Am 28. Juni 1919, als im Spiegelsaal von Versailles der Friedensvertrag unterzeichnet wurde, ließ der französische Ministerpräsident Clemenceau vorher fünf im Krieg schwer verwundete Landsleute hereinführen. Die Soldaten mit ihren durch Bomben- und Granatsplitter entstellten Gesichtern nahmen dort Platz, wo wenig später die deutsche Delegation das Abkommen unterzeichnete. Ein Foto mit den fünf versehrten Kriegsveteranen sollte später als Propagandapostkarte hunderttausendfach in Umlauf kommen.
Die kleine, von Andreas Platthaus glänzend beschriebene Episode aus dem Versailler Spiegelsaal ist ein Beleg für die psychologische Kriegsführung, wie sie noch im Augenblick des Friedensschlusses von den unterzeichnenden Mächten betrieben wurde.
Die Szene steht stellvertretend für die Hauptthese des Autors, dass die aktiven Kampfhandlungen zwar am 11. November 1918 eingestellt wurden, dass aber bis zum Vertragsschluss von Versailles immer noch Krieg geherrscht habe.
"Die Welt lebte ungeachtet der Erleichterung über das Ende des Abschlachtens an der Front weiterhin unter der Drohung, dass die Kämpfe wiederaufgenommen werden könnten. Es war der Krieg, den keiner so nennt, der diplomatisch und innenpolitisch geführt wurde."
Deutschland kommt nicht zur Ruhe
So eindrucksvoll Andreas Platthaus, der als Feuilleton-Redakteur für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung"schreibt, die Zeit zwischen Waffenstillstand und Friedensvertrag schildert, mit seiner Formulierung vom "Krieg nach dem Krieg"schießt er über das Ziel hinaus und verwischt die Unterschiede zwischen dem sinnlosen Gemetzel an der Front - wie beispielsweise in der "Hölle von Verdun"– und den Toten der unmittelbaren Nachkriegszeit.
Platthaus rechnet z.B. die Kriegstoten gegen die Opfer der Spanischen Grippe auf: Mehr Menschen hätten in den siebeneinhalb Monaten des Waffenstillstands ihr Leben durch die Pandemie verloren als von 1914 bis `18 durch Waffen in den Schützengräben.
"Die Spanische Grippe war ein Weltphänomen, aber ein Weltkriegsphänomen insofern, als die Verbreitung vor allem durch heimkehrende Truppen extrem verbreitert wurde. Beispielsweise brach die Spanische Grippe in Indien aus, als die indischen Soldaten, die auf Seiten der Briten mitgekämpft hatten, zurück in ihr Heimatland kamen. Und nirgendwo auf der Welt sind mehr Menschen gestorben an der Spanischen Grippe damals als Inder."
Genaue Zahlen liegen nicht vor, je nach Schätzung raffte die Spanische Grippe weltweit zwischen 20 und 100 Millionen Menschen dahin.
Während der Waffenstillstand den meisten Ländern eine Atempause verschaffte, kam Deutschland nicht zur Ruhe, im Gegenteil: Mit der Revolution vom November 1918 begann eine Phase blutiger Gewaltausbrüche.
"Da kam es im Januar 1919, und eigentlich auch schon in den letzten Dezemberwochen 1918, zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Berlin, und später, bis in den Mai hinein, ist das auf mehrere andere deutsche Landesteile übergegangen. Die Münchner Räterepublik ist berühmt berüchtigt, das war der blutigste Teil, der im Waffenstillstandszustand in Deutschland mit Waffen ausgetragen wurde."
Furcht vor drohender Intervention
Am Ende war die radikale Linke im Frühjahr 1919 besiegt, die Anhänger der parlamentarischen Demokratie hatten den innenpolitischen Machtkampf für sich entschieden.
Außenpolitisch aber drohte das "Diktat der Siegermächte". Die Reichsregierung erließ Aufrufe gegen den "Gewaltfrieden von Versailles", die Nationalversammlung traf sich zu einer Protestkundgebung, Ministerpräsident Philipp Scheidemann erklärte den Vertrag für unannehmbar, sein Kabinett trat schließlich zurück. Doch alle diese Schritte vermochten die Gegenseite nicht zu beeindrucken. Die neue Reichsregierung aus SPD und Zentrum unter dem Sozialdemokraten Gustav Bauer sah sich aus Furcht vor einer drohenden militärischen Intervention zur Annahme des Versailler Vertrags gezwungen und nahm damit eine schwere Hypothek auf sich.
"Dass es dann zu verheerenden Bedingungen für die Deutschen führte, dass man große territoriale Verluste in Kauf nehmen musste, dass man absehbar sehr, sehr viel Geld würde den Feinden bezahlen müssen, dass man sich im Großen und Ganzen einfach auch gedemütigt vorkam in der Art, wie erst der Waffenstillstand und dann der Frieden ausgehandelt wurde, das war mit diesem Optimismus, der während der Kriegszeit geherrscht hatte, ganz schwer zu vereinen. Daraus ist das große Dilemma entstanden, dass eine völlig deprimierte Nation in die 20er Jahre hineinstolperte."
Kein dauerhafter Frieden für Europa
Andreas Platthaus legt mit seinem Werk eine vorzügliche Darstellung über die siebeneinhalb dramatischen Monate zwischen November 1918 und Juni 1919 vor. Er präsentiert aber keinen chronologischen Abriss der Ereignisse, sondern konzentriert sich auf ausgewählte Aspekte. Sein Augenmerk gilt z.B. den politischen Attentaten jener Zeit, er schließt Ausdrucksformen der Kunst wie Otto Dix' monumentales Gemälde "Schützengraben" in seine Betrachtungen ein, wie er überhaupt seine Ausführungen mit zahlreichen instruktiven Fotos bebildert. So ist das Buch ungeachtet des ernsten Themas ein kurzweiliges Lesevergnügen.
Sein Resümee nach gut 400 Seiten: "Das von Clemenceau konstatierte Drama des Friedens hatte seine Hauptursache darin, dass der Versailler Vertrag selbst einerseits zu radikal gewesen war - die Kriegsschuldthese -, um die Kriegsgegner zu versöhnen, andererseits aber auch nicht dafür gesorgt hatte, dass das als europäisches Unglück identifizierte Reich dauerhaft kleingehalten werden konnte. Die Teilnehmer der Pariser Konferenz scheuten vor einer Konsequenz zurück, wie sie 1945 durch die Aufteilung Deutschlands vollzogen wurde."
Am Ende bleibt nur das Fazit, dass die 33 Verhandlungspartner nicht in der Lage waren, in Versailles einen Vertrag zu schließen, der Europa einen dauerhaften Frieden hätte bescheren können. Am 28. Juni 1919 war zwar formell der Kriegszustand beendet, faktisch aber herrschte, wie Andreas Platthaus es ausdrückt, jahrzehntelang weiter "Krieg nach dem Krieg".
Andreas Platthaus: "18/19. Der Krieg nach dem Krieg. Deutschland zwischen Revolution und Versailles",
Rowohlt Berlin, 448 Seiten, 26 Euro
Rowohlt Berlin, 448 Seiten, 26 Euro