Frieser betonte, jede Pflegefamilie wisse, dass sie eine hohe Verantwortung trage und ein ganz waches Auge haben müsse - aber letztlich einen Angriff wie jenen von Würzburg nicht verhindern könne. Sollte man aber Anzeichen beobachten, müsse man sich als Familie dann anderweitig Hilfe holen. Beim Attentäter von Würzburg habe die Zuwendung der Gesellschaft am Ende aber trotzdem nicht ausgereicht, um den jungen Mann aus der Radikalisierung herauszuholen.
Grundsätzlich könne man in einer freien Gesellschaft eine solche Kombination aus Radikalisierung und Amoklauf auch nie vollständig unterbinden. Es helfe allerdings, wenn man genau wisse, wer sich in Deutschland befinde, und das beginne an der Grenze. Im Augenblick arbeite man noch die vielen Fälle ab, die aus der Phase des vergangenen Jahres ohne rechte Registrierung stammten.
Der CSU-Politiker stellte zur Debatte, ob die Jugendämter die richtige Variante seien, um die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge zu betreuen. Früher seien sie hier nur für Einzelfälle zuständig gewesen, jetzt seien es auf einmal Tausende Fälle.
Das Interview in voller Länge:
Ann-Kathrin Büüsker: Seit gestern ermittelt die Generalbundesanwaltschaft im Fall Würzburg, im Fall des jungen Afghanen, der am Montag vier Menschen in einem Zug verletzt hat. Zwei davon schweben noch immer in Lebensgefahr. Der 17-jährige Täter war seit Juni letzten Jahres in Deutschland und hatte eigentlich eine ganz gute Perspektive. Seit zwei Wochen war er in einer Pflegefamilie. Simone Barientos, eine ehrenamtliche Flüchtlingshelferin, beschreibt ihn:
"Er war sympathisch, er war freundlich, er war entspannt, ja, nichts, was irgendwie stutzig gemacht hätte."
Büüsker: Im Zuge dieser Tat wird der Ruf nach schärferen Sicherheitsmaßnahmen lauter, insbesondere aus Bayern. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann hat gestern noch einmal ein strengeres Vorgehen bei den Grenzkontrollen gefordert. - Über all das möchte ich nun sprechen mit Michael Frieser, Bundestagsabgeordneter der CSU und innenpolitischer Sprecher der bayerischen Landesgruppe. Guten Morgen, Herr Frieser!
Michael Frieser: Einen wunderschönen guten Morgen.
Büüsker: Herr Frieser, wie lassen sich solche Taten wie die von Würzburg verhindern?
Frieser: Sie werden am Ende in einer freien Gesellschaft nie in der Lage sein, solche Kombinationen aus Radikalisierung und Amoklauf ganz zu unterbinden. Dafür müssten wir alle Menschen, bei denen wir uns wirklich nicht hundertprozentig sicher sind, wozu sie neigen, überwachen. Das kann eine freie Gesellschaft gar nicht. Wir werden also auch mit einem Teil von einer Gesellschaft leben müssen. Aber wir müssen bestimmte Vorkehrungen treffen und das heißt natürlich schon sich klar werden über eine Reihe von Dingen. Sie haben es gerade angesprochen: Da gehört natürlich schon die Tatsache dazu, dass wir überhaupt erst mal wissen, wer sich auf deutschem Boden befindet, und das können wir eben nur an der Grenze feststellen.
"Wir können so was nicht ganz verhindern"
Büüsker: Aber bei diesem jungen Mann, da wussten wir ja, wer er war. Das hat auch nicht geholfen.
Frieser: Na ja, ganz ehrlich: Ich möchte mich hier nicht in Spekulationen ergehen. Aber wir hören jetzt, so ganz genau ist vielleicht seine Herkunft auch nicht klar, aus welchem Gebiet stammt er nun. Sie wissen auch, dass zig Tausende von keine falschen, sondern tatsächlich erbeuteten Pässen auf der Welt im Umlauf sind. Ich will auch hier tatsächlich wirklich nicht spekulieren. Wir können so was nicht ganz verhindern. Wir können nur versuchen, möglichst viel über diejenigen zu erfahren, die tatsächlich unser Land betreten und sich hier aufhalten. Auch das ist kein hundertprozentiger Schutz.
Büüsker: Aber wieso ist es denn nicht möglich, bei den zahlreichen Menschen, die wir jetzt schon hier haben als Flüchtlinge, zu wissen, wer das ist?
Frieser: Na ja. Sie sehen, wir arbeiten immer noch an einer ganzen Reihe von zu uns kommenden aus der Phase, in der wir keine richtige Registrierung hatten, das heißt die Phase, in der wir das Schengener Abkommen mit dem Dublin-Verfahren ausgesetzt hatten. Und in dieser Phase, müssen wir im Augenblick sagen, wissen wir noch nicht hundertprozentig, worum es geht. Aber schauen Sie: Es kommt letztendlich wirklich darauf an. Sie haben keine Möglichkeit eines Zuganges zu einem solchen jungen Mann, der ja von allen Seiten gerade noch beschrieben wurde als eigentlich freundlich, als eigentlich zugänglich und sogar am Beginn einer sehr vielversprechenden Integration, und trotzdem hat diese Zuwendung, diese Anteilnahme, die wir den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zukommen lassen, in diesem Fall nicht gereicht, ihn herauszuholen aus diesem Radikalisierungsprozess. Ich glaube, da müssen wir schon noch andere Maßnahmen einleiten.
Büüsker: Der junge Mann, der war jetzt ja seit zwei Wochen in einer Pflegefamilie. Das heißt aber auch, dass er über Monate hinweg, seit Juni war er hier, offensichtlich in größeren Unterkünften untergebracht war, vielleicht auch keine direkten Bezugspersonen hatte. Hat man da zu spät ihn in eine Pflegefamilie geschickt?
Frieser: Um Gottes willen! Das ist eine Ferndiagnose an dieser Stelle. Glauben Sie mir: Ob das einige Wochen früher oder einige Wochen später ist, ist das wirklich die Frage? Die Radikalisierung passiert doch nicht wegen einer Familie oder aus anderen Gründen, sondern sie passiert doch bei der Frage, bestimmte Dinge werden zum Beispiel in erster Linie über das Internet zugegangen. In erster Linie wird man hier anfangen, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass bei unseren Standards, die wir, was die Betreuung anbetrifft, die Zuständigkeit eines Jugendamtes - es wird behandelt wie jeder andere Fall eines Minderjährigen in diesem Lande auch -, dass es dort wirklich an der Betreuung mangelt. Und ich kann hier nun wirklich auch nicht sagen, dass es hier um die Frage der Pflegefamilie geht. Nein, das würde ich mir nicht erlauben zu sagen, hier hat man in irgendeiner Art und Weise zu spät auf sein soziales Umfeld geachtet.
Jugendliche schneller bei Aus- und Weiterbildung unterstützen
Büüsker: Sie betonen, wie wichtig die Betreuung der Jugendlichen ist. Wie kommt es dann, dass der bayerische Finanzminister Söder vor einiger Zeit gefordert hat, junge Flüchtlinge von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe auszuschließen?
Frieser: Er hat nicht gesagt auszuschließen, sondern Sie müssen sich schon mal die Frage stellen. Bisher ist es so, dass Jugendämter für Einzelfälle in ganz Deutschland zuständig waren und plötzlich mit einer Wanderungshaltung aus dem letzten Jahr von immerhin 1,2 Millionen Menschen sind sie für Tausende von Fällen zuständig. Da muss man sich die Frage stellen, ob das die richtige Variante ist, ob da die richtige Form der Betreuung, die richtige Form der Zuwendung und letztendlich natürlich auch die richtige Form der Finanzierung gegeben ist.
Ich will ein Beispiel nehmen. Es ist so, dass wir im Augenblick bei diesen Standards, die dort abzulaufen haben bei der Frage der Betreuung, zu wissen, wo jemand ist, und und und, dass wir in dieser Frage schon manchmal uns deutlich etwas gegenseitig im Weg herumstehen. Es wäre manchmal vielleicht sogar besser, die relativ schnell in ein gesichertes Umfeld der Ausbildung und der Weiterbildung zu geben als in der Frage quasi der Betreuung. Insofern muss ich schon auch sagen: Ja, das ist natürlich letztendlich auch ein wirtschaftliches Problem. Aber war es das hier tatsächlich? Es war doch hier kein wirtschaftliches Problem, sondern es war hier ein Weg in die Radikalisierung. Ich glaube, da sollte man ansetzen.
Jungen Menschen mehr Orientierung geben
Büüsker: Die jungen, unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, die haben zum Teil Schlimmes erlebt. Die haben die Flucht teilweise alleine verbracht, sind schwer traumatisiert. Das berichten auch Mediziner immer wieder, die mit diesen unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen zu tun haben. Und dann sehen diese jungen Menschen hier in Deutschland Menschen mit Transparenten, wo "Flüchtlinge raus" oder Schlimmeres draufsteht. Wie sehr sorgt diese Antistimmung in Teilen der Gesellschaft hier vielleicht auch dafür, dass die Menschen hier gar nicht ankommen können?
Frieser: Da meine ich wirklich, dass es nicht an der Stimmung liegt. Nach wie vor muss man sagen, das was ich an Kontakten habe in Unterkünften einerseits, in diejenigen Kreise, die Flüchtlinge betreuen, auch die Gespräche, die ich selber führe, ich habe nicht das Gefühl, dass die Menschen hier etwas spüren, was eine wirkliche Antistimmung heißt. Wir müssen uns als Gesellschaft darüber sorgen, dass es tatsächlich Ausfälle gibt dieser Gesellschaft, indem sie sich daneben benehmen. Das ist eine andere Frage. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das das Hauptgefühl ist. Ich glaube eher, dass es wirklich die Tatsache ist, wenn hier jemand ankommt mit einer großen Geschichte, herausgerissen, entwurzelt aus seinem eigenen Umfeld, um dann zu sagen, jetzt schaue ich mich nach bestimmten Dingen um, das ist ja in einem vor allem prägenden Alter ganz besonders entscheidend, keine Frage. Dort sind die negativen Einwirkungen besonders groß und dort sind die positiven besonders groß. Und leider ist es tatsächlich wahrscheinlich so, dass die positiven in diesem Fall etwas zu wenig sind, und da gehört schon dazu, dass man Menschen auch eine gewisse Form von Orientierung gibt.
Vom Einzelfall nicht verschrecken lassen
Büüsker: Die ganze Diskussion, die könnte jetzt ja potenzielle Pflegefamilien verschrecken. Dabei sind die Pflegefamilien unglaublich wichtig. Wie verhindert man das jetzt, verschreckt zu werden?
Frieser: Noch mal: Ich glaube, jeder der sich als Pflegefamilie zur Verfügung stellt, weiß natürlich, dass er eine sehr, sehr hohe Verantwortung hat, weiß, dass er immer auch ein ganz waches Auge haben muss, achtsam sein muss auf diese Form von Entwicklung, und trotzdem können Sie es nicht verhindern. Wenn wir uns darauf einstellen müssten, dann dürften wir im Grunde tatsächlich niemanden in ein neues soziales Umfeld geben. Gerade das ist es aber ja, was uns im Augenblick als Gesellschaft ausmacht und was auch wirklich der einzige Erfolg versprechende Weg ist. Ich kann nur bitten, dass die Menschen sich von so einem Einzelfall, was es ja tatsächlich immer noch ist, von so einem Einzelfall nicht verschrecken lassen und dass sie sich trotzdem natürlich dazu bereit erklären, die Menschen zu betreuen. Aber ich glaube, noch einmal ganz wichtig ist, dass man, wenn eine Familie so etwas mitkriegt, dass sie auch tatsächlich versucht, anderweitig Hilfe zu holen, dass sie tatsächlich auch merkt, wir müssen etwas tun, um diesen Kampf, der ja nicht auf der Straße, nicht in der Pflegefamilie, nicht in der Aufnahmeeinrichtung geführt wird, sondern der im Internet geführt wird, diesen Kampf müssen wir versuchen, zur Deradikalisierung beizutragen, jungen Menschen, die da anscheinend verwirrt sind in so einer Phase, keine Antworten auf die existenziellen Fragen kriegen, dass wir dem was entgegenstellen. Deradikalisierung scheint mir vor allem bei dem Kampf, der im Augenblick ideologisch in diesem Internet tobt, dass wir dort wirklich mit eingreifen.
Büüsker: … sagt Michael Frieser. Er sitzt für die CSU im Bundestag und ist innenpolitischer Sprecher der bayerischen Landesgruppe. Herr Frieser, vielen Dank für das Gespräch heute Morgen hier im Deutschlandfunk.
Frieser: Danke Ihnen auch. Einen schönen Tag.
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