Sängerfest in Tallinn: Tausende Esten singen wie in jedem Jahr "Mu isamaa on minu arm", "Mein Vaterland ist meine Liebe". Seit den 40er-Jahren war dieses patriotische Lied die inoffizielle Nationalhymne des von der Sowjetunion besetzten Landes, offiziell verboten und trotzdem trotzig weiter gesungen – dann eben heimlich. 1989, genau 50 Jahre nach dem Hitler-Stalin-Pakt, spielte es die bisher wohl wichtigste Rolle in der Geschichte des Landes, das sich – neben den anderen baltischen Staaten Lettland und Litauen – damals die Freiheit erkämpfte. Die Deutschen feierten in jenem Jahr ihre friedliche, die Balten ihre "singende" Revolution.
Der Verlierer war in beiden Fällen die Sowjetunion, die vergeblich versuchte, die Balten zu brechen. "Wenn 20.000 Leute anfangen, ein Lied zu singen, kann man sie unmöglich zum Schweigen bringen", heißt es im Dokumentarfilm "The Singing Revolution", der am Beispiel Estlands den Weg auch Lettlands und Litauens in die Unabhängigkeit beschreibt.
Seit Jahrhunderten länger unfrei als frei
Nerija aus der litauischen Hauptstadt Vilnius war als junge Frau dabei. Heute ist sie 55 Jahre alt und trägt die Erlebnisse von damals tief in ihrem Herzen: "Wir haben damals ein Gefühl von Stärke, Einigkeit und Freude empfunden. Ich war mit meinem Mann auf der Straße, später kamen noch Freunde hinzu. Die Stimmung war euphorisch, ein Gefühl von Freiheit."
Und das nach einer langen und oft grausamen Unfreiheit. Es gab eine frühe Blüte im 15. Jahrhundert, die baltischen Hafenstädte waren Mitglieder der Hanse, doch dann begann die dunkle Zeit: Erst standen große Teile des Baltikums unter polnischer, schwedischer und dänischer Herrschaft. Vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg gehörte es dann zum Russischen Reich. Nach 1918 wurden Estland, Lettland und Litauen – vorübergehend – unabhängig.
Ein geheimes Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes setzte dem ein schnelles Ende. Die drei Staaten wurden im Sommer 1940 zwangsweise Teil der Sowjetunion, im Jahr darauf von der deutschen Wehrmacht besetzt, ab 1944 dann wieder von der Roten Armee. Jahrzehnte vergingen.
Zwei Millionen oder sechs Kilometer Menschen
Dann kam der 23. August 1989. Zwei Millionen Menschen, etwa ein Drittel der gesamten Bevölkerung, bildeten die 600 Kilometer lange "Baltische Kette" von Tallinn über Riga bis nach Vilnius. Es gab keine Handys, kein allgemein verfügbares Internet. Die "Baltische Kette" wurde übers Radio organisiert und koordiniert. Eine ebenso machtvolle wie friedliche Demonstration für die Selbstbestimmung. Anfang 1990 erklärten sich die drei Staaten für unabhängig. Ein Jahr später kam es zu teils blutigen Auseinandersetzungen mit Gegnern der Unabhängigkeit, denen die Esten, Letten und Litauer weitestgehend gewaltlosen Widerstand entgegensetzten – und Sieger blieben.
Aber Sieger im ständigen Schatten des unterlegenen Russlands. Seit der Ukraine-Krise und der Krim-Annexion wird Moskau von der Mehrheit der Balten als immer größere Bedrohung wahrgenommen, von außen wie von innen. Vor allem in Estland und Lettland gibt es große russischstämmige Minderheiten, die bis zu 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen und mit denen seit der Unabhängigkeit nicht eben zuvorkommend umgegangen wurde.
Putin rasselt mit dem Säbel, die Nato rasselt zurück
Der russische Präsident Wladimir Putin rasselt immer lauter mit dem Säbel. Russische Bomber nähern sich dem baltischen Luftraum, russische Kriegsschiffe kreuzen vor den baltischen Küsten. Die Nato, der die baltischen Staaten seit 2004 angehören, reagiert – und rasselt zurück: mit ständigen Manövern und vergrößerter, auch deutscher Militärpräsenz.
"Allzeit bereit" ist das Motto, wer den Frieden will, muss für den Krieg üben. Auch in Estland. Hier gibt es neben der kleinen, nur 6.000 Mann starken regulären Armee den "Kaitseliit", die freiwillige Bürgermiliz mit immerhin 20.000 Freizeitsoldaten und -soldatinnen. Janus Peet ist dort Kompaniechef: "Ich stamme aus der Generation, die noch die Sowjetunion erlebt hat. Aber jetzt leben wir hier, es ist unsere Heimat. Und es ist nicht zu bestreiten, dass es seit den Ereignissen in der Ukraine viel Aufregung in der Region gibt."
"Ich glaube nicht, dass es morgen losgeht"
Aber nicht bei den Militär-Profis. Oberst Veiko-Villo Palm ist Kommandeur im Hauptquartier der 1. Estnischen Infanteriebrigade gut anderthalb Autostunden von Tallinn entfernt. Ein großer, ruhiger Berufssoldat mit Nato-Erfahrung und einem ausgeprägten Pragmatismus. Seine Lagebeurteilung: "Man kann sich seine Verwandten und Nachbarn leider kaum aussuchen. Unser Nachbar hat gezeigt, dass er sowohl den Willen, als auch die Möglichkeiten hat, sich in die Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen. Das beunruhigt nicht nur uns Esten, sondern auch die Nato und die Europäische Union."
Von Angst spricht er nicht, lediglich von "Beunruhigung". Für einen Militär ungewohnt offen beantwortet er die Fragen. Wie groß ist denn die "Beunruhigung" mit Blick auf die Russen? "Es ist ganz klar eine Bedrohung – aber auch eine, die uns nicht mehr schlafen, sondern stattdessen Gefechtsstände graben lässt, damit wir gegebenenfalls sofort das Feuer eröffnen können? Nein. Wir sehen eine militärische Intervention in Estland und damit auf Nato-Territorium zwar als Gefahr an, aber nicht als eine unmittelbare. Ich glaube nicht, dass es morgen losgeht."
Rekruten proben im strömenden Regen den Nahkampf
Aber lieber auf Nummer Sicher gehen. Aus dem Fenster seines Dienstzimmers kann man sehen, was das in der Praxis bedeutet. Bei strömendem Regen üben Rekruten Nahkampf in klitschnassen Kampfanzügen und schwarzen Boxhandschuhen. Es geht ordentlich zur Sache! "Wir üben sehr hart, um gut vorbereitet zu sein. Alles in allem muss ich sagen, dass wir uns in den vergangenen Jahren – leider – sehr bemerkenswert entwickelt haben. Nicht, dass wir das wollten. Aber wir sind sehr gut aufgestellt und bereit, unsere Heimat zu verteidigen."
Aber sind die Esten auch dazu in der Lage? Palm sieht die Dinge realistisch: allein ganz sicher nicht. "Das ist der Hauptgrund für unsere Nato-Mitgliedschaft: einer größeren Allianz anzugehören, Freunde an unserer Seite zu haben. Für uns ist das lebenswichtig. Unsere Verbündeten haben ja nicht nur militärische Macht, sondern auch politische und wirtschaftliche Instrumente, mit deren Hilfe wir zurzeit zum Beispiel Einfluss auf Russland nehmen können."
Esten zweifeln am Nato-Verbündeten USA
Während allem Anschein nach Russland wiederum Einfluss zumindest auf den größten Nato-Verbündeten, die USA, ausübt – allen Treueschwüren auch der neuen Trump-Administration zum Trotz. Schon im US-Wahlkampf, als sich abzeichnete, dass der damals noch sehr laute Nato-Skeptiker Donald Trump Präsident werden könnte, gefror das eine oder andere baltische Lächeln. Zwar hat der amerikanische Präsident vor wenigen Tagen bei seinem Besuch in der polnischen Hauptstadt Warschau andere Töne angeschlagen, sogar eine Beistandsgarantie abgegeben. Doch vollständig ausräumen lassen sich tief liegende Ängste und Zweifel so wohl nicht – zumal Donald Trump als wankelmütig gilt.
Dabei liegt Estland mit Militärausgaben von mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes seit Jahren über dem Nato-Soll und präsentiert sich als Musterschüler. Doch ist das eine Garantie für militärischen Beistand des Bündnisses, sollte es doch zum bewaffneten Konflikt mit Russland kommen? "Das ist unglücklicherweise eine Glaubensfrage, wie bei einer Religion. Wird die Nato helfen oder nicht? Wenn es nach mir ginge, würde diese Frage nie wirklich gestellt. Aber angesichts all meiner Erfahrungen in Nato-Hauptquartieren und mit Nato-Freunden sehe ich keinen Hinweis darauf, dass man uns diese Hilfe nicht gewähren würde."
Lettland hat eine Viertelmillion "Nichtbürger"
Das Gefühl der russischen Bedrohung wirkt auch innerhalb der baltischen Staaten: vor allem in Estland und – Lettland. Dort leben etwa 250.000 so genannte "Nichtbürger". Meist russischstämmige und russischsprachige frühere Sowjetbürger, die sich dem harten Einbürgerungsprozess in Lettland mit Sprach- und Geschichtstest nicht unterwerfen konnten oder wollten. Sowjet-Nostalgiker unter ihnen stoßen regelmäßig mit lettischen Sowjet-Hassern zusammen, vor allem immer im März, wenn der gefallenen Soldaten der lettischen SS-Legion gedacht wird. Mehr als 100.000 Letten hatten den Nazis im Kampf gegen die Rote Armee geholfen. Oder als Zwangsrekrutierte helfen müssen? Bis heute umstritten und Grund für rot-braune Auseinandersetzungen auf den Straßen der Hauptstadt Riga.
Am 16. März sind wieder etwa 2.000 Menschen zum Freiheitsdenkmal marschiert, beschützt von vielen Polizisten, die wie in den Vorjahren auch einige Gegendemonstranten festnahmen. "Keine Chance dem Faschismus", brüllt dieser junge Mann, als er abgeführt wird. Während ihm ein Mann in der Menge schnell ein wütendes "Russenfreund" hinterherruft.
Etwa die Hälfte lebt in russischsprachiger Medienwelt
Der Staat bemüht sich offiziell um Neutralität, verurteilt ausdrücklich die deutsche und sowjetische Besatzung – während das Interesse vieler Letten langsam schwinde, sagt der Soziologe Martins Kaprans: "Ich meine, dass die Leute wohl ein bisschen müde geworden sind und das hat ganz offensichtlich mit all dem Rummel zu tun, den es in den letzten Jahren um den 16. März gegeben hat. Seit 2008 beobachten wir das nun schon. Immer weniger Leute unterstützen diese Gedenkveranstaltung oder machen selbst dabei mit."
Martins Hirsch aus Riga ist ebenfalls Sozialwissenschaftler und hat für seine Doktorarbeit diesen innerlettischen Konflikt untersucht. Wie groß sind die Gegensätze – und was trennt die "Nichtbürger" von den Letten? "Nach den Ergebnissen unserer Forschung lebt etwa die Hälfte der russischsprachigen Menschen in der russischen Medienwelt. Sie glauben, dass es immer mehr Faschismus gibt und Diskriminierung."
"Russland investiert viel Geld in Propagandamaschine"
Es sind Parallelwelten. Die lettischen Medien hätten das Nachsehen, sagt Martins Hirsch, und keine Chance journalistisch gegen das Weltbild vorzugehen, das Moskau auch in Estland und Litauen vor allem übers Fernsehen verbreitet. "Das lettische System ist schlechter finanziert. Russland investiert viel Geld in seine Propagandamaschine. Kleine Staaten wie wir können da kaum mithalten. Selbst wenn wir mehr Geld ausgäben, es würde nur langfristig etwas ändern. Der Markt ist knallhart."
Und die Konsequenzen sind aus lettischer Sicht fatal. Wer will, kann den Kontakt mit der "anderen" Seite weitgehend vermeiden, kann sich im russischen Lettland einigeln. Zum Glück kein Massenphänomen, meint Hirsch, aber doch ernst genug, um sich deshalb Sorgen zu machen. "Es gibt Kinder aus russischen Familien, die durchs lettische Schulsystem gegangen sind und eigentlich gut Lettisch sprechen sollten. Tun sie aber nicht. Also bekommen sie schlechte Noten, keine guten Jobs und sind dann desillusioniert und wütend wegen ihrer Lebensumstände in Lettland. Das ist eine gefährliche Entwicklung."
Experte: Mit der weltoffeneren Jugend ist Einigung vorstellbar
Aber offenbar eine zeitlich begrenzte. Martins Hirsch ist zuversichtlich, dass die Einigung der lettischen Gesellschaft gelingt. Nach den Ergebnissen seiner Forschung sind die jungen Menschen, die über soziale Netze eher miteinander in Kontakt kämen, weltoffener. Sein Lieblingsbeispiel: das "Erasmus"-Programm der Europäischen Union, das es auch russischstämmigen Studenten aus Lettland möglich mache, andere Lebenswelten kennenzulernen. Das führe ganz automatisch zu mehr Offenheit und Toleranz. "Schauen sie sich die 'Nichtbürger' an, sie sind meist 46 Jahre alt und älter. Genau wie diejenigen, die in der russischen Medienwelt leben. Das Problem wird mit der kommenden Generation kleiner."
Litauen hat dieses Problem kaum: Nur knapp sechs Prozent der Einwohner haben russische Wurzeln. Und dennoch fühlen sich vor allem die Litauer von Russland bedroht. Und das hat auch geografische Gründe. Die hochgerüstete russische Exklave Kaliningrad, das ehemalige Königsberg, liegt im Westen, Weißrussland im Südosten, dazwischen die "Lücke von Suwalki". "Suwalki Gap" im Nato-Englisch, ein schmales Stück litauisch-polnischer Grenze, das als strategischer Schwachpunkt gilt und von Russland und Weißrussland im Konfliktfall schnell geschlossen werden könnte, um so die baltischen Staaten vom Nato-Gebiet abzuschneiden. Litauen, Lettland und Estland wären dann nur noch von See aus oder per Luftbrücke zu erreichen.
Gleichgewicht des Schreckens um Kaliningrad
Rasa Jukneviciene ist die stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für nationale Sicherheit und Verteidigung im litauischen Parlament, von 2008 bis 2012 war sie Verteidigungsministerin. "Suwalki Gap" hin oder her, sagt sie: "Nicht nur für Litauen besteht Gefahr. Litauen ist in der Nato und Russlands Ziel ist es, die ganze Nato zu schwächen. Russland hat um die baltischen Länder herum viel Militär stationiert und so ein Problem für die Polen geschaffen. Jetzt reagiert die Nato und versucht, das Defizit zu beheben."
Damit meint sie vor allem die Stationierung eines kompletten Nato-Bataillons nördlich der Hauptstadt Vilnius, dessen Aufbau gerade abgeschlossen ist und das unter deutscher Führung steht. Ein Zeichen der Verteidigungsbereitschaft, mehr aber auch nicht, meint sie. Die andere Seite habe schließlich Kaliningrad - und das sei eine echte Gefahr.
"Kaliningrad ist wie ein unsinkbarer Flugzeugträger, auf dem Luft-, See- und Bodenstreitkräfte konzentriert sind, um Nato-Kräfte abzuschrecken. Von dort aus könnten die drei baltischen Länder vom Rest der NATO isoliert werden. Man müsste nur den Luftraum sperren und den Zugang von der Seeseite her blockieren. Es wäre auch einfach, den Landzugang zwischen Weißrussland und Kaliningrad dichtzumachen."
Russland zielt auf die Unzufriedenen
Weniger einfach wäre nach den Worten der Politikerin Rasa Jukneviciene ein russischer Sieg im "Krieg der Gedanken", obwohl Moskau über gesteuerte Medien versuche, die Balten zu beeinflussen, ihre eindeutig pro-westliche Grundeinstellung zumindest aufzuweichen. "So einfach hat es Putin da nicht. In den baltischen Ländern gibt es viele Menschen, die wissen, was Lüge ist, weil sie im Sowjetsystem geboren sind, das auf Lügen gebaut war. Russland hat aber besondere Ziele: nationale Minderheiten, Menschen in den ärmeren Regionen und die, die dem Sowjetsystem hinterhertrauern. Deshalb hängt viel auch von uns selbst ab. Wenn weniger Menschen unzufrieden sind, gibt es auch weniger Propagandaziele."
Zufrieden sind die Litauer nach Ansicht von Rasa Jukneviciene mit der Rolle der Deutschen, insbesondere mit dem Einsatz der Bundeswehr. Daran hat eine offensichtliche Fake-News-Kampagne nichts geändert, mit der im Februar Bundeswehrsoldaten die Vergewaltigung einer Minderjährigen unterstellt worden war. Der Vorwurf hatte sich allerdings schnell als haltlos erwiesen. "Wir freuen uns in Litauen besonders über die Entscheidung Deutschlands, denn – offen gesagt – stand Deutschland vorher ein wenig abseits in der NATO. Nun ist seine Rolle besonders wichtig geworden. Russland agitiert mit Blick auf die Geschichte natürlich dagegen, aber nach den letzten Umfragen sehen 81 Prozent der Litauer den deutschen Einsatz sehr positiv."
Junger Litauer: "Ich fühle mich sicher und habe keine Angst"
Ein Beitrag zur Sicherheit der gesamten Region, die vielleicht nicht akut bedroht ist, sich aber bedroht fühlt. Wobei die Menschen in den baltischen Staaten durchaus unterschiedlich mit dieser gefühlten Bedrohung umgehen. Das zeigt eine kleine Umfrage in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Jonas und Irena sind beide 71 Jahre alt. Sie haben die sowjetische Zeit erlebt. "Ja, die Gefahr ist sehr realistisch, wie früher. Es ist unsicher", meint Jonas. Irena sagt: "Ich sehe das genauso und will nicht, dass Putin uns überfällt, bloß nicht!"
Marinas dagegen ist gerade einmal 18 Jahre. Er kennt nur das freie unabhängige Litauen. "Ich fühle mich sicher und habe keine Angst, egal was auch kommen mag", sagt er. "Ich vertraue der EU und der Nato, das ist schon alles in Ordnung."
Erstgesendet im Norddeutschen Rundfunk am 15. Juni 2017