Ihr sei selbst nicht bewusst gewesen, welche Ansprüche sie habe, sagte Brigitte Bührlen im DLF. Sie hat 20 Jahre lang ihre Mutter gepflegt. Professionelle Dienstleister in diesem System wüssten zwar, welche Angebote es gebe. Ein pflegender Angehöriger kenne diese Angebote aber in der Regel nicht. Das seien zwei Systeme, die aneinander vorbeigleiten würden.
Es werde sehr viel über und für pflegende Angehörige geschrieben, aber die, um die es eigentlich gehe, seien sich nicht klar, dass sie gemeint sind, so Bührlen weiter. Man fühle sich selbst nicht als pflegender Angehöriger angesprochen, sondern betrachte es als völlig normal, sich etwa um die Eltern zu kümmern. Dies sei vor allem eine ehrenamtliche Tätigkeit.
Viele Dinge bereiteten diesen Angehörigen große Probleme: Man müsse jemanden in seine Privatheit hineinlassen und sich mit einem bürokratischen System beschäftigen, das einem nicht vertraut sei. Die Beantragung der Leistung sei zudem schwierig. Und man müsse selbst auch viel Geld dazubezahlen. Viele Menschen könnten sich das nicht leisten. Das seien "viele Hürden und Hindernisse, die man von professioneller Seite aus gar nicht so sieht".
Alle politischen Entscheidungen seien ohne die Mitwirkung der pflegenden Angehörigen getroffen worden, sagte Bührlen. Beispielsweise die zehn Tage Pflegezeit: Sehr oft melde man sich eher krank und nutze nicht die Pflegetage. Man habe das Recht, sechs Monate eine Auszeit zu nehmen, aber das sei unbezahlt. Und bei der darüberhinausgehenden Familienpflegezeit müsse man "unterm Strich vier Jahre von 75 Prozent" des Gehaltes leben. Das könne sich finanziell nicht jeder leisten.
Das Interview in voller Länge:
Dirk-Oliver Heckmann: Gut zweieinhalb Millionen Menschen sind in Deutschland heute bereits auf eine professionelle Pflege angewiesen. Und da unsere Gesellschaft immer älter wird, steigt die Zahl erheblich in den kommenden Jahrzehnten.
Zwei Drittel aller Betroffenen werden zuhause gepflegt, die allermeisten davon von Angehörigen, meist übrigens nach wie vor von Frauen. Die Politik hat inzwischen reagiert. Selbst Kritiker konzedieren, dass selten so viele Maßnahmen zur Stärkung der Pflege eingeleitet wurden.
Heute beginnt in Berlin der Deutsche Pflegetag. Das ist das wichtigste Treffen zum Thema in Deutschland. Und mit dabei sein wird Brigitte Bührlen. Sie hat selbst 20 Jahre lang ihre demenzkranke Mutter gepflegt. Und im Jahr 2010, da hat sie die WIR!-Stiftung pflegender Angehöriger gegründet. Außerdem sitzt sie im Beirat der Bundesregierung für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Jetzt ist sie am Telefon. Schönen guten Morgen, Frau Bührlen.
Brigitte Bührlen: Guten Morgen.
Heckmann: Frau Bührlen, die AOK, die hat am Montag einen Pflegereport vorgelegt, in dem sie zum Schluss kommt, viele Angehörige rufen die Pflegeleistungen, die sie abrufen könnten, gar nicht ab. Können Sie die Leute verstehen, die das nicht tun?
Bührlen: Ja! Ich habe auch keine Leistungen abgerufen, obwohl das natürlich noch nicht so ausgefeilt war, das System, wie jetzt. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen. Ich habe mich nicht als pflegende Angehörige empfunden, sondern einfach als Tochter, die sich um ihre Mutter kümmert.
Mir war nicht bewusst, welche Ansprüche ich habe. So langsam im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, okay, ich könnte vielleicht dies und das und jenes in Anspruch nehmen. Aber dann überlege ich mir, kann ich es nicht selber machen, muss ich jetzt wirklich jemand Fremden in meinen Haushalt bitten, um irgendwelche Leistungen für mich zu vollbringen. Ich versuche es, erst mal selber zu bewältigen.
"Sehr viele Menschen wollen es zunächst einmal selber schaffen"
Heckmann: Das heißt, es spielt eine große Rolle, dass viele Leute einfach sagen, das muss ich alleine schaffen?
Bührlen: Ja. Sehr viele Menschen wollen es zunächst einmal selber schaffen, bevor sie sich fremde Hilfe holen. Und wenn sie fremde Hilfe dann doch vielleicht gut gebrauchen könnten, dann wissen sie erst mal nicht, an wen sie sich wenden sollen, obwohl wir so viel Informationsmaterial haben, obwohl wir so viele Broschüren haben.
Wir wissen es nicht als normale Bürger. Wenn ich in dem System mich bewege, wenn ich irgendwas mit Pflege professionell zu tun habe, dann weiß ich natürlich, was es für Hilfsangebote und Möglichkeiten gibt. Aber ich bin nicht vorbereitet normalerweise auf die Situation und obwohl es so viele Hilfen und so viele Angebote gibt, normalerweise weiß ich das nicht, kenne ich diese Angebote nicht.
"Es gibt keine Lobby der pflegenden Angehörigen"
Heckmann: Das heißt, jede Familie, die damit konfrontiert ist, die steht erst mal vor einer völlig neuen Situation und hier mangelt es im Prinzip nach wie vor an Informationen?
Bührlen: Ja! Es sind zwei Systeme, die irgendwo aneinander vorbeigleiten, da es keine Lobby der pflegenden Angehörigen gibt, also der Menschen, die sich um einen anderen in ihrer Umgebung kümmern, da es da keine Stimme gibt, weil es kein Bewusstsein gibt über eine Gemeinsamkeit, die da viele Menschen haben. Dadurch ist auch kein wirkliches Bewusstsein da.
Es wird sehr viel über und für pflegende Angehörige geschrieben, geredet, es werden viele Konzepte entwickelt, viele Projekte gestartet. Aber die, um die es eigentlich geht, die sind sich oft gar nicht bewusst, dass sie jetzt zu dieser Gruppe gehören, denn sie sind ja normalerweise nicht eingebunden in irgendwelche Prozesse, die sich mit Pflege beschäftigen.
Heckmann: Es gibt ja jede Menge Lobbys im Gesundheitsbereich, auch im Pflegebereich, die auch wirklich stark sind, die ganz stark auch Einfluss ausüben auf politische Entscheidungen.
Woran liegt denn das aus Ihrer Sicht, dass es keine Lobby gibt für pflegende Angehörige? Ich habe es gerade schon gesagt: Zwei Drittel aller Pflegebedürftigen werden zuhause gepflegt.
Bührlen: Weil es für uns kulturell eigentlich normal ist, dass wir uns um jemanden kümmern in unserer Umgebung, der einen Hilfsbedarf hat, und wir sehen uns da nicht in einer besonderen Situation, sondern es ist einfach normal. Ich kümmere mich jetzt um meine Mutter.
Ich sehe mich da nicht als einer Gruppe zugehörig, die ganz viele Gemeinsamkeiten hat. Ich sehe mich nicht als pflegende Angehörige. Das ist ein Begriff, der ist mir erst mal überhaupt nicht bekannt. Jedenfalls trifft er erst mal nicht auf mich zu. Das mögen irgendwelche anderen Leute sein, aber nicht ich.
Wenn ich dann so langsam merke, okay, ich brauche Hilfe, dann sehe ich mich als jemand, der Hilfe braucht in seinem Alltag, aber auch noch nicht als der Gruppe pflegender Angehöriger zugehörig. Das ist so ein Begriff, den wir eingeführt haben im professionellen Bereich, der uns als Bürger aber nicht wirklich was sagt. Der ist auch nicht so ganz klar definiert.
Heckmann: Das Bewusstsein fehlt aus Ihrer Sicht?
Bührlen: Ja.
"Die Beantragung von Leistungen ist nicht wirklich einfach"
Heckmann: Es fehlt auch an Informationen. Es gibt keine Lobby. Gibt es noch andere Gründe, warum pflegende Angehörige Leistungen nicht in Anspruch nehmen? Sind die Zuzahlungen beispielsweise auch ein Problem, die damit verbunden sind?
Bührlen: Ja natürlich. Große Probleme sind erstens mal: Ich muss jemand in meine Privatheit lassen. Das ist ein großer Schritt, das überlege ich mir gut. Das Zweite ist, dass ich dann in einem bürokratischen Bereich lande, der mir erst mal auch nicht wirklich vertraut ist.
Es ist sehr bürokratisch. Die Beantragung von Leistungen ist nicht wirklich einfach und da wache ich oft in einem Urwald auf. So empfinden es jedenfalls viele. Dann kostet es natürlich viel Geld. Wir bekommen zwar von der Pflegeversicherung, wenn wir dann eine Pflegestufe haben, wo der Pflegebedürftige eingestuft ist, Gelder, aber ich meine, das sind ja eigentlich auch schon Gelder, die wir vorher selber einbezahlt haben. Und dann müssen wir noch eine ganze Menge dazubezahlen und das ist wirklich teilweise auch nicht banal. Das überlege ich mir auch gut beziehungsweise kann ich es mir oft auch nicht wirklich leisten. Das sind einfach so viele Hürden und Hindernisse, die man von professioneller Seite aus gar nicht so sieht.
Heckmann: Dennoch hat die Große Koalition, Frau Bührlen, ja eine ganze Menge von Verbesserungen auf den Weg gebracht. Das würden Sie wahrscheinlich auch konzedieren, durch das Pflegestärkungsgesetz, auch das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Pflege. Man kann zehn Tage von der Arbeit fernbleiben, kriegt Lohnersatzleistungen, man kann sich sechs Monate freistellen lassen, zwei Jahre lang die Arbeitszeit reduzieren. Reicht das aus Ihrer Sicht?
Bührlen: Nein! Alle diese Regelungen sind getroffen ohne die Mitwirkung derer, um die es geht, ohne die Mitwirkung von pflegenden Angehörigen. Die zehn Tage: Erstens mal, ich muss mich bei meinem Arbeitgeber outen. Ich weiß gar nicht, ob meine Mutter, die vielleicht in Berlin wohnt, während ich in München wohne, welchen Hausarzt sie hat. Ich weiß gar nicht, wie ist denn jetzt wirklich der Pflegebedarf. Ich weiß nicht, wie soll ich dort vor Ort, wo ich mich gar nicht auskenne, die Pflege regeln, was gibt es da für Pflegedienste. Sehr oft meldet man sich krank und bekommt 100 Prozent Lohnausgleich und versucht, es irgendwie zu regeln.
Das Zweite ist die Pflegezeit. Da habe ich das Recht, sechs Monate eine Auszeit zu nehmen. Aber die ist unbezahlt. Die Leistungen letzten Endes, das muss kostenneutral erbracht werden, ehrenamtlich. Das kann ich mir nicht unbedingt leisten, ein halbes Jahr ohne jedes Gehalt zu leben. Und bei der Familienpflegezeit, da muss ich unterm Strich vier Jahre von 75 Prozent meines Gehaltes leben, denn auch diese Leistung ist nicht jetzt wirklich Geld, das ich als Angehöriger bekomme, sondern das muss kostenneutral sein. Auch das hat historische Gründe. Die häusliche Pflege wird ehrenamtlich geleistet. Auch das muss kostenneutral gehen.
"Wir müssen selber einer Stimme bekommen"
Heckmann: In einem ganz kurzen Satz, Frau Bührlen, zum Schluss. Glauben Sie, dass sich das noch verbessern wird in den nächsten Jahren?
Bührlen: Ich hoffe es! Ich hoffe es, dass wir für uns selber eine Lobby bilden über ganz Deutschland, da wo wir leben, dass wir uns zusammentun und kleine Gruppen bilden und konstruktiv mitarbeiten, in unseren Sozialräumen uns einbringen und sagen, was wir brauchen, sodass eine Lobby von unten nach oben wächst, wo wir dann wirklich auch einbringen können, was wir brauchen. Wir müssen selber eine Stimme bekommen.
Heckmann: Heute beginnt der Deutsche Pflegetag in Berlin. Brigitte Bührlen war das von der WIR!-Stiftung pflegender Angehöriger. Frau Bührlen, herzlichen Dank für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.