Die 2016 verstorbene Anita Brookner hat in ihrem langen Leben gleich zweimal Karriere gemacht. In ihrem ersten Beruf war sie Kunsthistorikerin, lehrte erst in Reading, später in London und veröffentlichte große Monographien u. a. zu Ingres und David. Im Alter von 53 Jahren begann sie ihre zweite Karriere: 1981 erschien ihr erster Roman, dem fortan Jahr für Jahr ein weiterer folgen sollte.
Ihr vierter, "Hotel du Lac", wurde mit dem Man Booker-Preis ausgezeichnet. Mit etwas Verspätung wurde Brookner danach auch im deutschsprachigen Raum wahrgenommen. Doch von ihren insgesamt 24 Romanen wurde nur ein Drittel übersetzt; zu ähnlich schienen sie sich: Sie sind alle 200 Seiten lang, spielen in den 1950er bis 80er Jahren im Milieu der englischen Mittelklasse, in London, im Verlagswesen, an den Universitäten, und haben allesamt einsame intellektuelle heterosexuelle Frauen zu Heldinnen, die am Ende ebenso einsam, intellektuell und frustriert heterosexuell sind wie zu Beginn.
Eine zweite Karriere als Schriftstellerin
Wer jetzt glaubt, weghören zu können, würde sich allerdings eines großen Lesevergnügens berauben. Und so ist es erfreulich, dass der junge Eisele Verlag in München nun das Romandebut von Anita Brookner erstmals auf Deutsch herausgebracht hat. "Ein Start ins Leben" lautet der Titel, der gleich in dreifacher Hinsicht programmatisch gemeint ist. Selbstironisch lächelt uns darin zum einen die späte Debütantin im Literaturbetrieb Brookner entgegen.
Zum zweiten ist der Titel ein bitterer Kommentar auf den eigentlichen Inhalt des Buches: Nach dem Tod ihres Vaters lässt die 40-jährige Literaturwissenschaftlerin Doktor Ruth Weiss vor ihrem inneren Auge ihr Leben passieren. Seit dem Tod ihrer Großmutter hatte ihr niemand mehr beim Erwachsenwerden geholfen. Ihre Eltern - die Schauspielerin Helen und der Tunichtgut George - gefallen sich als Bohemiens und sind vollauf damit beschäftigt, sich gegenseitig ihre Lebenslügen zu erzählen, von vergangenem Ruhm und längst vergessenen Erfolgen.
Zum zweiten ist der Titel ein bitterer Kommentar auf den eigentlichen Inhalt des Buches: Nach dem Tod ihres Vaters lässt die 40-jährige Literaturwissenschaftlerin Doktor Ruth Weiss vor ihrem inneren Auge ihr Leben passieren. Seit dem Tod ihrer Großmutter hatte ihr niemand mehr beim Erwachsenwerden geholfen. Ihre Eltern - die Schauspielerin Helen und der Tunichtgut George - gefallen sich als Bohemiens und sind vollauf damit beschäftigt, sich gegenseitig ihre Lebenslügen zu erzählen, von vergangenem Ruhm und längst vergessenen Erfolgen.
Ruth überlebt die Lieblosigkeit ihrer Eltern nur dank der Literatur. Fiktionen schenken ihr mehr Geborgenheit als die Wirklichkeit. Dass sie damit die Realitätsverweigerung ihrer Eltern wiederholt, wird ihr erst fatal spät bewusst.
"Es machte Ruth nicht wirklich etwas aus, wieder bei den Eltern zu wohnen zu Hause zu wohnen. Es war anonym und vertraut, sie hatte kein gesteigertes Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Ihr einmaliger Zusammenstoß mit der Realität hatte sie schockiert und ihr das Gefühl gegeben, im Grunde noch ein Kind zu sein. Nur ihre Bücher und ihre Aufzeichnungen gestatteten ihr ein gewisses Maß an Würde, aber es gab niemanden, der darauf wartete, ihre Aufsätze lesen zu dürfen."
"Es machte Ruth nicht wirklich etwas aus, wieder bei den Eltern zu wohnen zu Hause zu wohnen. Es war anonym und vertraut, sie hatte kein gesteigertes Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Ihr einmaliger Zusammenstoß mit der Realität hatte sie schockiert und ihr das Gefühl gegeben, im Grunde noch ein Kind zu sein. Nur ihre Bücher und ihre Aufzeichnungen gestatteten ihr ein gewisses Maß an Würde, aber es gab niemanden, der darauf wartete, ihre Aufsätze lesen zu dürfen."
Die Mutter ist eine Dramaqueen, der Vater ein Tunichtgut
Der Roman braucht ein bisschen, bis er in die Gänge kommt, aber sind die Figuren und ihre Beziehungen erst einmal aufs Gleis gesetzt, nimmt die Handlung unerbittlich Fahrt auf und saust in die Abgründe emotionaler Abhängigkeiten und psychischer Zwänge hinein. Überaus Tragisches wird dabei teilweise mit absurder Komik geschildert. Ruth’s Schauspieler-Mutter Helen etwa kann es durchaus mit Fassbinders Petra von Kant aufnehmen.
"Helen war arbeitslos. Zumindest hatte sie sich dazu entschlossen. Man hatte ihr mehrere Rollen als Mutter der weiblichen Protagonistin angeboten, die sie verächtlich abgelehnt hatte. Sie zog sich morgens nur noch selten an, lieber lag sie mit Kaftan und Armbändern angetan auf dem Bett, rauchte und trank den Instantkaffee, den ihr Mrs Cutler brachte. Ob sie diesen oder jenen Hickhack mit einem Regisseur, diese oder jene Affäre in ihre Autobiographie aufnehmen sollte, debattierten die beiden Frauen wie frühe Theologen oder kanonische Doktoren."
Mehr soll von der Handlung hier nicht verraten werden. Bleibt noch die dritte programmatische Ebene des Titels zu erschließen. Brookners Protagonistin Ruth Weiss, die die Literatur mit dem Leben verwechselt, schreibt im Roman eine Dissertation zu Balzacs Frauenfiguren. Nicht von ungefähr nennt Brookner ihren Roman im Original "A Start in Life", nach der üblichen englischen Übersetzung von Balzacs Erzählung "Un début dans la vie". Auf Deutsch hätte Brookners Roman daher besser den eingebürgerten Titel von Balzacs Erzählung erhalten: "Ein Lebensbeginn". Denn erst durch dieses Signal eröffnet sich die Tiefendimension des Textes. Die Aufschneider und Lebenslügner finden sich schon in Balzacs Erzählung, ebenso die Zwänge, denen die weiblichen Figuren unterliegen. Wo das 20. Jahrhundert dem 19. Jahrhundert ähnelt, wo nicht, ist dabei ebenso reizvoll zu vergleichen wie der auktoriale Erzählstil, den Brookner von Balzac übernimmt, ja stellenweise parodiert.
Schreibvorbild: Balzacs "Comédie humaine"
Balzacs Erzählung ist Teil seiner Comédie humaine, dem riesigen Roman-Zyklus, mit denen er ein Panorama seiner Zeit zeichnete. Die programmatische Nähe, die Anita Brookner gleich zu Beginn ihres literarischen Schaffens zu Balzac sucht, nimmt ihrem Oeuvre insgesamt den Charakter der wahllosen Fließbandproduktion. Denn auch Balzac lässt dieselben Figuren in verschiedenen Romanen wiederholt auftreten, um sie in neuen Zusammenhängen zu zeigen. Ähnlich verfährt Brookner.
Helen, die unmütterliche Mutter aus "Ein Start ins Leben" kehrt in dem eingangs erwähnten, späteren Roman "Hotel du Lac" noch witziger als die kapriziöse Mrs. Pusey wieder. Und die gebrochene Literaturwissenschaftlerin Ruth mausert sich dort zu der Schriftstellerin Edith, die amüsiert Mrs. Pusey zur Inspiration nutzt. Brookners Romanserie mit ähnlichen Figuren in ähnlichen Lebenslagen erweist sich daher als Versuch von Balzac’schen Dimensionen. Auch Brookner zeichnet ein Panorama ihrer Gesellschaft, im Ganzen bescheidener, im Kleinen aber vielleicht sogar raffinierter.
Mängel der deutschen Übersetzung
Dieser große Horizont von Brookners Debut scheint dem Verlag jedoch nicht bewusst zu sein, wie die unschöne Übersetzung des englischen Titels zeigt, die von Balzac weg - statt zu ihm hinführt. Leider hat der Verlag die Übersetzung von Wibke Kuhn nicht einmal durchgesehen. Wie kann man nur "Sideboard" mit "Sideboard" übersetzen? Und "Chignon" mit "Chignon"? (Gemeint sind Anrichte und Haarknoten). Wenn "100 £" in einem Text, der in den 1960er Jahren spielt, allen Ernstes mit "100 Euro" übersetzt werden - und wenn der männliche Roddy eine "Anstandsdame" genannt wird, bleibt die "große Stilistin" Brookner auf der Strecke, die der Verlag im Klappentext rühmt. Solche Ärgernisse sollten freilich nicht davon abhalten, mit der Lektüre von Anita Brookners "Menschlicher Komödie" des 20. Jahrhunderts zu beginnen.
Anita Brookner: "Ein Start ins Leben"
aus dem Englischen von Wibke Kuhn
Eisele Verlag, München. 256 Seiten, 20 Euro
aus dem Englischen von Wibke Kuhn
Eisele Verlag, München. 256 Seiten, 20 Euro