Mit 28 Jahren war noch nicht abzusehen, dass aus Hans Magnus Enzensberger einmal einer der namhaftesten deutschen Schriftsteller werden würde: Lyriker, Essayist, Herausgeber und Übersetzer, ein eminent politischer Autor und prominenter Vertreter der politischen Linken. Aber Hans Magnus Enzensberger war bereits ausgebildeter Ingenieur für Fernmeldetechnik und hatte beim Hörfunk als Sprecher und Redakteur gearbeitet. Zwei Jahre zuvor war er mit einer Arbeit über Brentanos Poetik promoviert worden. Jetzt hatte er beschlossen, als freier Schriftsteller zu leben. Er war mit einem Stipendium unterwegs in den Vereinigten Staaten.
"Es war spät, fast Mitternacht geworden, als ich ankam. Die tropische Bläue der Nacht, der satte, süßliche Duft der Wälder, die laue Luft vom Golf her über die schnurgerade Küstenstraße mit ihren betäubenden Namen: Pascagoula, Biloxi, Lagoon Bonfouca, Bayou la Batry, Pontchartrain – das war einschläfernd und erregend zugleich. Ich atmete auf, als zwischen grell angestrahlten Motels und Tankstellen das Neon-Transparent erschien: 'Welcome to New Orleans'."
Bilder wie Linolschnitt auf LSD
Enzensbergers erster Aufenthalt in den Vereinigten Staaten findet seinen Niederschlag in einem fiktionalen Text, der zuerst als Hörspiel mit verschiedenen Sprechstimmen und später gedruckt erscheint. Nach mehr als 60 Jahren ist er jetzt unter dem Titel "Louisiana Story" in einer bibliophilen Ausgabe erschienen – von dem Schweizer Comiczeichner Hannes Binder mit phantastischen Formen und Gestalten in Schwarzweiß illustriert. Bilder, die wirken wie Linolschnitt auf LSD. Ein schmales Buch, das verblüfft: Wenn man genau hinliest, ist der ganze Enzensberger hier schon da. Der kreative Gestus, mit dem er Zugriff nimmt auf seinen Stoff, will Souveränität vermitteln und gibt gleichzeitig den gesellschaftskritischen Ansatz zu erkennen. Keine Spur von Unsicherheit - hier schreibt ein Kenner, der uns Nordamerika erklärt:
"Der Fluß, an dessen Mündung die Stadt liegt, war zur Hauptschlagader der Kolonisation des Mittelwestens geworden. Die schön verzierten Raddampfer glitten in den Hafen und tauschten ihre Güter mit den transatlantischen Segelschiffen. Süß roch der Dollar der Konjunktur. Ein paar Dutzend Familien hatten das ganze Kapital in der Hand. Es war eine Zeit voller Bälle und Feuerwerke. Das Epikuräertum einer feudalen Clique entwickelte die einzige genuine Küche Nordamerikas, zu der das französische und das spanische Erbe Pate standen. Sie verdankt ihre Kunst der Würze der Nähe Mexikos und der Antillen, und ihren exotischen Duft dem Einfluß der Neger und der Indianer."
Eine Melange aus Karl May und Karl Marx
Enzensberger hat den Sprachgebrauch von 1957 nicht im Nachhinein geändert. Denn er ist sich ja auch heute noch mit 90 Jahren seiner Sache sicher: Er wusste damals schon Bescheid, wenn er uns die Amerikaner, ihre Gesellschaft und ihre Geschichte erzählt. Der ehrgeizige junge Stipendiat aus Deutschland, sprachbegabt und gut ausgebildet, liefert uns eine Melange aus Karl May, Karl Marx und "Vom Winde verweht":
"Die subtile Heuchelei des 19. Jahrhunderts fand eine Lösung, wie die brutale Ungleichheit von Weiß und Farbig behauptet und zugleich das Tabu der Liebesverbindung zwischen den Rassen umgangen werden konnte. Hinter geschlossenen Vorhängen veranstalteten die reichen Pflanzer Bälle besonderer Art, zu denen die Quadroon-Mädchen, sonst durch Gesetz gezwungen, das diskriminierende gefleckte Kopftuch auf der Straße zu tragen, eingeladen waren."
Aufbruch vor der Bürgerrechtsbewegung
Enzensberger zitiert mit "Quadroon" einen Begriff aus dem Arsenal des amerikanischen Rassismus. "Quadroon" bezeichnet einen Menschen, bei dem von vier Großeltern drei europäischer und ein Großelternteil afrikanischer Herkunft sind. Ganz zu Beginn stellt Enzensberger in seiner "Louisiana Story" schon eine Eigenschaft unter Beweis, die seine ganze Laufbahn als Schriftsteller auszeichnen wird: seine außergewöhnliche politische Hellsichtigkeit. Zehn Jahre später wird der Kampf um die Bürgerrechte der Afroamerikaner zu einem alles beherrschenden Thema. Gleichzeitig zeigt die Erzählung, dass Enzensberger von Anfang an der Kapitalismuskritik verhaftet ist. Sie ist sein Leitstern und wird sein Modell bleiben, um alles zu erklären und alles zu bewerten. Selbst das Nachtleben von New Orleans:
"In der Bourbon Street findet das Nachtleben von New Orleans statt, in einer Triumphstraße des Tourismus. Die Photos vor den Nachtklubs spiegeln den trüben Kompromiß zwischen der öffentlichen und der privaten Moral Amerikas wider. Drinnen spielen scharlachrot gekleidete Neger lustlos einen Jazz, der vor 20 Jahren gestorben ist. In den Stimmen der Portiers, die die Pikanterien ihrer Lokale anpreisen, schlägt die Langeweile durch. Trostloser kann nur Montmartre sein, wenn die Autobusse ihre Fracht ausladen. Die Jukebox heulte einen Calypso-Song, und der Barmann zeigte mir Anita, die an einem kleinen Tisch in der Ecke saß."
Vordenker und Visionäre
Menschen werden durch Ausbeutung zu ihrem Unglück gezwungen. Unterhaltungskunst kann im Kapitalismus ästhetisch auch nur unbefriedigend sein. Jaja, die Welt ist schlecht. In den 1950er-Jahren, wie Enzensberger sie erlebt, beginnt die Karriere von Theodor W. Adorno als öffentlicher Vordenker einer kapitalismuskritischen Kulturkritik. Das will aus heutiger Sicht historisch erscheinen. Geradezu visionär zeigt Enzensberger sich dagegen, wenn ihm am Rande ein Schlenker gelingt, bei dem er einen Pelzjäger aus den Bayous auftreten lässt, den versumpften toten Flussarmen des Mississippi. Vor der Küste von Louisiana wird Öl gefördert:
"Das Öl macht die Tiere krank. Alles voller Pipelines. Sollen die Herren vom Tierschutz sich mal darum kümmern! Und die Flugzeuge machen die Vögel irre. Vor ein paar Jahren hat es noch gewimmelt von wilden Truthähnen. Die Kraniche kommen auch nicht mehr, und der Fasan brütet nur noch in den abgelegenen Bayous."
Der junge Enzensberger verweist bereits auf die Umweltzerstörung. Und es ist gerade seine gesellschaftskritische Einstellung, die seinen Blick dafür erst geschärft hat. Der Autor sieht ein Thema kommen, das für den Rest der kritischen Öffentlichkeit noch auf Jahrzehnte hinter dem Horizont verborgen sein wird. Jürgen Habermas wird über Enzensberger später einmal sagen: "Er hat die Nase im Wind."
Ein Meister der kleinen Form
Mit jetzt 90 Jahren im Hochgebirge des Alters gehört Hans Magnus Enzensberger noch einer Generation von Autoren an, deren bedeutende Vertreter alle schon nicht mehr unter uns sind: Heinrich Böll, Günter Grass, Siegfried Lenz. Ausgenommen sein Altersgenosse Martin Walser, der ebenfalls noch publiziert. Seine politische Klugheit und seine vielfältigen Interessen und Fähigkeiten haben dem immens fleißigen und produktiven Hans Magnus Enzensberger paradoxerweise auch Grenzen des Erfolgs gesetzt.
Keines seiner bedeutenden Werke darf einen Bekanntheitsstatus beanspruchen, wie ihn die "Blechtrommel" von Grass, die "Deutschstunde" von Lenz oder "Die Ansichten eines Clowns" erlangt haben. Allein der Umstand, dass er die "Louisiana Story" jetzt unter Pseudonym Andreas Thalmayr veröffentlicht (mindestens sechs andere Pseudonyme hat er im Lauf der Jahrzehnte verwendet; diesmal hat der Verlag Enzensbergers richtigen Namen einfach dazu gesetzt), zeigt seine ungebrochene Freude an der Schrulle, am Kauzigen und einer gewissen Unempfindlichkeit für das, was es braucht, um in der heutigen Medienwelt zur "Marke" zu werden. Vielleicht ist das seiner bayerischen Herkunft und Heimat geschuldet. Auf jeden Fall macht es ihn hochsympathisch.
Andreas Thalmayr alias Hans Magnus Enzensberger: "Louisiana Story"
illustriert von Hannes Binder
Carl Hanser Verlag, München. 80 Seiten, 19 Euro.
illustriert von Hannes Binder
Carl Hanser Verlag, München. 80 Seiten, 19 Euro.