Die Grünen-Politikerin Roth warf dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vor, den Friedensprozess mit den Kurden zu gefährden. Durch die Bombardements werde die PKK mit der Terrormiliz IS gleichgesetzt, sagte Roth im DLF. Erdogan spalte und polarisiere, statt den Frieden voranzubringen. Ihm gehe es darum, eine kurdische Selbstverwaltung in Syrien oder dem Irak zu verhindern, statt den IS zu bekämpfen.
Roth betonte, eine echte Kehrtwende in der Politik gegenüber dem IS sei erst festzustellen, wenn Ankara die Unterstützung des IS aufgebe. Es gebe eine wohlwollende Duldung und Unterstützung des IS, weil dieser gegen den Hauptfeind der Türkei, den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, kämpfe. Unter anderem rekrutiere der IS Nachschub über die Türkei und wickle dort Ölverkäufe ab.
Das Interview in voller Länge:
Jürgen Zurheide: Das alles wollen wir wägen und wollen vor allen Dingen fragen, was passiert da eigentlich wirklich, was sind die Hintergründe? Darüber wollen wir reden mit Claudia Roth von den Grünen, die ich herzlich am Telefon begrüße. Guten Morgen, Frau Roth!
Claudia Roth: Schönen guten Morgen, Herr Zurheide!
"Das ist alles sehr, sehr, sehr gefährlich"
Zurheide: Frau Roth, Frau von der Leyen, die Verteidigungsministerin lobt die Türkei so unter der Überschrift, es sei gut, dass sich jetzt alle Staaten der Region gegen den IS-Terror engagieren und das über Religionsgrenzen hinweg täten. Stimmen Sie ein in dieses Lob?
Roth: Nein, so kann ich das nicht sehen. Es gab eine Reaktion und gibt offensichtlich eine Reaktion der Türkei auf die dramatischen Entwicklungen der vergangenen Woche auf diesen schrecklichen Anschlag in Suruc mit 32 Toten, mit vielen, vielen Verletzten in dem Kulturzentrum, das ich übrigens auch vor ein paar Monaten besucht habe, es sind Polizisten getötet worden von der PKK, was absolut zu kritisieren ist, es gibt tote Soldaten.
Ja, und jetzt passieren Luftangriffe, Kampfjets bombardieren Stellungen in Syrien, Elitesoldaten marschieren an der Grenze zu Syrien auf, und heute Nacht eben die Meldung, dass auch zum ersten Mal seit ganz, ganz langer Zeit der Nordirak angegriffen wird, dort Stellungen oder Ausbildungslager der PKK.
Das ist alles sehr, sehr, sehr gefährlich, und ich glaube, dass eine echte Kehrtwende erst dann festzustellen ist, wenn es tatsächlich ein Ende der türkischen Unterstützung für den Islamischen Staat und für den Terror in Syrien gibt, denn sehr, sehr lange gibt es praktisch eine wohlwollende Duldung und sogar Unterstützung des Islamischen Staats in der Türkei, weil der Islamische Staat gegen den Hauptfeind Erdogans, gegen Assad kämpft.
Wie sieht diese Unterstützung aus oder wie sah sie aus – die Türkei war seit Langem eine Art logistischer Rückzugsraum, ein Sammlungsbecken für dschihadistische, islamistische Kämpfer, Nachschub wurde von dort organisiert, Ölverkäufe sind dort passiert. Das heißt, der Islamische Staat hat auch finanzielle Mittel dort erworben, die Krankenhäuser waren offen – ja, für Verletzte ist das richtig, aber warum dann bekannte Kämpfer des Islamischen Staats ungehindert wieder zurückkehren können nach Syrien, ist nicht nachvollziehbar.
Und es gibt nach wie vor eine offizielle Unterstützung von der Türkei zusammen mit Saudi-Arabien für die al-Nusra-Front – die al-Nusra-Front hat dieselbe dschihadistische Ideologie wie der Islamische Staat. All das wäre eine Kehrtwende tatsächlich der bisherigen Politik.
So, und jetzt kommt aber etwas dazu, was die Sache noch gefährlicher und dramatischer macht, nämlich, das Razzien sich nicht nur gegen den Islamischen Staat und deren Anhänger in der Türkei richten, sondern dass es eine Gleichsetzung von Erdogan gibt, von PKK und dem Islamischen Staat. Es ist die PKK wirklich aufgerufen, das Ende der Gewalt definitiv einzuhalten, aber die Gleichsetzung kriminalisiert die Kurden, spaltet, polarisiert, statt den Friedensprozess voranzutreiben, und das ist wirklich brutal gefährlich.
Zurheide: Um es noch mal auf den Punkt zu bringen, Sie haben die Sorge – und das höre ich aus Ihren Worten gerade heraus –, dass Herr Erdogan gerade die Attacken gegen den IS eigentlich nur nutzt, um weiter und hart gegen die Kurden vorzugehen, das ist Ihre Sorge heute Morgen.
Roth: Das ist die Sorge von vielen in der Türkei. Ich glaube schon, dass es in der Türkei angekommen ist und dass es auch eine beginnende Wahrnehmung ist, dass der Islamische Staat und die Unterstützung dort auch sein kann, die Geister, die sie riefen, bekommen sie nicht mehr los, denn in der Türkei gibt es Tausende von Anhängern des Islamischen Staates und das macht die Türkei ja nicht sicherer.
Aber es gibt schon lange den Eindruck, dass es Herrn Erdogan eher darum ging, als Hauptmotiv, eine kurdische Selbstverwaltung beispielsweise in Syrien zu verhindern oder auch im Nordirak, anstatt den Islamischen Staat wirklich zu bekämpfen.
Aber es gibt schon lange den Eindruck, dass es Herrn Erdogan eher darum ging, als Hauptmotiv, eine kurdische Selbstverwaltung beispielsweise in Syrien zu verhindern oder auch im Nordirak, anstatt den Islamischen Staat wirklich zu bekämpfen.
Und das dritte Motiv, was auch noch eine Rolle spielen kann – ich rede tatsächlich im Konjunktiv, weil es so schwierig einzuschätzen ist –, es ist in der Türkei im Moment oder seit Wochen eine sehr, sehr schwierige Regierungsbildung, die ansteht. Und die militärische Offensive, die Razzia und die Razzien auch gegen Kurden, könnte auch ein innenpolitisches Motiv sein zur Vorbereitung der Neuwahlen, also brisant.
"Erdogan bekämpft offensichtlich die kurdische Friedensperspektive"
Zurheide: Das heißt, der ganze Annäherungsprozess, den wir in der jüngeren Vergangenheit gesehen haben oder glaubten zu sehen, die Annäherung zwischen den kurdischen Vertretern und der Türkei – Sie sagen heute Morgen, das ist gefährdet?
Roth: Ja, ich glaube er ist wirklich gefährdet, indem man den Islamischen Staat, diese islamistische Terrororganisation, die mit entgrenzter Gewalt hunderte, Tausende von Menschen ermordet – wir erleben es ja in Syrien, zunehmend im Irak –, gleichsetzt mit der PKK, die – ich sage es noch einmal, ich finde es überhaupt nicht zu akzeptieren, dass Polizisten ermordet werden, dass Gewalt angewendet wird, aber seit Jahren läuft ein Friedensprozess, seit Jahren wird verhandelt, und es wäre ein so wichtiges Signal für die Türkei und für die ganze Region, wenn diese Aussöhnung vonstattengehen würde.
Möglicherweise spielt eben tatsächlich eine Rolle, dass die HDP – das ist die Partei, die bei den letzten Wahlen über 13 Prozent bekommen hat, die sehr stark aus einer kurdischen Ecke kommt, mit einem sehr beeindruckenden Vorsitzenden, Herrn Demirtas, wahrscheinlich ist das auch ein Dorn im Auge für Herrn Erdogan –, und er bekämpft also ganz offensichtlich auch die kurdische Friedensperspektive, und das macht die ganze Region nicht sicherer, sondern noch unsicherer.
Möglicherweise spielt eben tatsächlich eine Rolle, dass die HDP – das ist die Partei, die bei den letzten Wahlen über 13 Prozent bekommen hat, die sehr stark aus einer kurdischen Ecke kommt, mit einem sehr beeindruckenden Vorsitzenden, Herrn Demirtas, wahrscheinlich ist das auch ein Dorn im Auge für Herrn Erdogan –, und er bekämpft also ganz offensichtlich auch die kurdische Friedensperspektive, und das macht die ganze Region nicht sicherer, sondern noch unsicherer.
Zurheide: Eine letzte Frage: Wie sehen Sie die Problematik Bündnisfall NATO? Kann das im Moment drohen, und vor allen Dingen haben wir ja jetzt, wie wir von Ihnen hören, möglicherweise zwei Fronten, einmal Richtung PKK, aber auch Richtung IS – was droht uns da?
Roth: Ja, da möchte ich wirklich eine sehr besonnene Reaktion auch von unserer Verteidigungsministerin, von der deutschen Politik, von der NATO, dass Incirlik bereitgestellt wird – das ist ein Stützpunkt in der Türkei für die US-Kräfte, das finde ich nachvollziehbar, das verstehe ich auch, dass der Druck der Amerikaner, der sehr groß war ...
"Es braucht eine Reaktion vonseiten der NATO"
Zurheide: Das unterstützen Sie oder Sie haben nichts dagegen?
Roth: Ich kann es als Reaktion verstehen auf die Angriffe und ich kann es auch verstehen, dass die USA als NATO-Partner das macht und sagt, ihr müsst diesen Stützpunkt uns zur Verfügung stellen, aber diese militärische Eskalation an der syrischen Grenze und jetzt eben auch der Angriff im Nordirak, finde ich, braucht auch eine Reaktion vonseiten der NATO.
Übrigens sind die deutschen Soldaten in Kahramanmaras nicht weit entfernt von den Angriffen, die jetzt in der Nähe von Kilis stattgefunden haben.
Übrigens sind die deutschen Soldaten in Kahramanmaras nicht weit entfernt von den Angriffen, die jetzt in der Nähe von Kilis stattgefunden haben.
Zurheide:!! Claudia Roth zu den aktuellen Entwicklungen in der Türkei. Frau Roth, ich bedanke mich bei Ihnen für das Gespräch! Danke schön! Auf Wiederhören!
Roth: Wiederhören, Herr Zurheide!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.