Archiv

Angriff auf Universität in Delhi
"Traumatisierend für Studierende und Professoren"

Die Jawaharlal-Nehru-Universität in Neu Delhi sei ein Leuchtturm liberaler, intellektueller Kultur, sagte der Theaterwissenschaftler Peter Marx, im Dlf. Er war schon oft an der JNU vor Ort. Bei den Angriffen auf die Universität sei es gezielt darum gegangen, Terror zu verbreiten.

Peter Marx im Gespräch mit Lena Sterz |
Studenten in Neu-Dehli protestierten gegen den Angriff auf den Campus der Jawaharlal-Nehru-Universität, bei dem Studenten und Dozenten mit Eisenstangen, Knüppeln und Steinen attackiert und Autos und Mobiliar zerstört worden waren.
Proteste von Studenten gegen den Überfall einer Gruppe vermummter und bewaffneter Angreifer auf die indische Universität JNU (imago / Pacific Press Agency)
Lena Sterz: Wenn maskierte Männer das Studentenheim stürmen und mit Eisenstangen auf Studierende einprügeln, dann kann man nicht mehr von normalen Studentenprotesten sprechen, dann ist das ein Ausnahmezustand. Dieser Ausnahmezustand dauert jetzt allerdings schon ein paar Tage an. Deshalb sprechen wir heute hintergründig über die Situation in Indien, genauer gesagt an der Jawaharlal-Nehru-Universität, kurz JNU in Neu-Delhi. Dort wird seit Monaten protestiert, aber aktuell wird es schlimmer.
Peter Marx ist Professor für Theaterwissenschaften an der Universität zu Köln und hat durch eine Kooperation zwischen der Uni Köln und der JNU regelmäßig Kontakt mit Mitarbeitern und Studierenden in Delhi und war selbst schon oft vor Ort. Ich habe ihn gefragt, wie die Situation jetzt aktuell in Delhi ist.
Peter Marx: Die Situation ist tatsächlich auf eine Weise beunruhigend und traumatisierend für Studierende und Professoren, wie man sich das eigentlich kaum vorstellen kann. Seit Ende letzten Jahres, etwa seit Oktober, gibt es Proteste der Studierenden gegen eine zunehmende Verschärfung der Prüfungsregeln, Erhöhung der Studiengebühren, die alle Teil sind eines tiefen Konfliktes, der die JNU im Moment in Spannung setzt zwischen der Administration, die regierungsfreundlich ist, und der akademischen Kultur, für die die JNU steht: eine liberale, offene und tatsächlich auch hochgradig engagierte Form der Wissenschaft.
JNU ein "Signal des Aufbruchs der indischen Gesellschaft"
Sterz: Ja, die JNU in Delhi ist zwar keine besonders große Uni, aber sie gilt in einigen Bereichen als die beste in Südasien. Können Sie noch ein bisschen beschreiben? Sie waren ja mehrmals dort: Was macht die Uni sonst noch so besonders?
Marx: Die JNU ist tatsächlich ein Vorzeigeprojekt der indischen Regierung gewesen, mit dem Vorsatz, eine Postgraduate University, das heißt eine Universität ab dem Master-Level aufzubauen, die einen Schwerpunkt hat im Bereich der Kultur- und Sozialwissenschaften, aber auch im Bereich der technischen Wissenschaften. Und es ist tatsächlich eine Vorzeige-Universität, ein Leuchtturm innerhalb der indischen Universitätslandschaft. Aus dem ganzen Land bewerben sich die besten Studierenden auf die Studienplätze, und es ist programmatisch für diese Universität, dass sie sozusagen versucht, auch eine möglichst diverse Studierendenschaft zu versammeln. Insofern ist diese Universität tatsächlich mehr als eine reine Bildungsinstitution, sondern ich würde wirklich sagen, es ist ein Symptom oder es ist ein Signal des Aufbruchs der indischen Gesellschaft gewesen, die jetzt gerade dafür besonders attackiert wird.
Studentinnen und Studenten halten Banner während der Proteste hoch
Indien: Proteste nach Angriff auf Elite-Uni
Nach gewalttätigen Auseinandersetzungen auf dem Universitätscampus in Delhi ist es landesweit zu studentischen Protesten gekommen.
Sterz: Sie haben gesagt, diese Universität, die JNU, hat eine sehr diverse Studierendenschaft, was bedeutet das in Indien?
Marx: Das bedeutet in Indien, dass man sowohl die verschiedenen Regionen berücksichtigt als auch die verschiedenen Religionszugehörigkeiten, aber auch die verschiedenen sozialen Hintergründe. Das indische Kastenwesen ist zwar offiziell abgeschafft, aber wirkt sich in der Realität, in der sozialen Realität nach wie vor sehr aus, und die Zulassungsregeln der JNU berücksichtigen in besonderer Weise Studierende, die hier mit einem Benachteiligungshintergrund sich bewerben.
"Utopisches Ideal einer Universität"
Sterz: Das können dann also besonders Studierende aus niedrigeren Kasten sein, aus schwierigen sozialen und finanziellen Verhältnissen, das Ganze passt dazu, dass die Universität auch eher als liberal oder links gilt. Kann man sagen, dass diese Universität schon lange ein Hort des Widerstandes war und deswegen auch jetzt besonders von Protesten erschüttert wird?
Marx: Das ist etwas, was sich schon in der ersten Legislaturperiode der Modi-Regierung gezeigt hat, wobei ich weniger von einem Hort des Widerstands, sondern tatsächlich einer Verpflichtung für eine Idee von Freiheitlichkeit und Toleranz sprechen würde. Und vielleicht muss man auch den Hintergrund noch mal sich klarmachen: Dadurch, dass diese Studierendenschaft so divers ist, und dadurch, dass sie aus dem ganzen Land kommt, ist eine der Besonderheiten, dass ein Großteil der Studierenden und der Fakultät tatsächlich auf dem Campus lebt. Der Campus ist ein sehr großes Areal, ein wunderschönes grünes Areal, wo teilweise so viel unberührte Natur ist, dass es etwa auch Rehe und andere Wildtiere dort gibt. Und es ist eine Besonderheit, dass inmitten dieser Millionenstadt sozusagen dieses utopische Ideal einer Universität existiert, wo Studierende und Professorinnen und Professoren gemeinsam leben, aber gerade deswegen ist ihre Sicherheit natürlich so wichtig. Und sie dort anzugreifen, heißt nicht einfach nur, eine Ausbildungsinstitution anzugreifen, sondern die Menschen in ihrem privatesten Bereich zu treffen. Die Presseberichte, die man lesen kann aus verschiedenen Quellen, berichten übereinstimmend, dass etwa Studentenwohnheime gestürmt wurden, das heißt, es ging gezielt darum, Terror zu verbreiten und den Leuten jegliche Rückzugsmöglichkeit zu nehmen.
"Große Teile des Sicherheitspersonals ausgetauscht"
Sterz: Ja, Sie haben mir auch vorher erzählt, dass sich das in den vergangenen Monaten schon so ein bisschen angedeutet hat, dass es immer wieder kleine Veränderungen gab, die Sie im September schon bemerkt haben, als Sie das letzte Mal dort waren. Was sind das für kleine Veränderungen?
Marx: Seit Jahren verändert diese Administration, die Universitätsleitung, die Spielregeln. Es werden Gremien der Mitbestimmung abgeschafft, es werden Prüfungsvoraussetzungen abgeschafft, plötzlich gibt es eine Veränderung von Fristen, sodass Studierende plötzlich von der Exmatrikulation betroffen sind. Eines der Signale, was im September schwer einzuordnen war, war der Umstand, dass offensichtlich große Teile des Sicherheitspersonals ausgetauscht wurden. Und da reden wir über Menschen, die über Jahre, teilweise Jahrzehnte mit den Studierenden auf dem Campus gelebt haben und die plötzlich durch externe Kräfte ersetzt wurden. Es ist schwer, nicht zu vermuten, dass das einen Zusammenhang hat mit den Angriffen, die wir jetzt gesehen haben.
Sterz: Welche Bedeutung hat dieses Sicherheitspersonal für die Studierenden vor Ort?
Marx: In einer Stadt wie Delhi, die durchaus auch Verbrechen, Kriminalität und auch Gewalt kennt, gerade auch Gewalt gegen Frauen, ist die Sicherheit eines Raumes, in dem studierende Männer oder Frauen, egal welcher Religion, egal welcher regionalen Zugehörigkeit, sich frei bewegen können, tatsächlich einen Sicherheitsraum haben, ein Privileg und ein Luxus, den die JNU in den Jahren, in denen ich sie jetzt besucht habe, immer sehr stark ausgestrahlt hat und auch genutzt hat – genutzt hat für eine intellektuelle Atmosphäre, die ungeheuer anregend und inspirierend ist. Diese Voraussetzungen zu verändern, hier Unsicherheit zu säen, hier Terror zu stiften, bedeutet tatsächlich die Axt an die Wurzel dieser Universität zu legen.
"Klima der Angst" macht sich in Delhi breit
Sterz: Was befürchten Sie, wie sich die Situation noch verändern könnte in Zukunft – an der Uni und vielleicht auch in ganz Indien?
Marx: Das, was wir gleich nach dem Wahlsieg von Modi im letzten Jahr sehen, ist eine Zunahme der nationalistischen Bestrebungen. Das vollzieht sich im legislativen Bereich auf Feldern, die man zunächst mal gar nicht damit in Verbindung bringt, wie etwa dem Staatsbürgerschaftsrecht, was sehr gezielt darauf angelegt ist, dass Menschen, die möglicherweise nicht die notwendigen Dokumente vorlegen können, ihre Staatsbürgerschaft verlieren. Man sieht das in Feldern wie Kaschmir, wo die indische Regierung sehr gezielt den Konflikt mit Pakistan weiter anheizt, gar nicht so sehr vielleicht, um den Konflikt mit Pakistan auszuagieren, sondern um eine antimuslimische Stimmung zu stiften. Die Gefahr, die ich sehe, ist, dass wenn Institutionen wie die JNU – und sie ist nur die Spitze eines Eisberges von Universitäten, die im Moment unter großem Druck stehen –, dass wenn diese Institutionen verloren gehen, wenn diese Institutionen nicht mehr das machen können, was sie stark und groß macht, nämlich Leuchttürme liberaler, intellektueller Kultur zu sein, dann wird die Frage sein, was sind die Langzeitfolgen für die indische Gesellschaft und wer wird sich noch verpflichtet fühlen einem Ideal von Demokratie, von Teilhabe und von Gleichberechtigung. Man könnte das auch sozusagen sehr einfach noch mal auf uns zurückspiegeln: Mit wem sprechen wir dann eigentlich noch? Und das ist etwas, was wirklich großer Grund zur Sorge ist.
Sterz: Seitdem die hindu-nationalistische Partei von Modi an der Macht ist, haben sich ja nach und nach auch die Probleme für muslimische Menschen in Indien zugespitzt, kann man sagen, manche sehen da schon eine Parallele zum frühen Nazideutschland. Würden Sie sagen, da kann man Ähnliches in die Richtung sehen im aktuellen Indien?
Marx: Ich war sehr erschrocken, als ich jetzt im September in Delhi war, wie stark ein Klima der Angst sich breit macht, wie sehr staatliche Stellen zunehmend auch zu offenen repressiven Maßnahmen greifen. Da geht es gar nicht darum, ob man jemanden anklagt und für lange Zeit ins Gefängnis steckt. Aber schon jemanden zu verhaften – bis zu drei Tage dürfen Leute in Haft gehalten werden ohne Anklage –, das Haus zu durchsuchen, Bücher, Computer, Festplatten zu beschlagnahmen, all das erzeugt ein Klima der Angst und der Einschüchterung, und das ist gewollt. Und das ist der Anfang des Versuchs, ein totalitäres System zu stiften, in dem sozusagen Konformität mit der staatlichen Ideologie, die immer aggressiver postuliert wird, gewissermaßen zu erzwingen. Ich glaube wirklich, dass hier eine Gesellschaft an einem Kipppunkt steht und dass wir auch von außen sehr genau beobachten müssen und uns angesprochen fühlen müssen, welche Kräfte, welche Dialoge wir versuchen aufrechtzuerhalten. Da geht es nicht um unmittelbare politische Einflussnahme, das ist nicht unser Geschäft, aber dass man die Gesprächsfäden nicht abreißen lässt und dass man sicherstellt, dass auch in zehn Jahren noch Institutionen sind, mit denen man Gespräche führen kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.