Vor gut zwei Jahren beantragte meine beste deutsche Freundin in Großbritannien einen britischen Pass. Ich war erstaunt. Über 30 Jahre lang hatten wir auf der Insel gelebt und gearbeitet. Ich fühlte mich zwar nie sonderlich deutsch, aber erst recht nicht britisch, sondern definierte mich schlichtweg als Europäerin.
Ihr Argument für den Antrag auf britische Staatsbürgerschaft.
"Einfach nur, um mündig zu bleiben. Es war weniger der Fall, dass ich mir einen Austritt aus der EU vorstellen konnte, oder Angst vor den Folgen für mich selber haben würde, sondern eher nur wirklich der Wunsch, teilnehmen zu können und wählen zu können."
Der Brexit hat mich tief verunsichert. Ich lebe in Lewes, südlich von London, einem aufgeschlossenen Städtchen voller liberaler "Guardian"-Leser. In den Fenstern hängen Plakate: "Migranten welcome". Und doch fühle ich mich seit dem Brexit nicht mehr als Weltbürgerin, sondern als Migrantin.
Ich empfinde meinen Status als prekär, auch wenn – oder vielleicht gerade weil - britische Politiker gar so häufig versichern, bereits auf der Insel lebende EU-Bürger müssten sich – vorerst jedenfalls - keine Sorgen machen.
Viele meiner Freunde sind Nicht-Briten. Alle sind tief beunruhigt. Das politische Chaos, die bizarren Rücktritte, die ständig neuen Turbulenzen fördern das Katastrophendenken. Werde auch ich als Deutsche womöglich ausgewiesen? Als Erstes frage ich den Mann, der gerade den Abguss in meiner Küche repariert. Auch er hat übrigens für den Brexit gestimmt:
Das wird bestimmt nie passieren, betont Klempner Keith Stoner. Großbritannien sei eine offene Gesellschaft. Die Tatsache, dass sein Land einen politischen Länderblock verlasse, werde nichts daran ändern. Menschen aus aller Welt seien weiterhin willkommen.
"Bekannte kommen auf mich zu, um sich für den Brexit zu entschuldigen"
Seit dem Brexit sind auch auf dem sonst so friedlichen Wochenmarkt in Lewes bitterböse Streitgespräche zu hören. Über Europa, die Klüfte innerhalb der Labour Partei, die Zukunft der Tories. Gleichzeitig kommen Bekannte auf mich zu, um sich für den Brexit zu entschuldigen. Und von meinen unmittelbaren Nachbarn werde ich seit dem Brexit geradezu demonstrativ häufig zu Dinnerparties eingeladen - unabhängig davon, ob sie Gegner der Europäischen Union sind oder nicht.
Mary Chandler hat für die EU gestimmt, ihr Mann Malcolm für den Brexit. Er will nicht, dass Großbritannien von irgendwelchen ungewählten Leuten in Brüssel regiert wird. Aber was soll denn nun mit Ausländern wie mir geschehen? Malcolm Chandler streichelt seinen Dackel Freddie, und blickt mit Wohlwollen auf seine Schwarzwälder Kuckucksuhr.
"Keine Sorge, du bist eine von uns"
Er hat nichts gegen die Deutschen, er hat sein halbes Leben bei einer deutschen Fluggesellschaft gearbeitet, fester Händedruck. Und dann die Versicherung von Malcolm und Mary Chandler: Keine Sorge, du bist eine von uns.
Deutlich schroffer die jüngsten Eindrücke meiner Tochter: Sie arbeitet in einer Boulevardzeitung in London. In der britischen Hauptstadt hat zwar eine klare Mehrheit für die EU gestimmt. Aber in ihrer Redaktion weht ein kalter Wind.
In ihrer Zeitung erklärte ein Kollege, er habe für den Brexit gestimmt, weil es in seiner Stadt vor Migranten wimmle und sich seine Schwester nachts nicht mehr auf die Strafe traue. Meine Tochter fühlt sich seit dem Referendum nicht mehr wohl in Großbritannien. Auch wenn in ihrem britischen Freundeskreis durchweg für die EU gestimmt wurde.
"Ich wurde hier geboren, ich bin hier aufgewachsen, ich zahle Steuern, Englisch ist meine erste Sprache – aber ich habe einen deutschen Pass und kein automatisches Recht auf die britische Staatsbürgerschaft. Und ich will wirklich nicht in einem Land leben, das mich nicht haben will."