Michael Köhler: Unter welchem Druck stehen Musikerinnen und Musiker im Orchester heutzutage? Nach der Kritik am Führungsstil von Staatsopern-Dirigent Daniel Barenboim haben sich mehrere Musiker auch namentlich zu Wort gemeldet und berichtet, dass sie gesundheitlich gelitten haben. Wie gehen die Betroffenen damit um? Warum wird darüber geschwiegen? Wie wirkt sich das Machtgefälle im Orchestergraben auf die Beteiligten aus? Ist die "Macht im Graben" unvermeidbar, oder ist es höchste Zeit für eine andere Kultur?
Darüber habe ich mit einer Nervenärztin gesprochen. Dr. Déirdre Cooper führt eine psychiatrische Praxis mit "Lampenfieberambulanz". Über ein Dreiviertel ihrer Patienten sind Orchestermusiker, Konzertmeister und andere. Sie leiden unter Bogenzittern, Hautrötungen, Angstsymptomen, Kopfschmerz, Mundtrockenheit und anderem. Wenn Patienten zu Ihnen kommen, haben sie schon etwas überwunden und eine Leidensgeschichte hinter sich?
Déirdre Cooper: Es stimmt, dass viele Patienten einen sehr langen Leidensweg hinter sich haben. Viele berichten, dass sie bereits seit der Kindheit Symptome kennen, zum Beispiel im Rahmen der Konfrontation von Angst bei Wettbewerben wie Jugend musiziert. Die meisten von ihnen haben gelernt, das Leid mit sich selber auszumachen, denn da liegt ein Denkfehler zugrunde. Viele Musiker denken, wenn ich Symptome habe, ist das ein Kompetenzmangel, dann ist das ein Zeichen einer fehlenden Fähigkeit oder einer fehlenden Souveränität.
Meistens wählen die Patienten aus diesem Grund ganz unkonventionelle Formen der Hilfe: esoterische Ansätze oder diverse Entspannungsmodule. Zum Psychiater zu gehen, erfordert doch eine gehörige Portion Überwindung. Und deswegen kommen viele Patienten, wenn sie bereits 15 oder 20 Jahre gelitten haben.
Exzellente Leistung und starke Konkurrenz
Köhler: Worüber klagen Ihre Patienten im doppelten Sinne? Arbeitsbelastung, Burnout, Konkurrenzkampf und schlechte Arbeitszeiten kennen wir irgendwie alle. Aber was ist das Spezifische der Patientengruppe der Musiker? Ist es der Stress, im richtigen Moment sich bewähren zu müssen, und wenn der Moment verpasst ist, dann ist es versaut?
Cooper: Viele Musiker haben gelernt, sich ganz sozial erwünscht zu verhalten. Die möchten nicht gerne querulatorisch sein, die möchten eigentlich ein sogenanntes "People Pleasing" betreiben. Die möchten gerne eine gute Arbeit abliefern, die wollen kompetent sein, die wollen ganz exzellente Leistungen erbringen. Und sie wollen unter keinen Umständen irgendjemand zur Last fallen, und deswegen machen die das mit sich selber aus.
Das Spezifische an den Musikern ist, dass die in einer ganz entscheidenden Phase der Persönlichkeitsentwicklung die Berufswahl treffen, also viel, viel früher als andere Berufsgruppen. Viele Musiker entscheiden bereits in der Jugend oder in der frühen Kindheit, dass sie Musiker werden wollen. Und dann vertrauen sie sich einer Lehrer-Entität an oder einem Professor an, und darüber entwickelt sich ein sehr sozial erwünschtes Loyalitätsverhalten.
Dazu kommt eine ganz, ganz wettbewerbszentrierte Ausbildung. Da geht es los mit Jugend musiziert, dann geht es weiter mit Aufnahmeprüfungen, und dann geht es bis hin zu dem sehr eigenwilligen Bewerbungsprozedere der Musiker: dem Probespiel. Da stellen sich viele, viele Musiker vor, bewerben sich um eine Orchesterstelle. Es wird ein Wettbewerb veranstaltet, und einer gewinnt die Stelle. Das heißt, ich bin eigentlich die ganze Zeit konfrontiert mit Stress, mit Höchstleistung, meine persönlichen Belange dürfen nicht offenkundig werden, weil sonst eine Inkompetenz zu Tage tritt und die anderen denken, ich bin nicht so zuverlässig.
Köhler: Ich übersetze Ihr Wort vom Loyalitätsverhalten mal in meine Sprache und nenne es jetzt einfach mal Gehorsam.
Cooper: Ja.
"Zeiten autokratischer Dirigenten sind langsam vorbei"
Köhler: Ist die Struktur unserer Orchester vielleicht mit daran schuld, ein überaltertes System, wo Poltergeister und autokratische Herrscher das Sagen haben? Oder ist die Zeit nicht dafür eigentlich längst vorbei? Diese Gehorsamkeits- und Machtstruktur, ist die ein Stück weit mit schuld daran?
Cooper: Ja, da gebe ich Ihnen recht, und das ist ja nicht nur das Privileg der Musiker, dass sie gehorsam sein müssen oder sich einer Hierarchie unterwerfen. Das kennen wir ja nun auch bei uns Medizinern, bei den Juristen kennen wir es auch. Und das ist sicher eine soziale Erwartung, die ganz eng mit dem preußischen Militär und der dortigen Hierarchie zusammenhängt.
Ich bin Ihrer Meinung, dass das sicher antiquiert ist, und die Menschen wollen heute anders geführt werden. Die wollen eine Führung auf Augenhöhe, die wollen respektiert werden, die wollen sich gewertschätzt fühlen. Und genau das findet ja nicht statt, wenn ein autokratischer Dirigent vor ihnen steht, der impulsiv ist, der vielleicht sogar abwertend ist und seinen eigenen Selbstwert korrigiert, indem er andere Menschen kränkt und das vielleicht sogar mit Freude tut. Die Zeiten sind sicher langsam vorbei.
Köhler: Da müsste sich offenbar was ändern, wenn es nicht die Versagensangst ist, sondern eher eine Anerkennungsangst. Das hat ja fast was mit der Furcht vorm Vater zu tun.
Cooper: Ja, da haben Sie recht. Das kann gut sein, dass es da Bindungserfahrungen in der Vorgeschichte gibt, die problematisch sind und die dazu führen, dass Anerkennung das allerwichtigste Ziel ist.
Köhler: Dann brauchen wir im Graben bessere Väter?
Cooper: Das könnte man auch sagen, wobei es ja inzwischen sehr viele Dirigentinnen gibt, die ganz exzellente Arbeit leisten.
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