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Aneinanderreihung von Katastrophen

Gewalt kennzeichnet die Geschichte Haitis. Der Staat sei nun endgültig gescheitert, stellt Hans Christoph Buch in seinem selbsternannten Nachruf fest. Dabei blickt der Autor weit zurück und betrachtet das Erdbeben als Gipfel der Historie Haitis.

Von Helge Buttkereit |
    "Das Erdbeben war weniger eine Naturkatastrophe als ein Menschen-gemachtes Desaster, denn es gab Warnungen. Ein Geologe in Haiti hat seit Jahren ein solches Beben vorausgesagt, und die Regierung hat nicht auf ihn gehört. Sie hat sich gerade erst mühsam dazu durchgerungen, wenigstens Vorkehrungen gegen Hurricans zu treffen. Und was nun sichtbar wurde, war der total marode Zustand des Staates, der eigentlich gar nicht existiert."

    Nach Auffassung von Hans Christoph Buch sind die Folgen des Erdbebens Anfang dieses Jahres nur der fatale Gipfel der Geschichte Haitis. Denn das Erdbeben war nicht die erste Katastrophe, die Haiti in den Strudel Menschen-gemachten Elends riss: Für den Autor liest sich die gesamte Geschichte des Landes als Aneinanderreihung von Katastrophen.

    "Vom Freiheitskampf verschleppter Sklaven bis zum Scheitern des Armenpriesters Aristide, dessen Lavalas-Revolution nur stinkenden Schlamm hinterließ: Nach seinem Abgang fegte der Hurrikan Jeanne über die Insel hinweg und Schlammlawinen begruben Haitis zweitgrößte Stadt Gonaives."

    Gewalt kennzeichnet die Geschichte eines Staates, der nun endgültig gescheitert ist, stellt der Autor in seinem "Nachruf" fest. Nach zwei kurzen Depeschen aus Haiti, reportageartigen Sequenzen, die die Lage nach dem Erdbeben beschreiben, blickt der Autor dabei weit zurück. Im Befreiungskampf der Sklaven in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert versucht er, die Wurzel des Übels zu finden.

    "Haiti ist sehr stolz auf seine frühe Unabhängigkeit, aber selbst haitianische Intellektuelle sagen heute: Vielleicht kam sie zu früh. 1804 hat Haiti eine von Napoleon entsandte Armee vernichtend geschlagen und anders als in den USA ergriffen hier die Sklaven die Macht, nicht die Kolonialherren, die Sklaven, die Nachfahren aus Afrika verschleppter Menschen. Viele von ihnen waren Analphabeten und nicht darauf vorbereitet, einen Staat zu führen."

    Mehr als die Hälfte des Buches handelt vom Unabhängigkeitskampf der Haitianer. Buch beschreibt zunächst die Grausamkeiten der weißen Sklavenhalter. Der Reichtum der französischen Karibikkolonie beruhte auf einer brutalen Ausbeutung von Sklaven, die stetig aus Afrika nachgeholt werden mussten. Ein großer Teil von ihnen starb auf dem Meer, ein weiterer bei der Arbeit und wieder andere durch grausame Strafen selbst für Nichtigkeiten. Im Zuge der französischen Revolution brachen in der Kolonie mehrere Freiheitskämpfe aus. Die Mulatten, Kinder weißer Herren und schwarzer Sklavinnen begehrten ebenso gegen die Kolonialordnung auf wie die Sklaven selbst. Buch bringt dem Leser die Geschichte dieser bewegten Zeit und des letztlich erfolgreichen Sklavenaufstandes sowohl gegen einheimische Weiße wie auch französische Soldaten mit Hilfe einer Textkollage aus kommentierten Quellenauszügen näher. Die Auswahl ist eindrucksvoll und bedrückend zugleich. Gewalt war allgegenwärtig, und sie blieb es auch in der Folge.

    "Die Unmenschlichkeit des Kolonialregimes war mit dessen gewaltsamen Ende nicht einfach verschwunden, sie paarte sich mit despotischer Willkürherrschaft, diesmal im Namen der Bevölkerungsmehrheit, und wurde dadurch noch raffinierter und brutaler, obwohl laut Verfassung die Sklaverei für immer abgeschafft und die Gleichheit aller Bürger festgeschrieben war."

    Es steht außer Zweifel, dass viele der heutigen Probleme schon beim Entstehen des Staates angelegt waren. Entstand der Staat doch in einer gewalttätigen Gegenbewegung, ohne selbst ein Projekt eines Standes, einer Klasse zu sein. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zur Französischen Revolution, die die Erhebungen in der Karibik auslöste. Dort, wo der Kampf um die Freiheit ein Kampf ums reine Überleben war, brauchte es keine Idee, kein Programm für einen befreiten Staat. Diesen wichtigen Aspekt unterschlägt der Autor, obwohl er ebenfalls für seine These sprechen würde, dass die Unabhängigkeit zu früh kam. Dagegen spricht ein Aspekt, der für die Bewertung der Geschichte Haitis entscheidend ist:

    "Die von befreiten Sklaven gegründete Republik galt im 19. Jahrhundert als gefährlicher Präzedenzfall, nicht nur in den Augen europäischer Kolonialmächte, sondern auch aus Sicht der USA, deren Plantagenwirtschaft bis 1865 auf Sklavenarbeit beruhte."

    Haiti musste nach 1804 die französischen Kolonialherren für den entgangenen Besitz entschädigen, eine Wiedergutmachung für die Sklaverei gab es nie. Haiti wurde im 19. Jahrhundert über Jahrzehnte vom internationalen Handel quasi ausgeschlossen und auch im 20. Jahrhundert blieb der Staat ein Spielball der Weltmächte. Unter Diktator "Papa Doc" François Duvalier sollte Haiti Gegenpol zum benachbarten Kuba werden, er öffnete den Markt für US-amerikanisches Kapital und Agrarprodukte. So wurde die lokale bäuerliche Landwirtschaft zerstört, die Landflucht nahm zu und die Slums vom Port-au-Prince wuchsen.

    Dass äußere Einflüsse bis hin zur Besatzung durch die UN-Truppen im Jahr 2004 mindestens genau so viel Anteil am Elend Haitis hat wie die inneren Widersprüche, dass es eine Wechselwirkung zwischen Gewalt und von außen bestimmter Ökonomie gibt, fehlt bei Buchs knappen Betrachtungen fast völlig. Gerade die jüngere Geschichte ist für ihn nur noch eine Bestätigung der These des aus sich selbst heraus gescheiterten Staates. Die neoliberale Politik der USA, die Privatisierungen vorantrieb und auf Tourismus und ausbeuterische Textilbetriebe setzte, wird nicht einmal erwähnt. Nach Buchs vielen Erörterungen um den gescheiterten Staat bleibt trotz einiger Relativierungen eine Quintessenz stehen: Haiti ist selber schuld. Schon wenn man die von Buch spannend geschilderte Entstehungsgeschichte des Staates verfolgt, mag man dieser Schlussfolgerung nicht zustimmen. Nimmt man die vergangenen 206 Jahre hinzu, dann erst recht nicht.

    Hans Christoph Buch: Haiti. Nachruf auf einen gescheiterten Staat.
    Wagenbach Verlag, 192 Seiten, € 12,90
    ISBN: 978-3-80312-648-1