Christoph Heinemann: Bei dem Angriff von Terroristen auf eine Schule im Nordwesten Pakistans sind heute mindestens 120 Menschen getötet worden, vor allem Schülerinnen und Schüler. Diese Zahlen nannten Vertreter mehrerer Krankenhäuser in der Stadt Peschawar der Nachrichtenagentur AFP. Die Angreifer trugen Uniformen der Armee und verschafften sich so Zugang zu der vom Militär betriebenen Schule.
Am Telefon ist Christian Wagner, Pakistan-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Tag.
Am Telefon ist Christian Wagner, Pakistan-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Tag.
Christian Wagner: Guten Tag!
Heinemann: Herr Wagner, wir haben die Rechtfertigung, in riesengroßen Anführungszeichen gesetzt, der Taliban gehört. Aber trotzdem an Sie die Frage: Was bezwecken Attentäter, die Kinder und Lehrer töten?
Wagner: Ja, sie möchten vor allem natürlich damit ihre eigene Stärke unter Beweis stellen. Sie möchten gezielt auch die Armee treffen, gegen die sie seit mehreren Monaten in einem blutigen Feldzug liegt. Und sie treffen natürlich mit den Bildungseinrichtungen auch eine Vorstellung von Bildungsidealen, die natürlich nicht mit der Vorstellung der Taliban übereinstimmt, die natürlich immer wieder gegen westliche Bildungseinrichtungen vorgegangen sind.
Heinemann: Welche Ideale genau?
Wagner: Es betrifft natürlich vor allem die Bildung der Mädchen. Wir erinnern uns: Vor wenigen Tagen ist ja erst Malala mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Sie fiel ja auch damals einem Attentat der Taliban fast zum Opfer. Also es ist immer wieder ganz deutlich, dass die Taliban hier natürlich nichts mit dem westlichen Bildungssystem gemeinsam haben.
"Es sind sicherlich pakistanische Attentäter"
Heinemann: Herr Wagner, handelt es sich Ihren Erkenntnissen nach bei diesen und vergleichlichen Fällen von Anschlägen um pakistanische Attentäter, oder kommen die von auswärts?
Wagner: Nein, es sind sicherlich pakistanische Attentäter. Sie gehören zur Gruppe der pakistanischen Taliban. Sie haben zum Teil ihre Rückzugsgebiete vielleicht in Afghanistan, aber es ist der Teil der Taliban, der explizit sich gegen Pakistan richtet und der natürlich versucht, in Pakistan ein Taliban-Regime zu schaffen.
Heinemann: Wie aktiv sind diese extremistischen Taliban in Pakistan?
Wagner: Sie sind sehr aktiv. Sie sind in den letzten Monaten deutlich unter Druck gekommen und viele Beobachter haben eigentlich immer wieder mit einem solchen Anschlag gerechnet. Sie haben ihre Kampfhandlungen auf die anderen Stammesgebiete verlagert und bislang gab es keine großen Attacken auf pakistanische Provinzen. Das ist seit heute leider jetzt anders. Also wir sehen, dass der Kampf hier noch lange nicht entschieden ist.
"Gegenreaktion der pakistanischen Taliban gegen den militärischen Druck"
Heinemann: Sie sind unter Druck geraten, sagen Sie. Das heißt, die pakistanische Regierung reagiert durchaus?
Wagner: Ja. Pakistan hat mit seiner Militäroperation in Nord-Waziristan im Sommer natürlich ein wichtiges Zeichen gesetzt, auch mit Hinblick auf die Zusammenarbeit mit Afghanistan. Der pakistanische Armee-Oberbefehlshaber war die letzten Wochen in den USA und hat deutlich gemacht, dass diese Militäroperation gegen alle Taliban-Gruppen sich richtet. Von daher ist das hier natürlich auch eine Gegenreaktion der pakistanischen Taliban gegen den militärischen Druck.
Heinemann: Wie ist das Verhältnis zwischen den Radikalen und der Bevölkerung? Können sich radikale, extremistische Taliban im Land bewegen wie die Fische im Wasser?
Wagner: Das ist sicherlich schwierig. Sicherlich geht das in den Stammesregionen, es geht auch in den anliegenden Provinzen. Allerdings haben sie natürlich keine Unterstützung aufseiten der Bevölkerung. Die pakistanische Bevölkerung möchte vielleicht mehr Islam in ihrem Alltag haben, aber sie wendet sich ganz klar und sehr eindeutig gegen diese Form des Steinzeit-Islam, wie er von den Taliban gepredigt wird. In dem Sinne gibt es eigentlich auch aufseiten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Pakistan hier keine Unterstützung für diese Gruppierungen.
Heinemann: Inwiefern stecken die radikalen Taliban mit pakistanischen Geheimdiensten, etwa mit dem berüchtigten ISI unter einer Decke?
Wagner: Ja, das war lange Zeit ein großes Thema. Das waren vor allem afghanische Taliban-Gruppen. Die pakistanischen Taliban-Gruppen haben eigentlich immer sich gegen Armee und Sicherheitsdienst gewandt. Deshalb gab es hier eigentlich nie eine große Zusammenarbeit. Mittlerweile ist die pakistanische Armeeführung von ihrer bisherigen Politik abgerückt. Man geht mit dieser Militäroperation in Nord-Waziristan nun gegen alle Taliban-Gruppen vor. Aber die pakistanischen Taliban-Gruppen waren eigentlich schon immer Ziel von militärischen Aktionen.
"Sie berufen sich natürlich auf eine sehr eigenwillige Auslegung des Islam"
Heinemann: Herr Wagner, wir sprechen immer von radikal-islamischen oder islamistischen Attentätern, auch im Zusammenhang mit den IS-Kämpfern. Haben diese Leute irgendetwas mit dem Islam, mit dieser großen Religion zu tun?
Wagner: Ich glaube, sie berufen sich natürlich auf eine sehr eigenwillige Auslegung des Islam. Es gibt in Pakistan mittlerweile auch eine Reihe von Initiativen und es gibt natürlich auch einen sehr gemäßigten Islam. Gerade Pakistan hat hier eine lange Tradition. Aber wir haben in der Vergangenheit auch gesehen, dass natürlich die radikalen Gruppen auch gegen diese moderaten islamischen Strömungen in Pakistan vorgehen. Es werden immer wieder moderate Muslime getötet. Hier zeigt sich ganz deutlich, dass es doch auch eine sehr starke innerislamische Auseinandersetzung ist.
Heinemann: Wie und wo und warum werden normale Menschen in Pakistan, in dieser Region zur Terroristen?
Wagner: Es hat sehr viel sicherlich mit der ungenügenden sozioökonomischen Entwicklung zu tun, gerade in der Stammesregion, die ja seit der Unabhängigkeit eigentlich nur sehr indirekt vom pakistanischen Staat verwaltet wird. Es hat hier nie richtige wirtschaftliche Entwicklung gegeben, auch keine politische Entwicklung. Vor allem hat die pakistanische Armee und der Westen im Kampf gegen die sowjetische Besetzung in Afghanistan dort auch Mudschaheddin-Gruppen unterstützt und aus diesen Gruppierungen, später aus der Gründung der Taliban hat sich dieser Nährboden an Militanz entwickelt, der mittlerweile mit furchtbaren Konsequenzen für Pakistan einen Rückschlag auf die dortige Gesellschaft durchführt.
"Region auch in den nächsten Jahren weiterhin ein sehr großes Unruhepotenzial"
Wagner: Sie haben den Brückenschlag zu Afghanistan jetzt mehrfach schon bewerkstelligt. Sind Ereignisse wie dieses Blutbad jetzt in Peschawar Menetekel für die Sicherheitslage in Afghanistan, nach dem Abzug des größten Teils der internationalen Streitkräfte?
Wagner: Wir sehen ja auch in Afghanistan in den letzten Wochen eine Reihe von Anschlägen. Also es zeigt sich, dass natürlich wir vielleicht dort in zumindest einigen Landesteilen Afghanistans mit ähnlichen Entwicklungen rechnen könnten. Allerdings haben wir natürlich dort eine völlig andere Sicherheitslage, weil natürlich die internationalen Truppen oder Teile der internationalen Truppen auch weiterhin im Land sind. Auf der pakistanischen Seite zeigt sich, dass hier das Militär mit seiner militärischen Operation in Nord-Waziristan in den letzten Monaten vielleicht nicht so erfolgreich war. Es gibt auch keine unabhängige Berichterstattung über diesen Feldzug. Wir wissen nicht, wie viele Zivilisten dabei ums Leben gekommen sind, wie viele Taliban getötet wurden. Also es zeigt vielleicht schon ein wenig, dass diese Region auch in den nächsten Jahren weiterhin ein sehr großes Unruhepotenzial hat und dass wir natürlich leider immer wieder mit solchen Aktionen zu rechnen haben.
Heinemann: Christian Wagner, Pakistan-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Wagner: Auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.