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Andreas Steinhöfel
"Es ist noch kein Kind am Nebensatz gestorben"

Andreas Steinhöfel findet, dass sich ein Kind eher strecken soll als ducken, es müsse sein Gehirn "eben mal anstrengen". Er schreibe keine Gebrauchsliteratur für Kinder, die ab und zu mal ein Buch lesen sagte der Erfolgsautor im DLF. "Das klingt grausam, aber ich schreibe für lesende Kinder."

Andreas Steinhöfel im Gespräch mit Ute Wegmann |
    Der Autor Andreas Steinhöfel hält am 11.10.2013 auf der Buchmesse in Frankfurt am Main bei der Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises 2013 seine Trophäe hoch.
    "Es war eine faszinierende Erfahrung, zu sehen, dass in der eigenen Arbeit doch so viel drinsteckt, wo man mal lohnenswert drüber nachdenken kann," meint Steinhöfel. (picture-alliance / dpa / Arne Dedert)
    Mit Ute Wegmann und als Gast im Studio heute Andreas Steinhöfel. Schriftsteller, Drehbuchautor, Übersetzer, Preisträger, Dozent und spätestens seit diesem Jahr in den Herzen vieler Kinder und ihrer Eltern durch die Verfilmung seines erfolgreichen Kinderbuches Rico, Oskar und die Tieferschatten. Seit über zwanzig Jahren schreibt er Geschichten für junge Menschen, die ältere ebenso lieben. Das ist die Kunst. Es ist ein Elch entsprungen, Dirk und ich, Paul Vier und die Schröders, Die Mitte der Welt und aktuell ANDERS.
    Romane mit Tiefgang, Herz, Witz und Spannung.
    Ute Wegmann: Andreas Steinhöfel, Verfilmungen von guten Büchern sind ein schwieriges Unterfangen. Was bleibt? Was fällt unter den Tisch? Hatten Sie Einfluss auf das Drehbuch von Rico und Oskar?
    Andreas Steinhöfel: Ich hätte Einfluss haben können, ich hab das aber abgelehnt. Wenn muss man das mit ganzem Herzen machen, aber ich hatte andere Arbeit zu tun. Und dann brauchen die Leute vom Film auch keinen aufgeregten Autor, der von der Seite dazwischen schreit: Das Kind hat jetzt aber ein gelbes Hemdchen an oder so was. Was Autoren eben gern machen, Das hat sich als Glück erwiesen, ich denke, das zahlt sich aus, wenn man die Leute konzentriert ihre Arbeit machen lässt. Die haben ja auch eine Vision, von dem, was sie machen wollen und da denke ich, ist es nicht gut, wenn man dazwischen geht.
    Kein typischer Kinderfilm
    Wegmann: Was gefällt Ihnen an der Verfilmung am meisten?
    Steinhöfel: Am besten von vielen, vielen Dingen, die mir gut gefallen und die mich glücklich machen, ist, dass es ein Spielfilm geworden ist und kein typischer Kinderfilm, wo unten rechts am Bildrand ‚ne Oma steht mit lustigem Hütchen, die dann so ein Schildchen hochhebt, wo draufsteht "lachen". Es ist ein ganz ernst zunehmender Spielfilm, und die Neele Vollmer, die den gedreht hat, hat das Richtigste der Welt gemacht, was man immer bei Komödien machen sollte: Du musst das tot ernst nehmen.
    Wegmann: Sie sind vor ein paar Jahren aus der Hauptstadt zurückgezogen nach Hessen, leben dort in einer Kleinstadt. Ist das Heimat? Und was macht Heimat aus?
    Steinhöfel: Ja, das ist die Stadt, in der ich groß geworden bin, wo ich auf der Schule war und wo ich erst nach dem Abitur weggegangen bin. Ich muss sagen, in den zwanzig Jahren, die ich in Berlin gelebt habe, hatte ich immer Heimweh nach der Landschaft. Ich hatte wenig Heimweh nach den Menschen, Menschen sind Menschen, jeder mit seinen Macken, das haste in Berlin auch. Mit einer anderen Farbe vielleicht.
    Was mich wahnsinnig gemacht hat, war die Entfernung von Natur. Und die Natur hab ich jetzt und ich mach wieder das, was ich als Kind gemacht habe. Ich genieße das, jeden Tag, den ich will, rausgehen zu können. Ich hab den Wald vor der Haustür und dann kilometerweit rumzuspazieren und zu überlegen, ob der Baum da früher schon stand vor dreißig, vierzig Jahren oder nicht. Das ist schön!
    Ich kann nur an meinem Schreibtisch schreiben
    Wegmann: Welches Umfeld brauchen Sie zum Schreiben?
    Steinhöfel: Ich wag es kaum zu sagen: Ich kann nur an meinem Schreibtisch schreiben. Das ist ein total hässlicher, billiger Schreibtisch, aber es ist das Am- Schreibtisch-Sitzen. Das bedeutet, ich konnte in Berlin genauso gut schreiben, wie ich das jetzt auf dem Land kann. Das ist im Prinzip ortsungebunden, aber am Schreibtisch. Ich hab das auch schon versucht, was manche Autoren bestimmt auch können und sich so romantisch vorstellen: "Oh, ich fahr mal weg. Für drei Wochen auf ne Insel. Dann hab ich so ein kleines Hotel und nehme meinen Laptop mit." Das hab ich probiert. Das funktioniert überhaupt nicht. War weder für mich gut, noch für die Insel.
    Wegmann: An der Universität in Bielefeld hielten Sie kürzlich eine Poetik-Vorlesung. Auf einem Symposium des Arbeitskreises für Jugendliteratur sprachen Sie über Ihre Arbeitsweise. Wie schwer ist es, über das Schreiben zu sprechen?
    Steinhöfel: Es ist leichter, als ich dachte. Das Schwierigste ist eigentlich, dass man ständig ICH sagen muss. Das heißt nicht, dass ich nicht gern über mich spreche, aber das ist schon heftig, sich so in den Mittelpunkt des eigenen Denkens zu stellen auf so einer abstrakten Ebene, wo es ums Arbeiten geht. Ich hatte anfangs die Befürchtung, da käme nicht viel. Also, das ist so das: "Was soll ich schon groß über mich erzählen!" Das würden die meisten Menschen unterschreiben. Und dann hab ich es aber locker auf dreimal 90 Minuten geschafft. Und dann gehst du mit dem Gefühl da raus: Ach, das war jetzt eigentlich erst der Anfang. Jetzt könnte man ans Eingemachte gehen. Das war eine faszinierende Erfahrung, zu sehen, dass in der eigenen Arbeit doch so viel drinsteckt, wo man mal lohnenswert drüber nachdenken kann.
    Wegmann: Gibt man denn auch kleine Geheimnisse preis?
    Steinhöfel: Ja, klar, das ist als ob der Zauberer seine Geheimnisse verrät. Aber man macht das ja vor einem Publikum, das sorgsam damit umgeht. Es ist ja nicht wie in einer Talkshow, wo du die Gags raushaust und alle lachen und dann ist es vergessen.
    Bitter - hinter dem ganzen Gelächter
    Wegmann: Kommen wir zu Ihren Geschichten: Ihre realistischen Geschichten zeichnen sich aus durch ein differenziertes Personal, das uns einen Blick auf Lebensmodelle gewährt, meist gepaart mit einem guten Schuss Humor. Man kann über die Eigenarten der Figuren schmunzeln, lachen, ohne sie zu verurteilen. Scheinbar Schwache entwickeln große Stärke, weil sie authentisch sind, unverstellt, und wahrhaftig handeln. So agiert vor allem RICO. Und im neuen Roman mit dem Titel Anders auf ganz andere Weise Ihr Protagonist Felix Winter. Was interessiert Sie daran: Das Phänomen Sich nicht zu verbiegen?
    Steinhöfel: Ich glaub schon. Was mich am Kinderbuch fasziniert, und warum ich auch dauerhaft dabeibleiben werde, auch wenn ich gerade einen Ausflug in die Belletristik plane, das ist das Potential, das Kinder haben, und was jeder von uns toll findet. Das Kind hat unendlich viele Möglichkeiten und wir sehen uns da vielleicht auch noch gespiegelt. Aber es gibt ja den nicht so ganz schönen Satz von Piaget: Als erstes lernst du als Kind sprechen und gehen. Und dann wird dir als nächstes befohlen, dich hinzusetzen und zu schweigen. Das ist das, wie wir kleine Kinder eindosen, wenn sie dann vielleicht bedrohlich werden. Denn irgendwann willst du das Potenzial nicht mehr sehen, denn es macht dir auch schmerzlich bewusst, was du alles verloren hast. Und das fasziniert an Kindern, das schilder ich dann im Kinderbuch: Kinder, die sich nicht verbiegen lassen. Interessanterweise – wenn man genau hinschaut – Rico , der sich selber tiefbegabt nennt, ist ein extremes ADS-Kind, auch wenn der Begriff nicht einmal fällt, Felix, beziehungsweise Anders, hat ne Hirnverletzung. Das heißt, du kommst also als Kind in meinen Büchern in dieser Welt mit dieser unverstellten Offenheit nur noch klar, wenn du im Prinzip eine Ausrede hast, nämlich eine Erkrankung. Das ist schon bitter, hinter dem ganzen Gelächter. Deshalb bin ich dankbar für solche Exkurse an die Unis oder so, wo ich dann sehe, was ich mache und dass hinter dem ganzen Witz auch ein tiefer Ernst liegt, wenn man anfängt dahinter zu schauen. Das macht auch große Freude.
    Es ist ein schmaler Grat
    Wegmann: Und tiefer Ernst, da sind wir ganz schnell bei dem neuen Roman: Anders. Ein jugendlicher Protagonist, 12 Jahre alt, nach einem Unfall fast zehn Monate im Koma, erinnert sich an nichts. Nicht nur, dass er Eltern, Lehrer und Mitschüler neu kennen lernen muss, er entdeckt sich selber auch als jemanden, der ausgestattet ist mit einer Gabe: Er ordnet den Menschen Farben zu wie Auren und ist sensibel für Krankheit und Unglück. Außerdem sagt er immer, was er denkt. So merkt er schnell, gegen wen er sich abgrenzen muss, zum Beispiel gegen seine Eltern, vor allem gegen die Mutter. Mit der Erkenntnis, die alte Rolle des Felix Winter nicht mehr ausfüllen zu wollen, benennt er sich um in Anders. Er erfindet sich neu, um zu sich selber zu finden. Auf mühsamen, verwobenen Wegen und letztlich mit Hilfe eines Freundes, einem Alter EGO, Ben, der ihn vor dem Tod rettet. Ein Roman aus wechselnden Perspektiven personal erzählt, eingestreut Erinnerungen oder Gedanken der gerade fokussierten Figur. Ein engmaschig dicht verzweigtes Netz von Haupt- und Nebenfiguren, die alle in Bezug zu Anders stehen, sein Ich prägten oder prägen. Viele in kontrollierendem Bezug. So ist Kontrolle ein Thema des Romans.
    Steinhöfel: Ja, natürlich! Ein Paradoxon, was mich lange beschäftigt hat und den Verlag ja auch, ob man das überhaupt so bringen kann, den Blick auf die 12jährige Hauptfigur für Leser ab 14. Also man kann es ab 10 Jahre lesen, aber mit intellektuellem Gewinn ab 14 Jahre. So, und was mach ich in dem Buch: Bis auf BEN ist das alles Erwachsenenperspektive. Aber die Idee war, zu zeigen, wie gehen wir Erwachsene mit Kindern um. Da kommt ein Junge aus dem Krankenhaus, im Prinzip ist da tabula rasa, der ist wie ein leeres Gefäß, die Welt kann den neu beschreiben. Und das machen ja auch alle um ihn rum. Aber wir füllen ihn mit unseren Vorurteilen. Das heißt, wir haben eine Vorstellung davon, wie ein Zwölfjähriger sein soll und dann pumpen wir das in ihn hinein, aber das ist vielleicht nicht das, was ein Zwölfjähriger will. Das ist ein schmaler Grat, denn da gibt es ja keine empirischen Untersuchungen, behaupte ich mal, aber ich behaupte schon, das muss nicht das sein, was Papa und Mama wollen, oder die Lehrer oder das Umfeld. Wir beschneiden ja Kinder in ihren kleinen Persönlichkeiten. Und so bin ich automatisch bei der Erwachsenenperspektive gelandet, die aber von Kindern total begeistert angenommen wird. Das sehe ich nach der Lesereise. Da saßen Zehnjährige, die dachten, jetzt kommt was wie RICO, was zum Lachen, aber dann kommt nichts zum Lachen, ich dachte , die gehen mir stiften. Aber nichts dergleichen. Die lassen sich nach der Lesung das Buch signieren und strahlen dich an wie ein Christbaum, weil sie was Erwachsenes mitbekommen haben. Das hat mir und denen totalen Spaß gemacht zu sehen, da ist auch ganz viel, was die wissen wollen darüber, wie Erwachsene über sie denken.
    Wir hören einmal kurz hinein, ein Auszug aus ANDERS. Andreas Steinhöfel liest.
    LESUNG! Seite 35f
    Wegmann: Andreas Steinhöfel ist Gast im Studio. Ausführliche Informationen finden sie im Internet unter www.dradio.de/literatur
    Diese Lesung aus dem Kinderroman ANDERS, die wir gerade live hörten, kann man beim Verlag Silberfisch auf CDs erwerben. Auch dort gelesen von Andreas Steinhöfel selbst.
    Aus verschiedenen Perspektiven erzählt, mal leicht, mal tiefsinnig, mal poetisch, mal psychologisch, immer anspruchsvoll. War es schwer den Ton für den Roman zu finden?
    Steinhöfel: Ne, das war erstaunlich leicht. Ich hab ja drei RICO-Bücher gemacht, und dann hängst du in einem Ton drin, der noch dazu mir sehr nahe liegt, so ein bisschen flapsig. RICO kann ich so schreiben wie ich spreche. Beinah! ANDERS war klar, dass das viel anspruchsvoller wird. Ich hab mich dem Duktus des Romans, den ich für Erwachsene mache, der gerade pausiert, dem hab ich mich schreibend wieder angenährt. Die Sprache geht auf den Roman hin, vielleicht weil ich im Kopf schon an der Baustelle am Baggern war. Das ist dann aber auch so: Man kann eine komplexe Psychologie in einfache Worte fassen, aber es ist schöner man gleicht die Komplexität der Psyche dieses Kindes an. Und dann sind da sehr, sehr lange hypotaktische Sätze. Ich hatte sogar den Ehrgeiz, den längsten Satz zu schreiben, den es jemals im Kinderbuch gab, der geht über eine Seite. Das hab ich immer den Kinder erzählt und dazu gesagt, das andere in der vorherigen Lesung dabei in Ohnmacht gefallen sind. Und dann warten sie gespannt und sind stolz, dass sie überlebt haben. Aber das ist nicht selbstzweckhaft, da geht es dann um ein bestimmtes Ereignis, was den flussartigen Charakter dieses Satzes bekommen sollte.
    Wie sie es witzig fanden
    Ich mach mir da sehr viel Gedanken, wie viel kannst du ins Kinderbuch reinpacken an narrativer Komplexität, an dramatischer, aber mein Credo ist ja, das noch kein Kind an einem Nebensatz gestorben ist, und dass ich immer dafür bin, dass ein Kind sich eher strecken soll als ducken. Das heißt, dann muss es sein Gehirn eben mal anstrengen. Ich schreib keine Gebrauchsliteratur für Kinder, die ab und zu mal ein Buch lesen. Das klingt grausam, aber das ist so, ich schreibe für lesende Kinder. Ich schreib nicht Bücher, die Kinder zum Lesen bringen. Auch wenn das mit RICO – ironischerweise schon – fast millionenfach passiert ist. Weil sie es witzig finden.
    Wegmann: Aber mit dieser Haltung erreichen sie genau auch die Erwachsenen und das ist das Wunderbare.
    Ein weiteres wichtiges Thema aber ist Einsamkeit des Einzelnen trotz der scheinbaren Aufgehobenheit im System. Und das betrifft jüngere wie ältere Menschen. Alle Figuren scheinen wie Planeten in einem dunklen Orbit um Felix zu kreisen. Einsamkeit und echte Freundschaft, die man sich erarbeiten muss, sind durchgehende Themen Ihrer Romane. Beschäftigen Sie diese beiden Motive als soziologische Problematik oder als psychologische?
    Steinhöfel: Als psychologische. Ich denke, das hat was damit zu tun, dass ich gern mit diesen kleinen Außenseitern arbeite und da ist ja dann die Einsamkeit mit in der Einkaufstüte. Wenn du als Kind bei dir merkst, und das ist natürlich etwas Autobiografisches, ich war auch ein Kind, das sich gern zurückgezogen hat, ich hab mich hinter Büchern versteckt, dann bist du erstmal für dich allein. Der Witz ist ja, irgendwann stellst du fest, als erwachsen werdender Mensch, dass das jedem so gegangen ist. Die wenigsten würden sagen: "Ja, ich war ein sozial eingebundenes Kind und ich hab mich immer zu 100 Prozent aufgehoben gefühlt." Die meisten fühlten sich alleine, nicht so toll integriert. Das sagen nur Alphatiere, und das sind die wenigsten.
    Das ist faszinierend, dass du das mit den Büchern ansprichst, was die Leute auch sehr verletzlich gemacht hat in dieser Zeit. Und vielleicht ist es das, warum die Bücher so erfolgreich sind, weil ich zeige: Wenn du deiner Eigenartigkeit treu bleibst, dann bist du zuerst einsam, solange bist du dich selbst damit arrangiert hast. Aber ab dann kannst du mit allen Kontakt haben, die sich als ebenso einzigartig und eigenartig empfinden und dann seid ihr ein Verbund enzigartiger Menschen, was ja etwas sehr Schönes ist.
    Ein wunderschönes Gedicht
    Wegmann: An dieser Stelle sei gesagt, dass Peter Schössow zu jedem Kapitel Vignetten gemalt hat. In abgestuften Sand- Gelb-Tönen und Schwarz visualisieren die Bilder auf eindringliche Weise das Motiv der Verlorenheit und Einsamkeit, denn er zeigt eine Welt ohne Menschen, gleichzeitig bietet die Natur Ruhe und Weite und Schutz. Die Gebäude aber – Schule, Burg, Krankenhaus – sind starrer als Festungen, geschlossene Systeme, Korsetts.
    Einsamkeit und die Wichtigkeit des Miteinanders spiegelt sich vor allem in der Beziehung von Felix zu seinem früheren Mathenachhilfelehrer. Ein Gedicht von Erich Mühsam, das der Lehrer zuvor nacherzählt, gibt diese Stimmung wieder. Im Gedicht heißt es in der letzten Strophe: „Ich höre vieler Menschen Schritte tasten – verirrte Menschen, einsam, müd und arm – und keiner weiß, wie wohl ihm wäre und warm, wenn wir einander bei den Händen fassten". Hat dieses Gedicht Sie inspiriert zu der Szene zwischen Junge und Lehrer oder ist es Ihnen beim Schreiben eingefallen?
    Steinhöfel: Du weißt zum Schluss nie, wo die Henne und wo das Ei ist. Es gibt ein wiederkehrendes Motiv, das Sich-bei der Handfassen, es gibt mehrere Stellen. Dann fiel mir das Gedicht ein: „Nach all den Nächten die voll Sternen hingen", so fängt das an. Es kann aber auch sein, dass mich das Gedicht so tief bewegt, dass ich deshalb das Motiv benutzt habe. Das meine ich mit Henne und Ei. Es ist ein wunderschönes Gedicht, es ist ein sehr trauriges Gedicht, aber letztlich auch wieder ein sehr hoffnungsvolles.
    Wegmann: Wer ist Felix? Wer ist Anders? In der Zeit nach dem Unfall wirkt der Junge wie eine Art Engel: „Ihn umgibt eine eigene Aura ... er verströmt Trost, wenn dein Innerstes von etwas erschüttert ist, wenn Angst dich quält oder Unrast dich erfüllt; wo deine Welt verrückt, reicht seine bloße Anwesenheit aus, sie wieder in ein Gleichgewicht zu bringen, und wo sie zerbricht, entgratet sein Lachen die schmerzhaft scharfen Kanten ihrer Bruchstellen." (S.146f) – da klingt aus der Sicht Bens Überirdisches auf, aber dennoch ist er sehr konkret durch seine Direktheit. Und er ist unglücklich: Seine Umbenennung geht einher mit einer Art Befreiung von seinem alten Ich, aber andererseits hat er keine echten emotionalen Kontakte zu seinen Mitmenschen: „Der brauchte nichts und niemanden, der war sich auf fast unheimliche Weise selbst genug." (S.113) (BENS BLICK).
    Steinhöfel: Ja, aber er ist nur auf den ersten Blick sich selber genug. Wenn man dann mal genau hinschaut, er unternimmt unzählige Versuche, sich selber anderen zu erklären. Sein Drama ist, er ist ein Synästhetiker, das heißt er sieht eine Farbe und sieht dabei gleichzeitig auch eine Zahl. Verschiedene Sinneseindrücke münden ineinander. Das kann sehr belastend sein für Menschen. Aber er geht davon aus, jeder Mensch ist so. Und dann versucht er sich zu erklären. Wie in der Szene mit dem Krankenpfleger, wo er sagt: Du bist blau außen rum. Wenn der Krankenpfleger ein bisschen tiefer fassen würde, dann würde er merken, was mit dem Jungen los ist. Und dann hätte Felix einen Anknüpfungspunkt und könnte anfangen, das emotional einzuordnen. Zuerst rational, dann sich fragen: Was macht das mit mir. Aber soweit kommt der gar nicht. Das war für mich das Drama, und es ist gut versteckt in dem Buch, immer wieder der Versuch, sich zu erklären, aber es hört keiner wirklich hin. Und alle Erwachsenen, auch die, die es gut mit ihm meinen, die scheitern alle, weil keiner im entscheidenden Moment hinhört. Das ist, glaube ich, das Drama eines jeden Kindes. Viele von uns erinnern sich hoffentlich noch daran wie es ist, wenn du was sagst, und keiner hört dir zu.
    Seitenhieb gegen das Erziehungsbild
    Wegmann: Die Jugendlichen sind in der Natur unterwegs, an der Lahn, in den Wiesen, auf dem Blutbaum, der ein zentraler Ort ist. Wie wichtig ist die Natur, das Wasser, in das Felix als Anders steigt, einem Suizid gleich, um als Felix gerettet zu werden und zum dritten Mal dem Tod von der Schippe zu springen, für die Selbstfindung?
    Steinhöfel: Die Natur ist schon fast mythisch überhöht im Buch. Was daran liegt: Es ist auch ein Buch über Helikopter-Eltern. Und ich finde es gruselig, wie viele Kinder entfremdet von Natur groß werden, weil Natur nur noch Angst besetzt ist. Da lauern die Wildschweine, da lauern die Zecken. Kinder dürfen sich nicht mehr dreckig machen, wenn sie nicht eine Matschhose tragen, dieser ganze Schwachsinn. Und da gibt es auch viele Seitenhieb in dem Buch gegen das Erziehungsbild. Aber dadurch bekommt die Natur die Überhöhung. Außer Felix, die beiden anderen Jungs fühlen sich ja da nicht wirklich wohl in der Natur. Ben lernt erst sich wohl zu fühlen. Im Prinzip ist Ben die Figur, die eine Entwicklung durchmacht. Und da ist der Roman ja wieder Kinderbuch oder Jugendbuch. Der lernt, indem er beobachtet und indem er moralische Entscheidungen trifft. Die anderen treffen Entscheidungen, die sie vor dem Unfall schon getroffen hätten. Das ist das Drama des Erwachsenen, dass wir nicht oft genug unsere Entscheidungen in Frage stellen. Vielleicht haben wir die mühsam erkämpft, aber dennoch ich es wichtig, auch als erwachsener Mensch mit festem Weltbild, sich zu hinterfragen, sonst werden wir ganz schrecklich reglementierende Menschen, egal welcher politischer Coleur.
    Wegmann: Und Ben, sie haben ihn gerade schon erwähnt, er widersetzt sich. Er steigt in den Blutbaum, entflieht der Helikopter-Mutter: Ben, Felix Alter Ego, überschreitet Grenzen, löst sich aus der Kontrolle und wird so zum Lebensretter der Hauptfigur. Er sieht vom Blutbaum aus, in den er geklettert ist, wie Felix ins gefährliche Flusswasser steigt. Zum Schluss werden die Jungen noch einmal zusammen in der Baumkrone sitzen und da heißt es: „Sie sind nur zwei Jungen in einem Baum, und mal fällt Licht auf ihre Gesichter, mal Schatten." Ein poetisches Bild für das Leben. Aber auch das im Baum Sitzen, das Klettern, auch ein Symbol für Kindheit. Sie sind immer noch 12jährige Jungs.
    Steinhöfel: Was mich auch angetrieben hat, das Buch zu machen: Ich wollte mal was machen, es gibt tausende von Kinderbüchern, tausende von Jugendbüchern, aber der feine Grat, wo es vom Kind zum Jugendlichen kippt, deswegen gibt es auch so märchenhafte Motive und die Nixensymbolik, das macht keiner, da wollte ich hin, in die Zone, wo unser Leben sich vom alten Leben verabschiedet. Felix ist genau auf der Kippe und das findet sich in diesem Schlussbild.
    Masse mit Klasse verbinden
    Wegmann: Angefangen hat Ihre Schriftsteller-Karriere, weil Sie sich über schlecht geschriebene, langweilige Kinderbücher geärgert haben. Sie haben dem etwas Eigenes, Kreatives entgegengesetzt. Die Stimme erheben, das haben Sie immer gemacht, nie gescheut, Ihre Meinung zu sagen. Jetzt prominent, ist das noch einfacher, vor allem hören mehr Leute zu. Zuletzt war das der Fall 2013 bei der Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises, wo Sie den Sonderpreis für Ihr Lebenswerk erhielten. Ihre ehrliche, direkte, kluge, knappe Dankesrede war ein Plädoyer, gerichtet an die Verlage, Autoren, auch über Durststrecken hinweg, Zeit zur Entfaltung zu gewähren. Der Masse an Büchern wieder mehr Qualität entgegenzusetzen, die sich nur durch ausreichende Auseinandersetzung mit einem Stoff, entwickeln kann. Hinzugefügt die Bitte, nicht nach dem nächsten Potter zu schielen und immense Lizenzgebühren zu bezahlen, während deutsche Kollegen um halbe Prozente kämpfen müssen. Ein Riesenapplaus im Saal! In wieweit kann sich der anspruchsvolle Schriftsteller selber in die Pflicht nehmen, um der Masse mehr Klasse entgegenzusetzen?
    Steinhöfel: Du kannst ja auch versuchen, Masse mit Klasse zu verbinden. Das ist das, was ich gerne mache. Also ich komme als Leser aus der Unterhaltungsecke. Ich hab als Teenie 1200 Groschenheftchen gelesen und nur Horror. Auch Sachen, die auf dem Index waren. Meine Deutschlehrer waren am Durchdrehen. Irgendwann bin ich umgeschwenkt auf Heinrich Böll. Und ich denke, das geht. Du kannst intelligente Unterhaltung machen: Die Mitte der Welt, das ist immer mein Lieblingsbeispiel, der Roman, da ist die ganze Familiengeschichte ausgerichtet an mythologischen Göttergeschichten – griechische Antike, Metamorphosen von Ovid, das ist alles da drin. Du kannst dieses Buch lesen, ohne einen Funken Ahnung davon zu haben, und es ist trotzdem ein tolles Buch, das bestätigen mir dann die Leser. Es wird seit fast zwanzig Jahren gern gelesen. Aber wenn du den Bildungshintergrund hast, das Ding aufzudröseln, zu sehen: Ach, kenn ich das nicht irgendwo her, das Motiv, aus einer mythologischen Geschichte?, dann auf einmal merkst, dass die einen doppelten Boden hat, und wenn du dann die Geschichte abklopfst darauf: Was macht der denn da mit den Mythen? Dann merkst du: Das ist die Belohnung, die kommt. Und so möchte ich Kinder belohnen, die sich auf einer Schiene unterhalten lassen, und wenn sie nur das wollen, ist das völlig okay. Das muss okay sein, dass ein Kind sagt: Ich möchte nur unterhalten werden. Da nehme ich alle 5 Freunde Bücher und alles in Schutz, was ich auch geliebt habe als Kind. Aber das Kind muss auch die Möglichkeit haben, zu graben, zu merken: Da ist noch was drunter. Das ist das, was Kunst ist, was Literatur ist. Das hat einen doppelten Boden. Das ist mindestens doppeldeutig, wenn nicht drei bis vierdeutig. Und das ist auch das, was beim Schreiben Spaß macht, alles andere wäre langweilig.
    Wegmann: Andreas Steinhöfel, herzlichen Dank für das Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Bibliografie Auswahl: O Patria Mia, für Kinder ab 8 Jahre Dirk und ich, ab 7 Jahre - Es ist ein Elch entsprungen, ab 7 Jahre - Beschützer der Diebe, für Kinder ab 9 - Paul Vier und die Schröders, für Kinder ab 8 - Die Mitte der Welt, für Jugendliche und Erwachsene. - Die Kurzhosengang, für Kinder ab 9. - Rico, Oskar und die Tieferschatten, - Rico, Oskar und das Herzgebreche, - Rico, Oskar und der Diebstahlstein ab 9 Jahre - Alle Bücher erschienen im Carlsen Verlag