Erwin Kruk über ein vergessenes Stück Europa - über seine Heimat Masuren. Kruk wurde 1941 in Gutfeld im Kreis Neidenburg geboren. Als der Wind der Veränderung Polen erfasste, engagierte sich Kruk in den Reihen der Gewerkschaft Solidarnosc. Nach der Wende 1989 zog er als parteiloser Vertreter in den Warschauer Senat ein. Doch - was immer er auch tat - stets blieb er eine Stimme Masurens.
Die Stimmen Masurens hatten es nie leicht in der Geschichte - wurden unterdrückt, zensiert, zum Schweigen gebracht. Von Deutschen und von Polen gleichermaßen. Masurische Identität war nicht gefragt, nicht erwünscht, passte nicht ins Konzept der Herrschenden. Noch 1980 lehnten es die damaligen Machthaber in Warschau ab, einen von pro-polnischen Intellektuellen gegründeten Masurischen Kulturverein zu registrieren. Erst nach der Zeitenwende in Europa kehrt Masuren langsam zurück ins Bewusstsein - als Touristenparadies und als europäische Region mit eigener Identität. Masuren - ein Land, das unter die Räder der Geschichte gekommen ist - wird endlich wiederentdeckt. Und dazu trägt auch ein junger deutscher Historiker bei, der ein bemerkenswertes Buch geschrieben hat. Mein Kollege Klaus Bednarz stellt es vor.
Es gibt Bücher, bei deren Erscheinen man sich verwundert fragt, warum sie erst jetzt geschrieben wurden. Die Antwort ist simpel und vielsagend zugleich: weil vorher die Zeit noch nicht reif war. Da musste erst ein junger Historiker kommen, der deutschen wie der polnischen Sprache mächtig, mit Zugang zu deutschen wie polnischen Archiven und Kenntnissen nicht nur der wissenschaftlichen Quellen, sondern auch der literarischen Zeugnisse, die für sein Thema von Bedeutung sind, um die erste umfassende Gesamtdarstellung der Geschichte Masurens in deutscher Sprache vorzulegen.
Es ist eine grandiose, historische Arbeit, der es endlich gelingt, den unseligen Kreislauf permanenter Legitimationsforschung zu durchbrechen, als deren Endergebnis Masuren immer urdeutsch oder urpolnisch zu sein hatte. Ob urdeutsch oder urpolnisch - das ist für den nachgeborenen Masuren Andreas Kossert, dessen Familie aus der Gegend von Nikolaiken stammt, nicht die Frage. Er sieht seine Arbeit vielmehr - und zu Recht - als postnationale Studie über eine Grenzbevölkerung, die zwischen zwei Nationalismen aufgerieben wurde und kann sich dabei auf niemand Geringeren berufen als den preußischen Historiker Max Toeppen. Dieser, nämlich, sah schon 1870 in der Geschichte Masurens geradezu ein Beispiel für, so wörtlich "den Gegensatz und die Versöhnung zwischen Deutschen und Polen". Masuren, das Land der dunklen Wälder und kristallenen Seen, wie es in unzähligen Liedern und Gedichten besungen wird, ist der südliche, heute zu Polen gehörende Teil des ehemaligen Ostpreußen - eine Region, an der nicht nur in besonderer Weise das Herz derer hängt, denen sie einst Heimat war, sondern die auch Faszination auf Touristen ausübt, die weder familiäre noch sonstige biographische Bindungen dorthin haben. Doch die Historie und Kultur dieses Landstrichs im Osten Europas ist weitgehend terra incognita, und dort, wo man sich mit ihr beschäftigte, geschah dies zumeist als Versuch politischer Vereinnahmung. Menschen und Geschichte Masurens wurden entweder germanisiert oder polonisiert. Eine eigene masurische Identität wurde weder gewünscht noch von polnischer oder deutscher Seite akzeptiert. Und genau an diesem Punkt setzt die Arbeit Andreas Kosserts an. Minutiös beschreibt er die Geschichte Masurens vom Mittelalter bis zur Gegenwart, von der heidnischen Zeit vor der Herrschaft des Deutschen Ordens bis zur Suche der heutigen jungen polnischen Generation in Masuren nach ihren historischen Wurzeln, ihrer regionalen Identität. Er versteht Masuren als Grenzregion, die, wie kaum eine andere, Bindeglied zwischen polnischer und deutscher Kultur war, deren Menschen über Jahrhunderte mehrheitlich polnisch sprachen und sich dennoch stolz als Preußen, Prussazi, empfanden. Er ruft längst vergessene historische Fakten ins Gedächtnis wie die Solidarität der Masuren mit den polnischen Freiheitsbewegungen im 19. Jahrhundert, die selbstverständliche Multikulturalität, die einen Mann, wie den masurischen Dichter Ernst Wiechert, stolz sein ließ auf seine polnischen und litauischen Wurzeln, und er erinnert auch an die Rolle der Juden in der Geschichte Masurens. Kirche, Wirtschaft, Sozialstruktur und wilhelminische Ostmarken-Politik gehören ebenso zu seinen Themen wie masurische Traditionen, Mythen und Legenden. Emotionslos schildert er die Germanisierungspolitik des Deutschen Reiches seit 1870 wie auch die abenteuerlichen piastischen Ansprüche Polens auf Masuren nach der Wiederherstellung des polnischen Staats im Jahr 1918. Im nationalistischen Geschrei, so Kosserts Erkenntnis, stand die polnische Seite der deutschen in nichts nach. Breiten Raum nimmt bei Andreas Kossert die Geschichte Masurens im Dritten Reich ein. Die rassistische Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten gegenüber Polen und Juden in Ostpreußen, die Flucht und Vertreibung der Deutschen, aber auch die Brutalität, mit der die polnischen Behörden nach dem Zweiten Weltkrieg die sogenannte "Re-Polonisierung" Masurens betrieben, wird nicht verschwiegen, der ethnische Rassismus, mit dem die verbliebenen deutschen Masuren gezwungen werden sollten, die polnische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Wer nicht für Polen optierte, so Kossert, erhielt keine staatliche Unterstützung und konnte bei Plünderungen nicht einmal auf den Schutz durch die Miliz hoffen. Mit physischem und psychischem Terror erzwang das Regime Unterschriften, aber loyale Polen hatte es aus den Masuren nicht machen können. Bedauerlich, dass Andreas Kossert an dieser Stelle nicht auch auf die verhängnisvolle Rolle eingeht, die die polnische evangelische Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg in Masuren spielte, die sich nicht selten geradezu als die Speerspitze im Kampf um die Re-Polonisierung der noch in Masuren lebenden Deutschen gerierte. Ein dunkles Kapitel, dem sich die führenden Vertreter der evangelischen Kirche in Polen bis heute weitgehend verschließen.
Hart geht Andreas Kossert mit der Rolle ins Gericht, die deutsche Vertriebenen-Funktionäre und vor allem die Landsmannschaft Ostpreußen bei der Bewahrung des historischen und kulturellen Erbes Masurens in der Bundesrepublik gespielt haben. Dadurch, dass man Ostpreußen zum ethnisch rein deutschen Gebiet erklärt hatte, sei, so Kossert, unreflektiert das ideologische Gedankengut der NS-Zeit in die landsmannschaftliche Geschichte eingezogen. In der Tat, noch 1998 in einer Festschrift zu ihrem 50jährigen Bestehen hatte die Landsmannschaft Ostpreußen festgestellt: Mehrheitlich war das Gebiet mit Deutschen besiedelt; Sprache, Sitte, Recht und Lebensart waren deutsch. - Als ob es die polnisch-sprachigen Masuren und Ermländer nicht gegeben hätte, nicht die litauisch-sprachigen Preußen, die Germanisierungspolitik des Deutschen Reiches und den NS-Terror gegen Juden und polnisch gesinnte Masuren. Wenn Andreas Kossert feststellt, dass die ethnisch polnische Bevölkerung im Süden Preußens stets die dominierende Gruppe blieb, über Jahrhunderte sprachlich und kulturell das Land geprägt hat und die entscheidenden Impulse gab für das, was wir heute unter Masuren verstehen, so wird dies vielleicht einen Sturm der Entrüstung unter den Ewiggestrigen in den Reihen der Vertriebenenverbände auslösen. Doch die historischen Fakten sprechen für Andreas Kossert und auch für seine Feststellung, dass das kulturelle Erbe Masurens nicht 1945 vernichtet wurde, sondern erst in der Bundesrepublik Deutschland, wo, so Kossert, jeder Versuch unterbunden wurde, die masurische Sprache, Volkskultur und Tradition zu bewahren.
Das alte Masuren ist in der Geschichte versunken. Das Buch von Andreas Kossert ist geeignet, es wenigstens ein Stück weit dem Vergessen zu entreißen. Ein wunderbares Buch.