bis 90 Prozent des Romans in der Nacht vor dem Fest spielen lässt.
Stanišić: Die Entscheidung hatte damit zu tun, dass ich das Gefühl hatte, das in einer solchen Nacht vor einem Fest in einer kleinen Dorfgemeinde die Luft flimmert und sirrt und auf eine fast magische Weise aufgeladen ist. Diese Vorbereitungstätigkeiten zu einem sehr alten Fest haben etwas Unwahrscheinliches, etwas, was die Geister der Vergangenheit anlockt, weil man sich vielleicht Gedanken macht, wie war es damals, wie haben wir damals gefeiert. Mit dem "damals" meine ich alles, ich meine die Vorwendezeit, ich meine den Zweiten Weltkrieg, ich meine auch das Mittelalter.
Und es beginnt damit, dass sich die Menschen an die Feste von früher erinnern. Mir war das wichtig, dieses Nicht-Schlaf-finden vor einem Fest. Was gibt es noch zu tun und diese Schlaflosigkeit, zu diesem leicht Flimmrigen, Delirierenden vor einer solchen Feier, in der das Dorf zusammenkommt, - diejenigen, die sich verstehen, und diejenigen, die sich nicht verstehen in einer so kleinen Gemeinschaft. Dann die Touristen, die da hinkommen – all das ist aufgeladen, das heißt, es ist wahrscheinlicher, dass dort solche Geschichten auch unterwegs sind.
Und ich dachte auch – es klingt vielleicht ein bisschen größenwahnsinnig – an Ulysses, ich wollte unbedingt die Einheit des Ortes und der Zeit haben. Ulysses kommt ja auch in einem Kapitel zitiert vor. Ich wollte tatsächlich dieses Nebeneinander aller Zeit- und Ortsachsen in einer Nacht erledigen und sie mit Kreaturen der Nacht auch belegen. Ich brauchte die Jagd des Fuchses, der eher nachts jagt; ich brauchte die Wildschweine, die da unterwegs sind; ich brauchte auch die Geister, die nachts aufwachen; es kommt ein Kapitel, in dem Kindergeister von dort Verstorbenen aufkommen, das wäre mir alles tagsüber so nicht möglich gewesen. Und es ist teilweise auch ein unheimliches Buch, wie ich finde, und auch da ist die Nacht natürlich ein alter Topos.
"Die Nacht als Topos für ein unheimliches Buch"
Von Saalfeld: Im Sinne auch von alptraumhaft.
Stanišić: Ja selbstverständlich. Es gibt auch eine Hommage an Poe, im wachen Zustand albträumen. Man könnte durchaus das Gefühl haben, dass einiges von diesem, was sich da in der Nacht unterwegs befindet - zwei aus der Sage entkommene Räuber - geträumt werden könnte. Ich mag das, zwischen den Welten mit wachen Augen träumen. Ich mag es auch, dass auch der Leser sich nie hundert Prozent sicher sein kann, wo er jetzt ist, auf welcher Seite der Wirklichkeit er sich befindet, bin ich hier schon im Unwahrscheinlichen oder befinde ich mich noch in einer sehr abstrusen Realität.
Von Saalfeld: Ich weiß nicht, ob ich mich recht entsinne, haben Sie nicht eine Examensarbeit über den Barockroman oder die Barockzeit geschrieben?
Stanišić: Die Vorliebe ist klar da, ich mag diese Texte, ich mag auch die Themen der Alten, ich mag die Sprache und die Bildwelten, die dort sich erschließen, die heute fast verschollen sind und die ich versuche nachzuahmen und neu zu bauen und zu beleben. Diese alten Texte, um die es da geht, die sind Teil des Körpers, das ist so eine Art, das, was sie uns erzählen. Diese Archetypen, die dort vorkommen, der edle Räuber, der Fuchsbegleiter, die Glocken, die aus dem See herauskommen.
Das Interessante ist, dass sie in beiden Kulturkreisen vorkommen, sowohl im Brandenburgischen, in diesen Überlieferungen aus der Gegend, wie auch im Nordbanat, der damals meine erste Idee war, wo ich das Dorf ansiedeln könnte. Es ist nicht überraschend, dass diese Archetypen existieren, aber es war für mich doch sehr schön, dass trotz der geografischen Entfernung und der unterschiedlichen Kulturkreise es doch solche Verbindungen gibt, die ins Detail eines lokalen Mythos gehen, einer modernen Dorferzählung. Und die habe ich versucht nachzuahmen. Ich habe nach solchen Motiven gesucht, die in beiden Kulturen vorkommen könnten und dann versucht, diese Sprache zu imitieren.
Von Saalfeld: Aber Sie haben auch historisches Material verwendet.
"Neuschreibung eines Dorfes"
Stanišić: Genau. Es geht mir um beides, manchmal sind es historische Erzählungen, Begebenheiten, manchmal sind es Überlieferungen. Das Verfahren ist immer dasselbe gewesen: Ich fand in den Originalquellen etwas, was mich beschäftigt hat, ein Motiv, das mich beeindruckt hat, und ergänzte es mit einer Erzählung, erweiterte es.
Von Saalfeld: Der Roman ist voller wunderbarer Beobachtungen, und es ist gelungen, eine Art Welttheater darzustellen, aber auf der Provinzebene und das ist ja nicht einfach. Das war auch ein bewusstes Ziel, zu sagen: Welttheater auf der Bühne eines Dorfes.
Stanišić: Das war nicht von Anfang an mein Vorhaben, aber wo ich gemerkt habe, dass ich gerade im Begriff bin, es beim Schreiben zu schaffen, je mehr Figuren dazukamen und je mehr dieses Dorf universell wurde und sich von dem Uckermärkischen entfernte, abgesehen von den klaren geopolitischen Zuweisungen im Sinne von Schicksalen, die man überall finden könnte in solchen Provinznestern aber auch in der Stadt, desto mehr wurde mir klar, dass ich keinen Dorfroman mehr schreibe, jemand nannte es eine Neuschreibung eines Dorfes, dass ich wirklich dabei bin, Psychologien von Menschen in einer größeren Einheit des Miteinanders zu kreieren. Und ich bin froh, wenn diese Wirkung so empfunden wird.
Ich glaube auch, dass die Provinz nach wie vor eine Sehnsucht von vielen ist. Nicht nur Sehnsucht nach Ruhe und Natur, sondern in einer Art von Ausstieg aus all dem, was vielleicht belastend ist im Leben in einer Großstadt oder auf Reisen. Mir geht es doch sehr oft so, auch gerade bei den Recherchen für das Buch, dass ich viele eigene Fragen durch die Menschen in der Uckermark beantwortet bekommen habe durch sehr eigene Weisheiten, die ich versuche, in dem Buch wiederzugeben – ein leicht fremder Blick auf die Welt und auch einen fremden Blick auf sich selbst. Denn sie waren immer, das war in sehr vielen Gesprächen so, sie fühlen sich sehr vernachlässigt, sie fühlen sich immer missverstanden, sie wollen nicht, dass über sie gesprochen wird, mit den Themen Arbeitslosigkeit, Jugendabwanderung, die Menge der Nazis, die hier rumlaufen.
Und ich empfand, je weiter wir von diesen Themen entfernt waren und rein über das redeten, was der Mensch kann, mit den Händen, mit dem Geist, desto kluger und weiser wurde dieser Landstrich. Von solchen Gesprächen und Ideen habe ich versucht, möglichst viele in mein Buch hineinzunehmen als ein Autor, der diese Dinge sammelt und einbaut.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk/Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Saša Stanišić: "Vor dem Fest"
Luchterhand, 316 Seiten, 19,99 Euro.
Luchterhand, 316 Seiten, 19,99 Euro.