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Andrej Platonow: "Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen"
Der Traum von einem anderen Leben

Proust, Kafka, Beckett, Musil, Faulkner: Für den Dichter und Literatur-Nobelpreisträger Iosif Brodsky waren das die größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Der einzige Russe, der diesen fünf ebenbürtig ist, war für Brodsky der im Westen bis heute weithin unbekannte Andrej Platonow.

Von Uli Hufen |
    Buchcover: Andrej Platonow: "Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen"
    "Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen" ist Andrej Platonows einziger Roman (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Foto: picture alliance /dpa / Novosti)
    Zwischen 1914 und 1921 versank Russland in einem Albtraum der Gewalt, des Elends und der Zerstörung. Der Erste Weltkrieg führte zur Revolution von 1917, die Revolution zum Bürgerkrieg und als der 1921 nach und nach endete, waren viele Millionen tot und kaum ein Stein stand noch auf dem andern. Inzwischen war eine Generation herangewachsen, für die Leben Überleben und die Welt ein Schlachthaus war. Einer dieser jungen Menschen war Andrej Platonow. Ein anderer ist das Waisenkind Sascha Dwanow. Dwanow verdankt sein Überleben dem humanistischen Handwerksgenie und Landstreicher Sachar Pawlowitsch und ist in Platonows Roman "Tschewengur" so etwas wie das Alter Ego seines Schöpfers:
    "Sascha las von Schlachten, von brennenden Städten und fürchterlichen Verlusten an Metall, Menschen und Besitz. Sachar Pawlowitsch hörte schweigend zu, schließlich sagte er: ʹDa leb ich und denke: Ist der Mensch dem Menschen wirklich so gefährlich, dass unbedingt eine Macht zwischen ihnen stehen muss? Von dieser Macht kommt doch der Krieg. Ich gehe umher und denke, den Krieg, den haben sich die Mächtigen absichtlich ausgedacht, denn ein gewöhnlicher Mensch kann so was nicht.'
    Sascha fragte, wie es denn sein müsste.
    ʹTjaʹ, antwortete Sachar Pawlowitsch und ereiferte sich. 'Irgendwie anders.ʹ"
    Dass dieses "irgendwie anders" mit den Begriffen "Revolution" und "Kommunismus" verbunden war, das wusste oder glaubt im Russland jener Jahre nicht nur das ZK von Lenins Bolschewiki, das wussten viele Millionen Menschen. So wie es war, sollte Russland nicht bleiben. Aber selbst unter denen, die sich auf "Revolution" und "Kommunismus" einigen konnten, war heftig umstritten, was mit diesen Begriffen eigentlich gemeint war und wie man in das gelobte Land kommen würde. Für manche war es die Herrschaft der Partei, für andere die Enteignung der besitzenden Klassen, für sehr viele Dritte war es das Ende der Geschichte und der Beginn der Ewigkeit. Die Bolschewiki wurden und werden häufig als messianische Endzeitsekte beschrieben. Für Sascha Dwanow und Andrej Platonow war Kommunismus eine Mischung aus Ingenieurskunst, Naturnähe, Staatsferne und Kameradschaft:
    "Dwanow erinnerte sich an die unterschiedlichen Menschen, die über die Felder geirrt waren und in den leeren Räumlichkeiten der Front geschlafen hatten; vielleicht hatten sich diese Menschen wirklich irgendwo in einer Schlucht zusammengetan, verborgen vor dem Wind und dem Staat, und lebten, zufrieden mit ihrer Freundschaft."
    Mit offenem Herzen in die Zukunft
    "Tschewengur" handelt von dem existenziellen Drama, in das Russland stürzte, als diese Ideen auf die Realität eines vom Krieg zerstörten, rückständigen Landes trafen. Der Konflikt ist in "Tschewengur" schnell umrissen: Auf der einen Seite ist das reale Leben, extrem gefährdet zu jeder Sekunde, nur durch Klugheit, Herzensgüte und Glück überhaupt zu erhalten. Wenn Platonow beschreibt, wie Mütter ihre Kinder einschläfern, um ihnen den Hungertod zu ersparen, dann ist das kein poetisches Bild. Er hatte es gesehen, er wusste, wovon er sprach. Überhaupt sterben die Menschen ganz anders in "Tschewengur". Ruhig und immerzu. Der Tod verursacht keine Aufregung. Keine Polizei kommt, kein Arzt, kein Richter. Auf der anderen Seite - und angesichts der Realität nur zu verständlich - steht der Traum vom besseren Leben, stehen eine schöne Idee und gute Worte mit enormer Anziehungs- und Verführungskraft. Das entscheidende Bild für den Konflikt zwischen beiden gibt Platonow schon früh in "Tschewengur": In einer grandiosen Szene rasen mitten im Bürgerkrieg zwei Züge frontal aufeinander zu und kollidieren.
    Sachar Pawlowitsch spürt die drohende Gefahr instinktiv und gibt seinem Ziehsohn Sascha darum einen Rat, als der herangewachsen ist und hinaus will in die Welt:
    "ʹWenn sie auch Bolschewiki und Großmärtyrer ihrer Idee sindʹ, gab ihm Sachar Pawlowitsch mit auf den weiteren Weg, ʹdu musst dir alles ganz genau angucken. Denk dran – dein Vater ist ertrunken, deine Mutter unbekannt, Millionen Menschen leben ohne Seele, das hier ist eine große Sache. Ein Bolschewik muss ein leeres Herz haben, damit dort alles Platz finden kann.ʹ
    … Sascha hatte schon ein klares Gefühl für diese neue Welt, aber sie ließ sich nur machen, nicht erzählen."
    Wie sein Schöpfer Platonow studiert Sascha zunächst am Polytechnikum, um Ingenieur zu werden. Die neue Welt muss schließlich gemacht werden. Er verteidigt die Revolution im Bürgerkrieg und stirbt beinahe an Typhus. Kaum genesen bricht Dwanow schließlich auf, den Kommunismus zu finden. Nicht in Moskau oder Leningrad, sondern in der tiefsten Provinz: 500 Kilometer südlich von Moskau, nicht weit von der heutigen Grenze zur Ukraine. Dort, im Schwarzerdegebiet rund um Woronesch und Belgorod war Andrej Platonow geboren, dort hatte er als Wasserbauingenieur gearbeitet und mit eigenen Augen gesehen, wie die Menschen lebten nach der Revolution.
    "Der Bürgerkrieg lag dort in Form zerstückelter Volkshabe – tote Pferde, Fuhrwerke, Banditenmäntel und Kissen. Die Kissen ersetzten den Banditen die Sättel, darum gab es in den Banditenabteilungen das Kommando: in die Federn! Zur Antwort schrien die Kommandeure der Roten Armee auf ihren fliegenden Pferden den davonstürmenden Banden hinterher: ʹDie Kissen den Weibern!ʹ"
    Die herrliche Rosa und eine Rosinante namens "Proletarische Kraft"
    Auf seiner Wanderschaft durch die Provinz gerät Dwanow in Gefangenschaft bei der Anarchistenbande des Schriftstellers Mratschinskij. Sein Schicksal ist schon fast besiegelt, als ihm der kommunistische Don Quixote Stepan Kopjonkin auf seinem Pferd "Proletarische Kraft" zu Hilfe eilt.
    "ʹWo sind denn die übrigen Heeresglieder des Genossen Kopjonkin?ʹ, erkundigte sich Sonja bei Dwanow.
    ʹDie hat Kopjonkin für zwei Tage und Nächte zu ihren Frauen entlassen; er meint, militärische Kriegsniederlagen entstehen, wenn die Soldaten ihre Ehefrauen entbehren müssen. Er will Familienarmeen einführen.ʹ
    Plötzlich sah Kopjonkin ganz beseelt aus. Er hob seine Tasse mit Tee und sagte zu allen: ʹGenossen! Trinken wir zum Schluss darauf, dass wir Kraft sammeln für die Verteidigung aller Säuglinge auf Erden, und auf das Andenken des herrlichen Mädchens Rosa Luxemburg! Ich schwöre, dass meine Hand alle ihre Mörder und Peiniger auf ihr Grab legt!ʹ"
    Fortan ziehen Dwanow und Kopjonkin gemeinsam durchs Land, treffen die unterschiedlichsten Menschen und diskutieren über die Revolution. Nach und nach versteht man, dass die sowjetischen Zensoren und Maxim Gorki ganz recht hatten, als sie Platonow vorwarfen, seine Kommunisten seien keine Helden, sondern allesamt halbverrückte Käuze und Sonderlinge. Von den heldischen Arbeitern des sozialistischen Realismus, die seit den 30er Jahren die Bühne sowjetischer Romane und Filme betreten, könnten Platonows Kommunisten tatsächlich kaum weiter entfernt sein. Für Stepan Kopjonkin zum Beispiel ist die Revolution der letzte Rest von Rosa Luxemburgs Körper. Eine platonische Beziehung ist das nicht.
    "Gleich darauf umhüllte der Wahn des weitergehenden Lebens mit seiner Wärme wieder Kopjonkins jähen Verstand, und er sah von Neuem voraus, dass er bald in ein anderes Land reiten und dort Rosas weiches Kleid küssen würde, das ihre Verwandten aufbewahrt haben, und Rosa würde er aus dem Grab holen und zu sich in die Revolution bringen. Er spürte sogar den Geruch ihres Kleides, den Geruch sterbenden Grases, der mit der verborgenen Wärme der Lebensreste verschmolz. Er wusste nicht, dass in Dwanows Gedächtnis Sonja Mandrowa ähnlich roch wie Rosa Luxemburg. "
    Ist das Kommunismus? Oder eine Seuche?
    Doch im Vergleich mit den Männern, die sie schließlich in der abgelegenen Kleinstadt Tschewengur treffen, sind Dwanow und sogar Kopjonkin vernunftbegabt Rationalisten mit Herz. In Tschewengur nämlich, 70 Werst von der nächsten Eisenbahnlinie entfernt, mitten in der Steppe, finden Kopjonkin und Dwanow, was sie so lange gesucht haben: den Kommunismus. Unter der Führung eines gewissen Tschepurny haben elf Bolschewiki den alten Menschheitstraum kurzerhand verwirklicht: Die Bewohner der Stadt haben aufgehört zu arbeiten, ernähren sich von dem, was sich in den Häusern und auf den Feldern findet und vertrauen darauf, dass die Sonne für Nachschub sorgen wird. Die freie Zeit verbringen die frisch gebackenen Kommunisten vor allem mit reden. In einem Gemisch aus falsch verstandenem Parteibroschürenjargon, religiösen Bruchstücken und mehr oder minder gesundem Menschenverstand versuchen sie, dem neuen Leben Sinn abzutrotzen. Wenn das schwer ist, liegt es zu gleichen Teilen daran, dass die Männer nicht besonders helle sind und daran, dass die Welt, in der sie leben, wirklich neu ist.
    Im alten mythologischen Denken der Bauern stand die Harmonie des Weltgebäudes im Zentrum, der ewige Kreislauf der Jahreszeiten, von Geburt und Tod, Tieren, Pflanzen und Menschen. In der neuen Welt, in die sie alle von der Lokomotive Revolution gebracht worden sind, dreht sich nichts mehr im Kreis und alles muss einen Nutzen haben. Die Welt hat einen Sprung nach vorn gemacht, ans Ende der Geschichte. Angeblich. Altes, Überlebtes wird schnell und mitleidlos für überflüssig erklärt. Das kann Dinge, Vorgänge, Traditionen betreffen oder ganze Bevölkerungsgruppen:
    "Einige Kapitalisten baten, von der Sowjetmacht als Knechte eingestellt zu werden– ohne Lebensmittelration und ohne Lohn, andere wieder bettelten um die Erlaubnis, in den ehemaligen Gotteshäusern zu wohnen und wenigstens von ferne mit der Sowjetmacht zu sympathisieren. ʹNein und neinʹ, lehnte Pijussja ab, ʹihr seid jetzt keine Menschen mehr, und die Natur hat sich völlig verändert.ʹ"
    In einer Gewaltorgie werden die sogenannten "Burzhuis", die bürgerlichen Elemente, auf dem ehemaligen Kirchplatz niedergemetzelt. Doch damit beginnen die Probleme erst. Irgendwann dämmert den Siegern der Geschichte, das Kommunismus ohne Menschen schwierig ist. Ein Bote wird ausgesandt, um Proletarier zu finden, aber was da schließlich in Tschewengur ankommt, entspricht weder den Erwartungen noch der halb verdauten Theorie:
    "Am Hang des Kurgans lag das Volk und wärmte die Knochen in der ersten Sonne, und die Menschen glichen schütteren schwarzen Knochen vom zerfallenen Skelett irgendeines riesigen zugrunde gegangenen Lebens. Manche Proletarier saßen, andere lagen und pressten ihre Angehörigen oder Nachbarn an sich, um rascher warm zu werden. Ein hagerer Greis stand nur in Hosen und kratzte sich die Rippen, und ein Halbwüchsiger saß zu seinen Füßen und beobachtete unbeweglich Tschewengur, ohne zu glauben, dass ihm dort ein Haus für ein Nachtlager auf immer bereitet sei. Zwei braune Männer suchten einander im Liegen den Kopf ab wie Frauen, aber sie sahen nicht auf die Haare, sondern fingen die Läuse durch Ertasten. Seltsamerweise hatte es kein Proletarier eilig, nach Tschewengur zu kommen, wahrscheinlich wusste keiner, dass ihm hier der Kommunismus, Seelenfrieden und Gemeineigentum bereitet waren."
    Satire und Melancholie
    Dass es mit dem Kommunismus in "Tschewengur" kein gutes Ende nehmen wird, ist spätestens hier klar. Und warum Platonows Roman in der Sowjetunion nie komplett erscheinen durfte ebenso. Verlauste Proletarier wie diese, die im Wind der Geschichte schwanken wie schüttere Halme im Sturm, konnte in Stalins optimistischem Siegerreich niemand gebrauchen. Und doch war eines unübersehbar: Bei aller Kritik, bei aller schonungslosen Wahrheit schrieb Andrej Platonow doch aus dem Inneren des Traums von einer besseren Welt, als überzeugter Kommunist. Und darum irrten die Zensoren und jene Kritiker, die "Tschewengur" als Satire auf das kommunistische Experiment lasen. Sicher, viele Szenen hier sind umwerfend komisch. Wenn wir hören, dass Klawdjuscha, die einzige Frau in "Tschewengur" in einem besonderen Haus "aufbewahrt" wird, als "Rohstoff der gemeinsamen Freude", müssen wir lachen. Wenn die Tschewengurer behaupten, Kopjonkins Pferd sei ein "Burshui", ein Bürger, dann müssen wir lachen. Man kann sich leicht vorstellen, dass ein guter Schauspieler mit flirrendem Unsinn wie diesem ein Publikum zum Rasen bringen könnte. Aber Lachen wäre der falsche Effekt. Platonow blickt auf das Personal seines Romans nicht mit Überlegenheit und schon gar nicht mit Verachtung. Noch nicht einmal auf den irren Henker Pijussja oder auf Dwanows bösartigen Stiefbruder Proscha, der in Tschewengur eine Art Großinquisitor ist. Auf beinah jeder Seite weht den Leser viel mehr eine überwältigende Melancholie an.
    "Dwanow dachte an den alten, kaum noch lebendigen Sachar Pawlowitsch. ʹSaschaʹ, hatte der manchmal gesagt, ʹmach irgendwas auf der Welt, du siehst ja, die Menschen leben und gehen zugrunde. Wir brauchen doch nur ein kleines bisschen was.ʹ"
    Ökosozialismus
    Platonow hatte nach der Revolution zunächst jahrelang als Wasserbauingenieur gegen die Verwüstung der Natur in Südrussland gekämpft, Dämme und Bewässerungsanlagen gebaut. Doch seit Mitte der 20er Jahre konnte er sich immer weniger gegen die zerstörerische Dummheit der Bürokratien durchsetzen. 1926 wechselte Platonow Vollzeit ins Schriftstellerfach, obwohl er wusste, dass sich "die neue Welt nur machen lässt, nicht erzählen". Seine Karriere war so ambivalent wie sein Verhältnis zum real existierenden Sozialismus. Platonows frühe Werke und auch die großartigen Kriegserzählungen erschienen in hohen Auflagen und wurden von Millionen gelesen. Doch zentrale Werke wie "Tschewengur", "Dzhan" oder "Die Baugrube" konnten gar nicht oder nur verstümmelt erscheinen. Stalin hielt Platonow für einen "Schweinehund" und "Agenten der Feinde". Trotzdem blieb Platonow das Schicksal von Isaak Babel, Ossip Mandelstam oder Boris Pilnjak erspart, die allesamt im Großen Terror umkamen. Gut möglich allerdings, dass Platonow gern mit Pilnjak oder Babel getauscht hätte, wenn er damit hätte verhindern können, dass sein 15jähriger Sohn Platon für zwei Jahre im Lager verschwindet und dort an Typhus erkrankt. Platonow wusste also aus eigenem Erleben gut, dass Stalins Sowjetunion nicht die Erfüllung des Traums von einem besseren, sozialistischen Leben war. Und er schrieb darüber mit unvergleichlicher Eindringlichkeit. Doch der Traum vom besseren Leben blieb, jener Traum, den Platonow 1922 in einem Selbstporträt so formuliert hatte:
    "Wir wachsen aus der Erde heraus, aus all ihrer Unreinheit, und alles, was auf Erden ist, existiert in uns. Aber fürchtet euch nicht, wir werden gereinigt werden; wir erheben uns nach und nach aus dem Dreck. Darin besteht unser Sinn. Aus unserer Hässlichkeit wird die Seele der Welt erwachsen."
    Knapp 100 Jahre später verwundert zwar die seltsame Verquickung von religiösen, sozialistischen und esoterischen Registern in diesem Text. Aber Platonows hier und auch in "Tschewengur" jederzeit präsente Vision eines humanen Sozialismus im Einklang mit der Natur wird zunehmend als Antwort auf die Probleme unserer Zeit begriffen. Platonow hatte schon in den 20er und 30er Jahren davor gewarnt, dass die Menschheit im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten nun die technischen Möglichkeiten besitze, um die Natur vollständig auszuplündern und zu vernichten. Jahrzehnte bevor Begriffe wie Klimakatastrophe, Erderwärmung und Anthropozän in die Umgangssprache einwanderten. Die Erde, so Platonow, könne nur gerettet werden durch eine Wirtschaft, die auf Sonnenenergie basiert, und durch ein neues Bewusstsein, dass Mensch und Natur als lebendige Einheit denkt. Platonow nannte es Sozialismus. Übersetzt in die Prosa von "Tschewengur" klingt das zum Beispiel so:
    "Am Morgen war eine große Sonne, und der Wald sang mit der ganzen Fülle seiner Stimme, indem er den Morgenwind tief unter sein Laub fahren ließ. Sachar Pawlowitsch nahm nicht so sehr den Morgen wahr als den Schichtwechsel der Arbeitskräfte. Der Regen war im Erdreich eingeschlafen – ihn ersetzte die Sonne; sie machte, dass geschäftiger Wind aufkam, dass die Bäume raschelten und die Gräser und Sträucher raunten und dass selbst der Regen, noch ohne sich erholt zu haben, wieder auf die Beine kam, geweckt von kitzelnder Wärme, und seinen Körper zu Wolken sammelte."
    Passagen fabelhafter Schönheit wie diese gibt es in "Tschewengur" viele. Und das weist auf etwas Wichtiges: "Tschewengur" ist ein großartiger, kluger und tief philosophischer Roman, ohne Zweifel der beste, der über das Zeitalter der russischen Revolution je geschrieben wurde. Aber "Tschewengur" ist darüber hinaus auch noch etwas ganz anderes, sehr Rares: ein Kunstwerk von überwältigender Selbstständigkeit, ein Buch, das durch seine sprachliche Erfindungsgabe und Kraft auf jeder Seite Begeisterung erzeugt und das Bedürfnis laut vorzulesen. Andrej Platonow war ein Sprachmagier der Klasse von Samuel Beckett, Kafka oder Laszlo Krasznahorkai, um auch einen lebenden Autor zu nennen. Einer jener raren Schriftsteller, deren Stil man auf jeder beliebigen Seite innerhalb weniger Sätze unfehlbar wieder erkennt. Selbst in der deutschen Übersetzung, erstaunlicherweise. Die kurz vor Erscheinen dieser neuen Ausgabe verstorbene Renate Reschke hat eine Arbeit geleistet, die überhaupt nicht hoch genug einzuschätzen ist. Wenn Sie also wissen wollen, wie man gelebt hat im Russland des Jahres 1917 oder 1927 und was das ist: Eine Revolution - lesen Sie Andrej Platonow.
    Andrej Platonow: "Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen"
    aus dem Russischen von Renate Reschke
    Suhrkamp Verlag, Berlin. 582 Seiten, 32 Euro.