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Angela Merkel
"Sich jetzt wegzuducken und zu hadern, das ist nicht mein Angang"

Bundeskanzlerin Merkel ist zuversichtlich, dass Deutschland die Aufnahme und Integration der vielen Flüchtlinge bewältigen wird. Sicherlich brauche man einen langen Atem, sagte Merkel im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Man müsse die auftretenden Probleme aber annehmen und gleichzeitig gestalten.

Angela Merkel im Gespräch mit Stephan Detjen |
    Bundeskanzlerin Angela Merkel am 3. Oktober 2015 im Kanzleramt beim Interview der Woche.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Bundeskanzleramt beim Interview der Woche. (Christian Kruppa)
    "Wir sind bereit, diese Integrationsaufgabe anzugehen", so Merkel im DLF. Diese sehr große Aufgabe müsse so gestaltet werden, dass sich alles zum Guten wende. Nötig sei eine Beschleunigung der Asylverfahren. Diejenigen, die den Schutz Deutschlands nicht brauchten, müssten unser Land auch wieder verlassen. Sie sagte weiter: "Was wichtig ist, ist, dass wir jeden Menschen als Menschen behandeln. Auch, wenn er unser Land wieder verlassen muss."
    Darüber hinaus müssten die Außengrenzen besser geschützt und die Fluchtursachen bekämpft werden. Zudem sollte es eine faire Lastenverteilung in der Europäischen Union geben. Es könne nicht sein, dass drei oder vier Länder die ganze Last tragen müssten. Zur jüngsten Kritik aus Bayern sagte die Bundeskanzlerin: "Ich glaube nicht, dass Zäune helfen. Das haben wir in Ungarn gesehen."
    Merkel betonte, dass sie die Entscheidung vom September für eine Öffnung der Grenze für Flüchtlinge genauso wieder treffen würde. Es sei erkennbar gewesen, dass sich die Schutzsuchenden nicht würden aufhalten lassen.
    Zur Debatte über eine mögliche Änderung des Asylrechts sagte die Bundeskanzlerin, dies werde nicht angetastet. Die meisten Asylbewerber könnten sich auf die Genfer Flüchtlingskonvention berufen - deshalb werde an der Gesetzgebung nichts geändert.

    Das Interview in voller Länge:
    Stephan Detjen: Frau Bundeskanzlerin, wir führen dieses Gespräch heute am Tag der Deutschen Einheit zwischen Ihrer Rückkehr von der Feier in Frankfurt und Ihrer Abreise zu deutsch-indischen Regierungsgesprächen nach Indien. Danke zunächst, dass Sie sich in diesem dichten Terminkalender eine knappe halbe Stunde Zeit für den Deutschlandfunk nehmen.
    Angela Merkel: Gerne.
    Detjen: Die Einheitsfeier in Frankfurt stand ganz im Zeichen des aktuellen Flüchtlingsthemas. Bundespräsident Gauck sagte: Jetzt soll in Deutschland zusammenwachsen, was eigentlich nicht zusammengehört. Er hat gesagt: "Es soll zusammenwachsen", er hat nicht gesagt: es muss zusammen oder es wächst zusammen oder es könne zusammenwachsen. Sehen Sie das auch so? Markiert dieser 3. Oktober 2015 das Datum, an dem die Deutschen gezwungen werden, von Vorstellungen nationaler, ethnischer, kultureller Einheitlichkeit Abschied zu nehmen? Oder war das sowieso immer eine Illusion, wenn man solche Vorstellungen hatte?
    Merkel: Also erst einmal ist es ein wunderbarer Tag, dass wir den Tag der Deutschen Einheit nach 25 Jahren so begehen können, dass wir sagen können: Es ist vieles gelungen, noch nicht alles erreicht, aber insgesamt ist zusammengewachsen, was zusammengehört. Und damit hat sich das, was Willy Brandt damals gesagt hat, bewahrheitet. Es hat sich auch bewahrheitet, dass es viele blühende Landschaften gibt, so wie Helmut Kohl das gesagt hat, und deshalb ist es für mich nach wie vor ein Tag der Freude. Aber wir stehen vor neuen Aufgaben. Aufgaben, die wir in der Dimension, in der Reichweite noch nicht kannten. Und das, was der Bundespräsident gesagt hat, das teile ich, dass wir die Kraft, die wir im Zuge der Deutschen Einheit gespürt haben, jetzt auf eine andere Aufgabe lenken können, aber auch lenken sollten. Und das ist die Tatsache, dass wir unter den Bedingungen der Globalisierung, unter den Bedingungen von Bürgerkriegen, von schwierigen Situationen einfach sehr, sehr viele Flüchtlinge aufnehmen, von denen viele auch bleiben werden und das "Sollen" ist sehr stark. Es hängt natürlich von uns ab, es hängt aber auch von denen, die zu uns kommen ab, und wir sind bereit diese Integrationsaufgabe auch anzugehen. Und ich werbe dafür, dass wir diese Aufgabe nicht ablehnen – das hat sowieso keinen Sinn –, sondern dass wir sie annehmen, innerlich annehmen und dann auch so gestalten, dass es für uns alle sich zum Guten entwickelt.
    Detjen: Viele Menschen wollen genauer wissen, was das für eine Aufgabe ist. Können Sie uns heute sagen, um wie viele Menschen die deutsche Bevölkerung im 25. Jahr der Einheit anwachsen wird?
    Merkel: Das kann ich so nicht sagen. Ich kann nur sagen, dass wir Signale der Ordnung senden müssen. Das heißt natürlich, dass wir Flüchtlingsursachen sehr viel stärker werden bekämpfen müssen, dass wir unsere Außengrenzen besser schützen müssen und dass wir zu Vereinbarungen kommen müssen, wie wir in Bereichen helfen können, wo die Not heute sehr groß ist und wo Menschen nicht ihre Heimat dann verlassen müssen. Denn wir müssen sehen: Niemand verlässt jetzt leichtfertig seine Heimat, sondern möchte natürlich in seiner Heimat auch leben – die allermeisten jedenfalls. Wir müssen bei uns zu Hause diese Aufgabe so angehen, dass wir sagen: Die, die Schutz brauchen, bekommen diesen Schutz und auf der anderen Seite müssen wir denen, die diesen Schutz nicht unbedingt brauchen, die aus anderen Gründen, zum Beispiel wirtschaftlichen kommen, die müssen unser Land auch wieder verlassen. Was aber wichtig ist, ist, dass wir jeden Menschen als Menschen behandeln, auch wenn er unser Land wieder verlassen muss und unter dieser Maßgabe Flüchtlingsursachen bekämpfen, Außengrenzen besser schützen, integrieren und denen, die Schutz brauchen, sie auch in Deutschland willkommen heißen. So habe ich auch meine Worte gewählt, dass wir das schaffen und ich bin auch ganz überzeugt, wenn wir es annehmen als Aufgabe, dann wird uns das auch gelingen.
    "Ich glaube, dass man Menschen, die zu großen Teilen aus einer Notsituation kommen, freundlich 'Willkommen' sagen sollte"
    Detjen: Aber auch im Zusammenhang mit dem Satz, den Sie jetzt zitiert haben – "Wir schaffen das" –, ist ein Bild der Bundeskanzlerin entstanden, das Ihnen jetzt von den Kritikern, zunehmend auch aus den eigenen Reihen, entgegengehalten wird: Das Bild einer Kanzlerin, die die Grenzen für einen unkontrollierten Strom von Menschen öffnet, sich von glücklichen Menschen feiern lässt und dann sagt: "Wir schaffen das", obwohl Länder und Kommunen längst sagen: Wir brechen unter der Last zusammen, wir schaffen das nicht mehr.
    Merkel: Ich verstehe natürlich sehr wohl, dass es eine sehr, sehr große Aufgabe ist, dass unglaublich viel geleistet wird, möchte auch den Hauptamtlichen, den Ehrenamtlichen, den Vielen, die vor Ort sich auf ganz ungewohnte Situationen einstellen, viele Flüchtlinge aufnehmen, ein ganz herzliches Dankeschön sagen, und vorne weg dabei auch Bayern, denn Bayern trägt die Hauptlast, dort kommen die allermeisten Flüchtlinge an. Und das ist eine sehr ungewohnte Situation und in sofern muss man da einfach "Dankeschön" sagen. Ich glaube, dass man Menschen, die zu großen Teilen aus einer Notsituation kommen, freundlich "Willkommen" sagen sollte, das haben im Übrigen auch die Bürgerinnen und Bürger gemacht. Die Bilder, die um die Welt gegangen sind, das waren die Bilder vom Münchner Bahnhof, wo Menschen nach der Ankunft von Flüchtlingen einfach sie freundlich begrüßt haben, von Herzen begrüßt haben. Das heißt ja nicht, dass dann auch wieder Aufgaben noch zu leisten sind, die lange dauern werden, die nicht in einem Jahr und nicht in zwei Jahren erledigt sein werden. Wir müssen auch unsere Prozeduren straffen, wir müssen schneller zu Entscheidungen kommen, wie wir die Asylverfahren positiv oder negativ bescheiden oder die Anerkennung auf Bürgerkriegsflüchtling. Ich will daran erinnern, ich habe mit dem Flüchtlingsmädchen Reem im Frühsommer darüber gesprochen, wie wir es schaffen können, in Deutschland Schutz denen zu geben, die Schutz brauchen, indem wir auch denen, die den Schutz nicht so unbedingt brauchen, sagen: Sie müssen unser Land wieder verlassen. Und das ist der Maßstab, an dem ich mich orientiere. Da nehme ich jede Sorge ernst, da nehme ich jede Frage ernst, da muss auch jede Frage beantwortet werden. Aber insgesamt muss die Aufgabe und kann die Aufgabe bewältigt werden in dem Dreiklang, bei uns die Asylverfahren schneller und klarer machen, effizienter machen, Außengrenzen schützen, eine faire Verteilung in Europa und dann die Fluchtursachen vor allen Dingen bekämpfen, und das wird uns noch sehr viel abverlangen, in allen Bereichen.
    Detjen: Haben Sie schon die Kritik beantwortet, die jetzt aus Bayern am stärksten von Horst Seehofer formuliert worden ist, der mit Blick auf Ihre Entscheidung, die Grenze zu Ungarn zu öffnen -am 4. September dieses Jahres - gesagt hat, das sei ein Fehler gewesen, der uns noch lange beschäftigen wird?
    Merkel: Ich glaube, wenn man sich die Entwicklung anschaut, dann sehen wir seit geraumer Zeit – erst über das Mittelmeer, jetzt über den Weg von der Türkei nach Griechenland –, dass wir eine immer ansteigende Zahl von Flüchtlingen haben. Ich sehe, was Bayern leistet und finde das auch wirklich herausragend. Ich muss auf der anderen Seite sagen: Ich glaube nicht, dass Zäune helfen – das ist müßig. Wir haben das in Ungarn gesehen, dort wurde mit viel Aufwand ein Zaun gebaut – die Flüchtlinge kommen trotzdem und suchen sich dann andere Wege. Mit Zäunen werden wir das Problem nicht lösen. Und deshalb glaube ich, dass wir es so lösen müssen, wie ich es skizziert habe: Die nationale Aufgabe annehmen, aber die Außengrenzen wesentlich besser schützen, in Europa eine faire Verteilung machen und sich um die Ursachen von Flucht kümmern. Und das heißt auch diplomatische Prozesse voranbringen, politische Verhandlungen voranbringen und wo notwendig – wie bei uns auch in der Bundesrepublik, durch die Unterstützung der Peschmerga im Irak – auch militärisch helfen.
    Detjen: Sie haben die jetzt Stichworte "Bayern", "Ungarn" angesprochen, an die man viele Fragen anknüpfen könnte. Lassen Sie mich noch mal zurückkommen auf Ihre Entscheidung vom 4. September. Damals bewegten sich die Flüchtlingsströme auf der Autobahn aus Ungarn nach Deutschland, Sie haben entschieden: Wir lassen die Menschen nach Deutschland kommen. Würden Sie die Entscheidung heute noch mal genauso treffen? Und haben Sie von Horst Seehofer eigentlich erfahren, wie er an Ihrer Stelle entschieden hätte?
    Merkel: Ich würde diese Entscheidung genauso treffen, das ist ja das, was jetzt zählt. Der österreichische Bundeskanzler hat mich angerufen. Die Menschen war auf der Autobahn unterwegs. Wir wussten im Übrigen, dass im August schon 70.000 Menschen über Ungarn nach Deutschland gekommen waren. Jetzt war die Situation zugespitzt, insbesondere nach der schrecklichen Erkenntnis, dass Flüchtlinge in einem LKW umgekommen waren. Sie waren dann über den Bahnhof in Ungarn gekommen und haben sich dann zu Fuß auf den Weg gemacht. Und so wie im August schon viele in Deutschland auch angekommen sind, so war für mich erkennbar, dass sie auf dem Weg sich eh sehr schwer aufhalten lassen und ehe man dort noch Gefahren eingegangen wäre – wir hatten dieses schreckliche Bild von dem toten Jungen auch in der Türkei alle gesehen und waren erschüttert –, haben wir diese Entscheidung so getroffen. Ich würde sie wieder so treffen.
    "Wir wollen genauso schnell sein, wie wir das auch im Zusammenhang mit der Finanzkrise waren"
    Detjen: Jetzt kreisen wir um eine Frage, die ich noch mal zuspitzen möchte: Haben Sie mit Horst Seehofer über diese denkwürdige Kritik gesprochen? Dass ein ...
    Merkel: Ja, wir ...
    Detjen: ... Koalitionspartner sagt: Die Kanzlerin trifft eine Entscheidung, die ein schwerer Fehler ist, das passiert nicht alle Tage und das kann man möglicherweise nur bedingt akzeptieren als Regierungschefin.
    Merkel: Schauen Sie, ja, wir haben natürlich darüber gesprochen. Wir sind Parteivorsitzende von CDU und CSU und wir haben in diesem Zusammenhang ja über viele Dinge gesprochen. Es gibt Dinge, da gibt es unterschiedliche Meinungen. Ich hatte diese Entscheidung als Bundeskanzlerin zu treffen. Mein Kollege aus Österreich hat mich angerufen, ich habe sie getroffen und halte sie nach wie vor für richtig.
    Detjen: Der Koalitionsvertrag, den Sie geschlossen haben, sieht vor, dass man, wenn es Dissense in der Koalition gibt, einen Koalitionsausschuss einberuft, auch bei wichtigen Themen – also eigentlich höchste Zeit dafür. Gibt es einen Termin schon?
    Merkel: Nein, wir haben ja danach schon einen Koalitionsausschuss gehabt, wo wir die ganze Gesetzgebung besprochen haben, die wir jetzt eingeleitet haben, um hier zu Hause flexibler zu werden, kreativer zu werden. Wir haben damit die Grundlagen für ein großes Gesetzgebungsvorhaben ja gelegt, dass jetzt auch mit den Ministerpräsidenten besprochen wurde. Der Bund übernimmt neue Verantwortlichkeiten für die Flüchtlingspolitik. Wir tragen die Risiken sowohl der Zahl der ankommenden Flüchtlinge, indem wir pro Flüchtling die Kosten, die durchschnittlichen Kosten übernehmen im Asylbewerberleistungsgesetz, als auch das Risiko der Dauer der Bearbeitung der Anträge. Was für die Länder ja immer eine sehr unberechenbare Größe war, weil das ja durch ein Bundesamt, durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gemacht wird. Wir haben die Prozeduren verbessert. Über all diese Dinge haben wir in der Koalition selbstverständlich gesprochen, mit den Ministerpräsidenten gesprochen, im Parlament wird das jetzt debattiert. Und wir haben uns gesagt: Wir wollen genauso schnell sein, wie wir das auch im Zusammenhang mit der Finanzkrise waren. Das heißt, die Gesetze werden bereits zum 01. November – so jedenfalls unser Ziel – in Kraft treten, damit dann vieles auch besser wird und vor allen Dingen die, die keine Bleibeperspektive haben, die nicht bei uns bleiben können, auch klarere Signale bekommen, dass sie das Land verlassen müssen und dass wir das auch in einem höheren Prozentsatz durchsetzen können. Denn das erwarten die Menschen von uns schon, dass wenn wir Schutz gerne denen geben, die Schutz brauchen, auch die, die diesen Schutz nicht brauchen, notwendig haben, dass die auch unser Land wirklich verlassen müssen.
    Detjen: Einer der Sätze, Frau Bundeskanzlerin, mit denen Sie den Kurs Ihrer Regierung vorgegeben haben, aber auch die Diskussion belebt haben, die wir im Augenblick führen, lautete: Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze und das gelte auch für Kriegsflüchtlinge aus der Kriegshölle von Syrien, haben Sie gesagt. Jetzt geht es bei den Gesetzen, die Sie angesprochen haben – und auch das haben Sie gesagt – auch darum, eine psychologische, eine abschreckende Wirkung zu entfalten. Aber das Grundrecht auf Asyl, und zwar auch für syrische Kriegsflüchtlinge bleibt weiter ohne Obergrenze bestehen. Dieser Satz gilt?
    Merkel: Na ja, im Augenblick haben wir sehr, sehr wenig Asylverfahren im klassischen Sinne, also politisches Asyl, das sind nur ein oder zwei Prozent. Die allermeisten Fälle fallen unter die Genfer Flüchtlingskonvention, also unter die ...
    Detjen: ... aber bekommen dann einen asylgleichen Status.
    Merkel: Ja, sie bekommen erst mal einen auf drei Jahre begrenzten Status. Da wird man dann im Übrigen auch noch mal schauen: Ist der Bürgerkrieg vielleicht in Syrien, wo ja sehr viele herkommen, auch überwunden. Aber im Grund bekommen sie erst mal einen ähnlichen Status. Und an dieser Gesetzgebung werden wir nichts ändern. Wir sagen auch nicht, ich würde auch gar nicht sagen "abschreckend", sondern es geht darum, dass wir Verfahren schnell durchführen können. Wenn jemand drei, vier Jahre – das hatte man ja auch bei dem Flüchtlingsmädchen Reem gesehen – in Deutschland ist und dann erfolgt der Bescheid: "Jetzt musst du zurück", dann ist das natürlich ungleich schwieriger, als wenn ich aus einer Erstaufnahmeeinrichtung – so jetzt unser Plan – für Flüchtlinge oder für Einreisende aus zum Beispiel sicheren Herkunftsstaaten gleich die Verfahren abarbeite und entscheide und damit dann auch die Rückführung nach Hause sofort erfolgen kann, dann ist das besser. Dann gibt es auch keine Signale in den Heimatländern, dass es eine große Chance gibt, hier eine Bleibeperspektive zu haben. Und deshalb haben wir ja auch gerade bei den Ländern des westlichen Balkans, die jetzt als sichere Herkunftsländer eingestuft wurden, gesagt: Wir wollen dann aber auch in einem bestimmten Maße, unter bestimmten Bedingungen, die Aufnahme von Arbeit, wenn man hier einen Arbeitsplatz hat, wenn man einen Ausbildungsplatz hat, ermöglichen, damit wir legale Einreise sozusagen präferieren und nicht diese zu 99 Prozent nicht genehmigten Anträge auf Asyl bearbeiten müssen.
    "Wir müssen dann an den Außengrenzen Hotspots bauen"
    Detjen: Sie haben, Frau Bundeskanzlerin, eben die Grenzen Ungarns angesprochen, das was dort geschieht: Zäune, Einsatz von Polizei mit Tränengas, haben sinngemäß gesagt: Das kann nicht die Lösung sein. Andererseits, Zäune gibt es an den Außengrenzen Europas seit langem – wenn wir an die spanischen Enklaven in Nordafrika denken, Bulgarien, Griechenland. Müssen wir uns nicht daran gewöhnen, dass das, was Viktor Orbán macht und wofür er gescholten wird, zukünftig viel mehr europäische Normalität sein wird?
    Merkel: Das möchte ich nicht. Und wenn Europa eine faire Lastenverteilung findet, wird es dazu auch nicht kommen. Ich mache da schon noch einen Unterschied zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und unseren Außengrenzen. Wir haben jetzt ja eine Situation, wo quasi zwischen der Türkei und Griechenland – immerhin zwei Mitgliedstaaten der NATO – eigentlich die Schmuggler scheinbar am meisten zu sagen haben auf den Gewässern zwischen Izmir und den griechischen Inseln – und das kann nicht richtig sein. Und deshalb bin ich sehr froh, dass der Kommissionspräsident – der Ratspräsident, Donald Tusk, war schon beim Präsidenten Erdoğan –, Jean-Claude Juncker, jetzt am Montag den türkischen Präsidenten empfangen wird, dass man einen Migrationsdialog beginnt. Deutschland wird einen solchen Migrationsdialog mit der Türkei führen. Ich selber habe mit Präsident Erdoğan gesprochen, mit dem türkischen Ministerpräsidenten mich in New York getroffen. Das heißt, das müssen wir intensivieren. Und ich bin mir da auch mit dem griechischen Ministerpräsidenten, Alexis Tsipras, sehr einig. Wir müssen dann an den Außengrenzen Hotspots bauen – wie wir das sagen –, also Einrichtungen, bei denen ankommende Flüchtlinge gleich daraufhin behandelt werden, ob sie eine Bleibeperspektive haben oder nicht. Und dann müssen wir – und das haben wir jetzt ja glücklicherweise wenigstens für 120.000 Flüchtlinge beschlossen – eine faire Verteilung innerhalb der Europäischen Union vornehmen. Weil es nicht sein kann, dass nur drei oder vier Länder die ganze Last und Aufgabe tragen der Flüchtlingspolitik.
    Detjen: Ich würde Sie gerne, wenn ich darf, auch wenn wir hier im Bundeskanzleramt, in ihrem Besprechungsraum sitzen, einmal als Parteivorsitzende ansprechen. Meine Kollegen und ich haben in den letzten Tagen viel mit Abgeordneten, mit Parteimitgliedern gesprochen, die aus den Ortsverbänden, aus der Basis berichtet haben. Und die meisten haben gesagt: "da brodelt es", "da gärt es", "Wir verstehen unsere Kanzlerin nicht mehr!" Das ist eine neue Erfahrung für die CDU. Spüren Sie da eine Entfremdung zur eigenen Partei oder von der eigenen Partei zu Ihnen?
    Merkel: Ich glaube, es gibt viele Fragen und viele Diskussionspunkte. Und dafür ist es ja dann auch wichtig, dass ich mit den Bundestagsabgeordneten spreche. Ich werde in den nächsten Wochen – das war schon lange geplant, ist jetzt gar nicht extra deshalb eingerichtet – lange geplante Zukunftskonferenzen durchführen, wo ich mit vielen Parteimitgliedern ins Gespräch kommen werden. Und natürlich, es ist im Grunde innerhalb von wenigen Wochen ein Thema auf die Tagesordnung gekommen, was vorher nicht so drängend da war. Es ist eine sehr besondere Situation in vielen Kommunen. Es stellen sich Fragen, weil das Menschen sind, von denen auch sehr viele bleiben werden. Wir hatten im vorigen Jahr um diese Zeit sehr viele Flüchtlinge aus den Staaten des westlichen Balkans; da war klar, da sind die Anerkennungsraten sehr gering. Jetzt haben wir Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien, aus dem Irak; da sind die Anerkennungsraten viel höher. Und da stellen sich viele Fragen, und ich bin auch ja dazu Parteivorsitzende, dass ich dann mit den Mitgliedern, aber auch mit anderen Bürgern ins Gespräch komme, als Bundeskanzlerin. Und ich habe für mich eine klare Haltung: Ich glaube, dass es keinen Sinn macht, sich darüber zu ärgern, dass wir jetzt dieses Problem haben oder zu sagen: Wo kommt das jetzt her und ich will dieses Problem wieder los werden, sondern dass wir es annehmen müssen, gestalten müssen und gleichzeitig dafür Sorge tragen müssen, dass Schwächen – und das ist zum Beispiel die Sicherung unserer Außengrenze – behoben werden. Das wird einen langen Atem brauchen, das wird auch nicht von einem Tag auf den anderen gehen. Das hängt von Gesprächen, das hängt von Vereinbarungen ab. Und wir werden auch mehr Geld in die Hand nehmen müssen, um die Lebenssituation der Flüchtlinge – zum Beispiel in der Türkei, zum Beispiel im Libanon, zum Beispiel in Jordanien – zu verbessern. Die Türkei hat bei fast der gleichen Größe wie Deutschland seit Jahren 2,1 Millionen syrische Flüchtlinge und noch irakische Flüchtlinge dazu; Jordanien hat Flüchtlinge, Libanon mit 5,4 Millionen Einwohnern über 1,5 Millionen Flüchtlinge. Und da ist einfach eine sehr bedrängte Situation und da müssen wir viel mehr helfen, als wir es bisher getan haben. Das wird die Regel oder das wird die Schlussfolgerung aus dieser Situation sein. Und darüber zu sprechen, ist normal, wenn ich nicht sagen will, meine Pflicht, und ich tue das auch gerne.
    "Mich jetzt wegzuducken und damit zu hadern, das ist nicht mein Angang"
    Detjen: Sie haben gerade "Haltung" angesprochen und diesen Begriff sehr stark betont. Ihre Partei hatte ja immer eine Haltung, wenn es um Fragen wie Zuwanderung, um Migration, um Integration geht, und das war, wenn man das mal so ganz grob zusammenschreibt, eine konservative Haltung. Woher kommen eigentlich Ihre ganz persönlichen Haltungen und Prägungen und welche Rolle spielen dabei christliche Prägungen? Ich erinnere mich daran, Sie haben vor einem Jahr mal in der Kirche, in der Sie konfirmiert wurden, in Templin, eine Rede gehalten, in der es auch um Flüchtlinge ging und um christliche Haltungen in diesem Thema.
    Merkel: Ja, das war zum Reformationstag. In der Tat, ich glaube, dass es in der CDU erst mal sehr verschiedene Wurzeln gibt: Es gibt die christlich-soziale Wurzel, es gibt die konservative, die liberale. Und es ist in der Tat so – und das finde ich auch gut –, dass die CDU mit dieser Frage sehr ringt, aber ich kenne niemanden, der jetzt nicht Menschen, die wirklich Schutz brauchen, auch Schutz gewähren möchte. Aber es stellen sich dann die Fragen der Integration, und da müssen wir ja auch ehrlich sein: Die Integration der Gastarbeiter, wie Sie am Anfang der 60er Jahre hießen, die war nicht so gut gelaufen, und da haben wir heute noch Etliches zu tun. Und als ich Bundeskanzlerin wurde, habe ich zum ersten Mal das Amt der Integrationsbeauftragen hier ins Kanzleramt geholt, weil ich gesagt habe: Das ist eine so wichtige und umfassende Aufgabe, habe dann auch die Gastarbeiter der ersten Stunde mal hier eingeladen, mit so viel Dankbarkeit, die hatten das noch nie erlebt, dass man auch mal auf sie zu kommt. Und ich plädiere dafür, dass wir unter den Bedingungen der Globalisierung uns in gewisser Weise öffnen müssen und auch verschiedene kulturelle Prägungen kennenlernen müssen. Das geschieht ja jeden Tag. Wir haben inzwischen Zuwanderungsregeln ja auch als CDU akzeptiert für viele Mangelberufe, wo wir selber Fachkräfte brauchen, und trotzdem ist das natürlich noch mal zu unterscheiden, jetzt von den Flüchtlingen, die vor Bürgerkrieg fliehen. Und dass man vor der Aufgabe auch ein Stück Respekt hat, sage ich mal, das verstehe ich. Ich gehöre nur zu denen, die sagen: Wenn so eine Aufgabe sich stellt und wenn es jetzt unsere Aufgabe ist – ich halte es mal mit Kardinal Marx, der gesagt hat: "Der Herrgott hat uns diese Aufgabe jetzt auf den Tisch gelegt" –, dann hat es keinen Sinn zu hadern, sondern dann muss ich anpacken und muss natürlich versuchen, auch faire Verteilung in Europa zu haben und Flüchtlingsursachen zu bekämpfen. Aber mich jetzt wegzuducken und damit zu hadern, das ist nicht mein Angang.
    Detjen: Vom Kardinal – am Ende dieses Gespräches – noch mal auf das Feld der Außenpolitik. Am Freitag, Ende letzter Woche, gab es noch mal ein Treffen im sogenannten "Normandie-Format" mit Putin, mit François Holland, mit dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko, wo es um die Lage in der Ukraine ging. Und eine Frage, die sich viele gestellt haben: Gibt es da einen Zusammenhang zwischen der Ukraine und Syrien? Sprich: Müssen Sie sich auf dem Territorium der Ukraine oder in der Frage der Sanktionen, die deswegen gegen Russland verhängt wurden, auf Putin, auf Russland zubewegen, um ihn als neuen Verbündeten in Syrien zu gewinnen und dort die Lage zu befrieden?
    Merkel: Nein, also diesen Zusammenhang sehe ich überhaupt nicht. Der einzige gemeinsame Nenner ist sozusagen, dass sowohl im Syrienkonflikt als auch im Ukrainekonflikt der russische Präsident, Wladimir Putin, eine Rolle spielt. Aber das Normandie-Format steht für sich. Und hier gibt es kleine Fortschritte: Der Waffenstillstand hält besser seit Anfang September und wir haben doch Einiges vereinbart. Ich möchte den Erfolg immer erst verkünden, wenn er eingetreten ist; auf dem Papier haben wir ganz gute Schritte vereinbart, aber jetzt müssen wir auch gucken, ob sich das umsetzen lässt und ob es umgesetzt wird, auch durch die Separatisten. Und der Syrienkonflikt ist ein anderes Thema, über das ich mit dem russischen Präsidenten natürlich im bilateralen Gespräch auch gesprochen habe – aber das Eine hat mit dem Anderen nichts zu tun.
    Merkel: Gespräche auch mit Assad nötig, um in Syrien zu einer Lösung zu kommen
    Detjen: Und Sie haben gesagt, mit Blick auf Syrien, man müsse auch mit Assad reden. Wie und in welcher Form kann das geschehen?
    Merkel: Mit Blick auf Syrien habe ich erst mal gesagt: Wir werden militärische Anstrengungen brauchen – aber militärische Anstrengungen werden die Lösung nicht bringen, wir brauchen einen politischen Prozess. Der ist noch nicht so gut in Gang gekommen. Wir hatten verschiedene Versuche von Genfer Konferenzen. An diesen Genfer Gesprächen haben immer auch die Vertreter von Assad teilgenommen. Der UN-Beauftragte de Mistura hat auch mit Assad selber gesprochen, wenn es um Vermittlungsbemühung ging. Davor war der UN-Vermittler Kofi Annan, der hat das auch getan. Das heißt, das ist also keine besondere Neuigkeit. Das heißt ja nicht, dass man nicht sieht, welche schrecklichen Wirkungen – das was Assad gemacht hat und bis heute tut mit den Fassbomben auf die eigene Bevölkerung – da sind. Nur, um zu einer politischen Lösung zu kommen, brauche ich sowohl die Vertreter der syrischen Opposition als auch die Vertreter der jetzt im Augenblick in Damaskus Herrschenden und andere dazu, um wirklich Erfolge zu erzielen und dann vor allen Dingen auch die Verbündeten der jeweiligen Gruppen. Und ich hoffe, dass ein solcher Prozess jetzt in Gang kommt. Da können Russland und die Vereinigten Staaten von Amerika eine wichtige Rolle spielen, aber genauso Saudi-Arabien und Iran, aber auch Deutschland, Frankreich, Großbritannien – wir Europäer haben da auch unsere Verantwortung.
    Detjen: Letzte Frage, Frau Bundeskanzlerin, zu einem ganz anderen Thema. Wir haben es am Anfang erwähnt: Während dieses Gespräch im Deutschlandfunk ausgestrahlt wird, sitzen Sie schon im Flugzeug auf dem Weg nach Indien, zu deutsch-indischen Regierungsgesprächen. Da geht es dann mal – jedenfalls im Schwerpunkt – nicht um Kriege und internationale Krisen, sondern um ganz klassische Wirtschaftsbeziehungen. Wie sehr ist das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der deutschen Wirtschaft auf diesem Feld durch den Diesel-Betrug bei Volkswagen gefährdet?
    Merkel: Ja, das ist natürlich ein einschneidendes Ereignis, das nicht gut ist. Ich hoffe, dass VW jetzt schnell die notwendige Transparenz herstellt und die Dinge aufarbeitet. Ich glaube aber, dass die Reputation der deutschen Wirtschaft, das Vertrauen in die deutsche Wirtschaft damit nicht so erschüttert ist, dass wir nicht weiter als ein guter Wirtschaftsstandort gelten. Indien ist eines der Länder, neben China, das über eine Milliarde Einwohner hat – Klimaschutz, Umweltentwicklung, Menschenrechte natürlich, auch die Rechte der Frauen sind ein Thema. Die besonderen Beziehungen, die wir mit Indien haben, zeichnen sich dadurch aus, dass wir einfach enger zusammenarbeiten und dass wir das in Form der Regierungskonsultationen auch deutlich machen.
    Detjen: Dann, Frau Bundeskanzlerin, vielen Dank für dieses Gespräch und eine gute Reise.
    Merkel: Bitteschön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.