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Angela Lehner: "Vater unser"
Wahnsinn im Jugendstil

In ihrem beeindruckenden Debütroman verunsichert die gebürtige Kärntnerin Angela Lehner mit einer wahnsinnigen Erzählerin, der man nicht über den Weg trauen kann. Eva Gruber berichtet mit satirischem Unterton aus einer Wiener Psychiatrie. Der Roman ist eine gelungene Mischung aus menschlicher Tragödie und Situationskomik.

Von Veronika Schuchter |
Angela Lehner: "Vater unser" / Zu sehen ist die österreichische Schriftstellerin und das Cover ihres neuen Romans.
Die junge Autorin Angela Lehner und ihr Debüttitel: "Vater unser" (Cover: Verlag Hanser Berlin/ Foto: Paula Winkler)
Es tut sich was in der jüngeren österreichischen Literatur. Die Zeiten der Selbstzerfleischung sind ein Stück weit vorbei. Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek und Peter Handke: Die österreichischen Hausgötter der Nestbeschmutzung scheinen als Vorbilder passé, Qualtinger, Nestroy und die Wiener Gruppe an ihre Stelle getreten. Es darf wieder gegrantelt und gesudert werden, ohne Selbsthass, aber mit liebevoller Selbstironie. Und, man mag es kaum glauben, vielleicht ist ja alles gar nicht so schlimm:
"Die Klimaanlage ist aus. Ich bin überrascht. Hätte ich die österreichische Polizei einschätzen müssen, hätte ich gesagt, dass die die Klima einschalten und gleichzeitig das Fenster runterkurbeln würden. Aber nein. Haben sie gar nicht gemacht. Ganz vernünftig sind die.
Die rote Wut im Bauch
Doch hinter dem lakonischen Witz, der Angela Lehners Debütroman durchzieht, tun sich bald Abgründe auf. Eva Gruber, die Erzählerin des Romans, landet auf der Psychiatrie im traditionsreichen Otto-Wagner-Spital. Wahnsinn im Jugendstil mit Blick auf Wien, eine symbolträchtige Anlage. Dort trifft sie auf ihren jüngeren Bruder Bernhard. Er ist abgemagert bis auf die Knochen, sie behauptet, eine Kindergartenklasse erschossen zu haben. Es beginnt ein typischer Psychiatrieroman, mit Therapiestunden, skurrilen Insassen und absurden Gruppenaktivitäten, die Eva bitterböse kommentiert:
"Die Ärztin hat vorhin gesagt, wir sollen die Augen zumachen und die Gefühle im Körper lokalisieren. Wir sollen uns vorstellen, wo die Trauer sitzt oder die Freude. Ob die jeweiligen Gefühle zum Beispiel in der Brust wohnen oder eher im Bauch. Und welche Farben und Formen sie haben, diese Gefühle. Aber dann war das Glück bei allen gelb und saß in der Brust. Und die Wut war bei allen rot und saß im Bauch, und da musste ich kurz lachen. Es war ganz unfreiwillig, aber manche Menschen sind eben unabsichtlich so banal, dass ich mich provoziert fühle."
Diese Erzählerin ist blind vor Narzissmus
Was tatsächlich so Furchtbares in der Kindheit stattgefunden hat, das beide Geschwister an ihrem Leben verzweifeln lässt, bleibt bis zuletzt unklar. Denn Eva Gruber ist eine klassische unzuverlässige Erzählerin. Sie lügt, provoziert, ist blind vor Narzissmus und führt alle in die Irre. Ihr Umfeld, den Leser, aber auch sich selbst. So berichtet sie ihrem Therapeuten Dr. Korb detailliert vom Missbrauch durch den Vater, nur um wenig später festzuhalten "Ich interpretiere da nichts Sexuelles rein; Missbrauch ist ein ausgelutschtes Thema." Nur ihren Bruder Bernhard täuscht sie nicht und auch mit der zu Besuch kommenden Mutter gibt es Konflikte. Die Schuld an Bernhards und ihrem eigenen Zustand sieht Eva beim Vater:
"Unser Geschwür ist der Vater. Der Vater wuchert uns unter der Haut, er dringt uns aus den Poren. Der Vater kriecht uns den Rachen herauf, wenn wir uns verschlucken"
Der titelgebende, überlebensgroße Vater bleibt Erinnerung und Projektionsfläche. Lehner legt das Motiv kunstvoll mehrdeutig an. So referiert der Titel neben dem realen Vater auch auf die tief verwurzelte katholische Tradition und das Vaterland. Die Psyche der Erzählerin wird verschränkt mit dem kollektiven österreichischen Gedächtnis: "Wir Opfer haben eben ein schlechtes Gedächtnis, wir können nichts dafür." Angela Lehner wollte keinen österreichischen Roman schreiben, gab sie in einem Interview zu Protokoll. Das ist gründlich misslungen, denn "Vater unser" strotzt nur so vor österreichischem Kulturgut, von Reinhardt Fendrichs I am from Austria, dem Paradegrantler Mundl bis zu Elisabeth T. Spiras Alltagsgeschichten.
Lehner schreibt in der Tradition Österreichs
Nicht zu leugnen ist auch die sprachliche und vor allem literarische Herkunft. Lehners Roman ist tief verwurzelt in österreichischen literarischen Traditionen. Rückblicke in die Kindheit in der Kärntner Provinz zeigen eine literarische Nähe zu Lehners Landsmann Josef Winkler. Beide ergründen die Zurichtungen des Katholizismus, die erdrückende Dumpfheit zwischen Herrgottswinkel und Jörg-Haider-Bild, Rosenkranz und Lieblosigkeit. Bei Winkler endet der Missbrauch mit dem Kalbstrick im Stadl, Lehner schickt ihre Protagonistin auf eine Fahrt zurück in die Heimat. Eva entführt ihren magersüchtigen Bruder. In ihrem Wahn sieht sie nur einen Weg, um ihn zu retten: Der Vater muss getötet werden. Der Roadtrip wird zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der zerrütteten Beziehung der Geschwister. Es scheint, als würde die Zeit stillstehen:
"Immer noch alles gleich hier. Je weiter wir auf unserer Reise kommen, desto sicherer werde ich mir, dass etwas nicht stimmt. Mit diesem Land, mit diesen Leuten; dass sie nicht echt sein können. Dass eine Gegend, eine Nation, so sehr den eigenen Erinnerungen entsprechen kann: Da stimmt doch was nicht. Österreich ist wie ein Haus, das ich vor zwanzig Jahren verlassen habe, und bei meiner Rückkehr steht immer noch das benutzte Geschirr auf dem Tisch."
Eine Psychose im Stil der Popliteratur
Am Ende des gemeinsamen Trips ist jede Gewissheit zerstört. "Vater unser" ist die Geschichte einer Psychose, in der man bald nicht mehr weiß, was tatsächlich passiert. Die Verunsicherung, die entsteht, wenn die einzige verfügbare Perspektive, jene einer Verrückten ist, macht den Roman äußert reizvoll. Dass es sich um ein Debüt handelt, merkt man dem Text nicht an. Lehner spielt gekonnt mit literarischen Traditionen, Genres und Motiven.
Sie mischt Pop- und Heimatroman, Psychogramm und Entwicklungsgeschichte. Lustvoll werden Klischees gebrochen, und noch viel lustvoller werden sie bestätigt. Manche Erinnerungen werden durch kleine Details als Flunkergeschichten enttarnt. Etwa wenn Eva vor sich hin fabuliert, wie sie mit einem gestohlenen Moped von Wien nach Kärnten gefahren sei und ihr Kinder unterwegs eine Flasche Radlberger geschenkt hätten. Da wird die Werbung zur Mutter der Erinnerung. Andere Lügengebäude brechen krachend in sich zusammen und Eva scheint dann überraschter als der Leser selbst. Am Ende ist die Wahrheit unwichtig. Wer denn nun das Monster war, der Vater, die Mutter oder gar Eva selbst. Denn, das führt der Roman vor, es sind unsere Fiktionen, die zeigen, wer wir wirklich sind. Jene, die wir anderen auftischen, aber mehr noch, jene, mit denen wir uns die Welt vom Leib halten.
Angela Lehner: "Vater unser"
Hanser Berlin, Berlin. 304 Seiten, 22 Euro