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Andrea Böhm: Die Amerikaner. Reise durch ein unbekanntes Imperium

Zutiefst demokratisch - und instinktiv imperialistisch. Das ist die Formel, mit der die ehemalige taz-Korrespondentin Andrea Böhm die politische Einstellung des Durchschnitts-US-Amerikaners subsumiert. Die heute als freie Journalistin in den USA lebende Autorin hat sich für ihr neues Buch auf eine Reise kreuz und quer durch die amerikanische Provinz begeben. Entstanden ist ein Stimmungsbild, das dem Alt-Europäer die Vereinigten Staaten nicht unbedingt vertrauter und sympathischer machen wird, aber umso mehr belegt, wie eng der politische Bewegungsspielraum ist, den ein US-Präsidentschaftskandidat hat, wenn er die Mehrheit der Amerikaner hinter sich bringen will.

Von Christina Janssen | 27.09.2004
    Es gibt kein Land, das uns so begeistern und so erregen kann. Über kein anderes Land können wir uns so echauffieren und mit Schaum vor dem Mund demonstrieren. Das hat natürlich auch was mit der aktuellen politischen Situation zu tun.

    Deutschland und Europa war immer fasziniert von dem Sendungsbewusstsein, das Amerika ausstrahlte. Und die Amerikaner sind einfach überzeugt, dass in ihrem Land letztlich doch das immanent Gute steckt und dass von dem auch der Rest der Welt profitieren kann.

    Wir - und die. Europa - und Amerika. Dazwischen ein Weltmeer, das immer stürmischer zu werden scheint. Eine "beschleunigte Entfremdung" zwischen alter und neuer Welt hat die Journalistin Andrea Böhm ausgemacht. Resultat eines fundamentalen Missverständnisses: Man glaubt, sich zu kennen. Dabei ist die kulturelle Kluft größer als es ein Campingurlaub in Arizona oder ein flottes Wochenende in New York erkennen lässt. Wer das "wahre" Amerika erleben und verstehen will, muss es suchen - fernab touristischer Attraktionen.

    Gleich hinter der Grenze zwischen Virginia und West Virginia verengte sich die Landschaft, als hätte jemand die Kulissen zusammengeschoben. Die Straßen wurden beängstigend schmal, links und rechts ragten zerklüftete Felsen empor, das Grün der Wälder verwandelte sich in ein feindseliges Schwarz. Wer hier lebte, hatte sich seinen Platz ertrotzt.

    Ich bin losgefahren und hab versucht, Menschen zu finden, von denen ich meinte, ihre Biographien und die Städte, in denen sie leben, können tatsächlich was erklären über die gegenwärtigen Verhältnisse und wie es zu der momentanen Entfremdung gekommen ist. Das ist der Versuch. Ob es gelungen ist, müssen die Leute entscheiden, die das Buch lesen.



    In der Schlucht hinter der nächsten Kurve tauchten plötzlich die verrosteten Förderbänder eines Kohlebergwerks auf. Ein paar Meilen weiter quetschten sich Orte mit zwei Dutzend Häusern und drei Kirchen an ein Flussufer. Sie trugen Namen wie Van oder Bim. Es gab in dieser Gegend nichts zu verschwenden. Auch keine Vokale.

    Tausende von Meilen reist Andrea Böhm von New York aus durch die amerikanische Provinz. Auf der Suche nach Geschichten und Geschichte. Eine der ersten Etappen - West Virginia:

    Wann immer ich New Yorker Freunden auf der Landkarte meine Reiseroute gezeigt und mit dem Finger auf west Virginia getippt hatte, hatten sie mit den Augen gerollt, als hätte ich in ihrem Haus einen verwahrlosten Verwandten entdeckt. "Redneck Country" murmelte sie. Weiße Armutsecke in den Appalachen. Wohnwagenparks, billiges Bier, schlechte Zähne - und hinter jedem Hügel ein Wanderprediger.

    In Beckley, verborgen zwischen den Hügeln West Virginias, trifft die Autorin keine Wanderprediger. Aber Menschen, für die das Toughman-Turnier den ersehnten Höhepunkt des Jahres bietet. Der Wettbewerb war Anfang der 80er Jahre beliebt geworden, als die Stahlkonzerne ihre Produktion nach Asien verlagerten, als Kumpel und Autobauer durch Maschinen ersetzt wurden.

    Je weniger Jobs es für "wahre" Männer gab, desto wichtiger wurde der Boxring. Ich hatte mir über die Jahre mehrere Toughman-Turniere angesehen. Beckley konnte immer wieder eine Besonderheit bieten: Den Auftritt des boxenden Ehepaars Wendy und Keith Cline, auch "Wendy, the Warrior" und "Knock Out-Keith" genannt. Wendy war schlank und offensichtlich durchtrainiert. Bloß sah sie mit ihren großen Rehaugen, ihrem strahlenden Lächeln und ihrem lilafarbenen Trainingsanzug alles andere als kriegerisch aus. Es dauerte keine zehn Minuten, da hatte sie mich zum ersten Mal umarmt, weil einfach alles "großartig" war: die Boxhalle, Beckley und vor allem ihr Mann.

    Eine warmherzige Ironie scheint in Böhms Reportagen auf. Ihre Geschichten sind erschütternd und anrührend, brüllend komisch und skurril, ernüchternd und erhebend.

    Punkt acht Uhr war die Halle bis auf den letzten Platz gefüllt. Großmütter schoben sich mit Gehhilfen durch die Reihen, Kleinkinder kletterten auf die Schultern ihrer Väter, Schülercliquen quetschten sich in die Gänge. Mit einem Mal herrschte Totenstille. 4000 Menschen erhoben sich von ihren Sitzen. Vier junge US-Marines mit rasierten Köpfen und grimmigen Milch-Gesichtern präsentierten im Ring Gewehr und Sternenbanner. Unter der Fahne schmetterte Peanut-Holly die Nationalhymne. Holly, die "Erdnuss", war nur 1,55 Meter groß, aber unbestritten der beste Hymnensänger in der Stadt.

    Andrea Böhm lüftet den Schleier, den Hollywood und ein in Europa leidenschaftlich verachteter US-Präsident über unsere Wahrnehmung legen. Wir begegnen den Menschen, ihren Lebensumständen, ihren Schicksalen. Und so wird vieles ein wenig verständlicher: Der Einfluss des Militärs und die Rolle fundamentalistischer Fanatiker, die soziale Misere der vielen Verlierer und die kalte Süffisanz einer bornierten Oberschicht, die Diskussion über Anti-Terror-Krieg und Todesstrafe. Andrea Böhm verwebt Biographisches, Historisches und Politisches zu einer umfassenden Analyse. Midland, Texas, zum Beispiel. Die Stadt, in der George W. Bush seine Wurzeln verortet, eine Stadt der Ölbosse - wie Mr. Midland:

    Mr. Midland war ein drahtiger, quirliger Mann mit breiten Hosenträgern und dem Gesichtsausdruck eines Menschen, dem das Leben wenig Anlass zum Zweifeln gegeben hatte. Er begrüßte mich mit einem Lächeln, als wäre ich das Beste, was ihm an diesem Tag passieren konnte.

    Ein Lächeln, das ihn nie im Stich lässt. Ein Mann, der die Welt nicht in "Gut" und "Böse" einteilt, sondern in "zuverlässige" und "labile" Erdöl-Exporteure:

    Die nächste Ölkrise kommt bald, das können Sie mir glauben. Wenn Saudi-Arabien explodiert und wir den Irak noch nicht im Griff haben und Venezuela wieder verrückt spielt..." Er gab mir eine kurze Pause zum Mitschreiben. "Wir brauchen alternative Energien...." - Ich sah ihn überrascht an: Solardächer in Midland? "... Amerika muss das Saudi-Arabien der Kohle- und Atomenergie werden. Wir müssen endlich die großen Ölfelder in Alaska ausbeuten. Kein verdammter Elch stört sich an einer Pipeline.

    So wird der geneigte Leser nicht nur über den feinen Unterschied zwischen "Liebe zur Natur" und "dogmatischem Umweltschutz" aufgeklärt, sondern auch über handfeste amerikanische Interessen im Irak. Wir erfahren nicht nur, warum die Hillbillys die Ostfriesen Amerikas sind, sondern auch, warum die Gettysburg Address von Abraham Lincoln 1863 zur Meßlatte für die Moralität amerikanischer Politik wurde - an der die gegenwärtige Administration kläglich scheitert. Wir lernen den Prediger Nathan Parfait kennen, einen "born again Christian", der von sich - wie übrigens fast jeder zweite Amerikaner - behauptet, Gott persönlich erfahren zu haben und dadurch wieder geboren worden zu sein. Oder die Supermutter von Fargo, Meredith Olafson, die als Leihmutter ein Kind nach dem anderen zur Welt bringt, um das Familieneinkommen aufzubessern. Und am Ende setzen sich all diese Mosaiksteine zu einem Bild zusammen:

    Es gibt einen Gesamteindruck, mit dem ich dann wieder nach Hause gekommen bin. Und das hat auch was mit der Wahrnehmung in Europa zu tun: Wir nehmen dieses Land als die einzige Supermacht, - die militärisch stärkste Macht, die ökonomisch stärkste - wahr, die vor Kraft nicht laufen kann. Und übersehen dabei völlig, dass dieses Land nicht aus Menschen besteht, die sich selbst so wahrnehmen. Es ist eine Supermacht, die sich aber aus einer großen und ich fürchte auch wachsenden Zahl an Menschen zusammensetzt, die sich selbst als Verlierer empfinden.

    Geschichten aus dem anderen Amerika. Präzise beobachtet - brillant erzählt. Andrea Böhms Buch geht weit über die aktuelle Diskussionen hinaus. Es ist ein flammendes Plädoyer für berechtigte Abgrenzung - und die Suche nach neuer Nähe.

    Von Seiten Europas, würde ich sagen: Das erste, sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf politischer Ebene, wäre, sich bei aller berechtigter Kritik an den USA und ihrer Führung und dem, was diese Führung so anstellt, sich jede Art von moralischer Selbstgerechtigkeit abzuschminken. Man steckt seine ganze Energie in die Wut auf die USA, anstatt sich zu überlegen: Was könnten wir als womöglich zukünftiger Machtblock, was könnten wir eigentlich als alternative, strategische Politik bieten.

    Christina Janssen über Andrea Böhm: Die Amerikaner. Reise durch ein unbekanntes Imperium. Im Herder Verlag Freiburg, 208 Seiten für 19 Euro und 90 Cent.
    Soviel für heute in unserer Sendung "Politische Literatur".