Archiv


Anita Kugler: Scherwitz - Der jüdische SS-Offizier

Der Mann, um den es in dem Buch geht, das wir Ihnen nun vorstellen wollen, wurde 1950 als jüdischer SS Offizier wegen der Erschießung von drei jüdischen Häftlingen von einem bundesdeutschen Gericht verurteilt. Fritz Scherwitz oder Eleke Sirewitz, wie er sich ab 1945 nannte, war "Regionalleiter für die Betreuung der Opfer des Nationalsozialismus" in Bayern als er im April 1948 verhaftet wurde. Er hatte sich nach dem Krieg als "Volljude" und überlebender KZ Häftling in Lettland ausgewiesen, tatsächlich war er Untersturmführer der SS gewesen und hatte in Riga ein KZ geleitet. Diese Funktion wiederum, das sagen Zeitzeugen, habe er genutzt, um hunderten von lettischen Juden das Leben zu retten. Eine Geschichte, die so bizarr klingt, dass man sie nicht glauben will. Fritz Scherwitz, sagt seine Biographin Anita Kugler, sei ein "unmoralischer Moralist" gewesen, ein Hochstapler mit krimineller Energie,

Von Hans G. Helms | 11.10.2004
    ein eitler, selbstbesoffener Mensch, der den Ehrgeiz hatte, als Lagerkommandant "seine" Juden zu schützen, indem er sie wie in einem kapitalistischen Betrieb motivierte. Er wusste doch, dass er an die Ostfront kommt, wenn er keinen Erfolg hat - und seine Juden wussten, dass sie Schlimmeres zu erwarten haben, wenn sie nicht perfekte Luxusartikel für die SS herstellen. Es war ein Geben und Nehmen und beide Seiten haben davon profitiert.

    Anita Kugler, einst Mitarbeiterin der Berliner taz, hat die Geschichte des bizarren Judenretters recherchiert, und der Verlag Kiepenheuer und Witsch hat die Ergebnisse dieser Recherche jetzt unter dem Titel "Scherwitz - Der jüdische SS-Offizier" herausgebracht. Unser Rezensent ist Hans G. Helms.


    Den Titel "Der jüdische SS-Offizier" hat Alexander Lewin mir für dieses Buch geschenkt, wohl wissend, dass ich skeptisch bin, was das Adjektiv "jüdisch" angeht.

    Bekennt Anita Kugler. Ob Scherwitz, wie er nach Kriegsende behauptet, als jüdisches Knäblein Eleke Sirewitz 1903 in dem wohl erfundenen baltischen Ort Buscheruni geboren ist, vermag die Autorin trotz penibler Analyse der widersprüchlichen Zeugenaussagen und lückenhaften Dokumente nicht zu klären. Das Spannende an ihrer Studie ist ohnehin nicht die Frage, ob Scherwitz nun tatsächlich jüdischer Abstammung ist oder nicht, eher schon die Leichtfertigkeit und Willkür der SS-Praxis, die Scherwitz für seine Juden ausbeutet. Die auf arische Rassenreinheit verpflichtete SS nimmt Fritz Scherwitz 1933 in Berlin ohne Geburtsurkunde, gestützt allein auf Aussagen neu gewonnener Freunde, als Anwärter auf.

    Der Ahnenpass, den Scherwitz dem Sippenamt (einreicht), ist eigentlich keiner, denn Ahnen gibt es darin nicht. (...) Das ganze DIN-A3 große Formular strahlt weiß wie aus der Druckerei.

    Als Scherwitz 1935 um eine Heiratserlaubnis nachsucht, bleibt er wiederum jeden Herkunftsnachweis schuldig.

    Ein ärztlicher SS-Kamerad beurteilt "seine psychische Konstitution mit gut (und seine) Fortpflanzung im völkischen Sinne (als) wünschenswert.

    Mit Hilfe der damals gängigen anthropologischen Messungen stellt die Reichsstelle für Sippenforschung fest:

    Scherwitz ist "dinarisch, aber ohne jüdische Rassenmerkmale, mit Wahrscheinlichkeit deutschen oder artverwandten Blutes" und darf heiraten.

    Die abenteuerliche Karriere des Judenretters Scherwitz beginnt, als der fließend deutsch, russisch und jiddisch sprechende Jugendliche 1919 im litauischen Schaulen sich einem Freikorps des "Grenzschutzkommandos Ost" anschließt. Als die Freikorps 1920 aufgelöst werden, nimmt der Major Friedrich Erler seinen "Pflegesohn" Fritz mit auf das Gut seiner Eltern in Schlesien. Für die SS stellt Erler seinem Schützling später das Zeugnis aus:

    Schwerwitz hat sich "als Agent bei der Geheimen Feldpolizei und als Soldat bei der Maschinengewehrkompanie sehr gut bewährt.

    Ab 1925 in Berlin lebend, hat er verschiedene Jobs und steigt zum "Betriebsleiter" einer Betonfirma auf. Seine Frau Bertha gibt 1948 zu Protokoll:

    Bei Kriegsbeginn wurde Scherwitz zur Luftschutzpolizei eingezogen (und) in Berlin eingesetzt. Später kam er nach Polen und dann nach Riga.

    Als LKW-Fahrer in Polizeiuniform trifft Scherwitz "am 1. Juli 1941 in Riga" ein. Er gehört zur Einsatzgruppe A 2, die mit lettischen Kollaborateuren rund 32.000 Menschen ermordet, überwiegend Juden an offenen Gruben im Wald von Bikernieki bei Riga. An den Massenerschießungen teilgenommen zu haben, bestreitet Scherwitz. Sein Aktionsfeld wird der große, in sich geschlossene Luxuswohnblock Washington Platz in Riga, den die Einsatzgruppe als Domizil "für ihre Männer" beschlagnahmt.

    Eine kleinere Abteilung des Stabs der Einsatzgruppe A (widmet) sich dem Aufbau ihrer für das gesamte Ostland zuständigen Dienststelle Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD. (Deren) Personalleiter beauftragt den Polizeiwachtmeister und LKW-Fahrer Scherwitz, sich um die Aufsicht und die Erweiterung der sogenannten SD-Werkstätten Washington Platz zu kümmern.

    Um seine Aufgabe zu erfüllen, kämpft Scherwitz mit Chuzpe an zwei Fronten: gegen die Zivilverwaltung des "Reichskommissars Ostland", Hinrich Lohse, die das jüdische Eigentum, das der Betriebsleiter der Werkstätten braucht, zu Gunsten des Reichs verwerten möchte, und gegen seinen obersten Vorgesetzten, den Höheren SS- und Polizeiführer Friedrich Jeckeln, der die dringend benötigten Zwangsarbeiter wie alle Juden liquidieren will. Die Materialien und Werkzeuge lässt der "Betriebsleiter" aus herrenlosem jüdischen Besitz requirieren, die Arbeitskräfte holt er sich mit einem Trick aus dem Ghetto:

    Scherwitz lässt sich von der Sicherheitspolizei für seine 90 Arbeiter Ausweise geben, die bescheinigen, dass sie kriegswichtige Arbeiten für den SD-Stab erledigen und unabkömmlich sind.

    Wie "kriegswichtig" diese Arbeiten sind, besagt die Organisation der Werkstätten, die der Sicherheitspolizei unterstehen:

    Scherwitz teilt die etwa 90 Arbeiter in eine mobile Maurer-, Polsterer- und Fußbodenverleger-Kolonne ein, (die die arisierten Villen der SS-Offiziere komfortabel ausstatten). Daneben errichtet er eine Schuhmacherei, eine Kürschnerei, eine mit Ausbesserungsarbeiten beschäftigte Nähstube und eine Schneiderei, die die Stabsmitarbeiter der Einsatzgruppe A mit neu angefertigten Kleidungsstücken bedient. Die zwei Wohnungen im ersten Stock reichen bald nicht mehr aus, Scherwitz erhält auch den zweiten und dritten Stock zugewiesen.

    Ein Überlebender erzählt:

    Scherwitz sorgte für seine Leute.

    Im Ghetto verschafft er ihnen erträgliche Wohnungen. Am Arbeitsplatz bekommen sie reichlich zu essen. Als sich die Massenerschießungen in Rumbula ankündigen, sein Arbeitskräftebedarf an Männern und Frauen zunimmt, bringt Scherwitz sie alle im Dachgeschoss über den Werkstätten unter.

    Die Handwerker arbeiten und wohnen am gleichen Ort, sind Arbeitsgefangene, aber keine Häftlinge, sind "kaserniert", wie man dieses neue und auf Riga beschränkt bleibende Phänomen bald nennt.

    Über den Chef des SD und der Gestapo Ostland besorgt Scherwitz seinem Werkstattleiter, dem Rigaer Herrenschneider Boris Rudow, seiner Geliebten Tamara Scherman und einigen anderen Papiere, die sie als Arier ausweisen.
    In den Werkstätten fertigen die Häftlinge "Zivilkleidung, Uniformen, Damengarderobe, Schuhe, Handschuhe, Pelzwaren, Strümpfe, Unterwäsche und Haushaltsgegenstände" und befriedigen damit die Raubgier der SS- und SD-Chargen bis hinauf zum SD-Chef Reinhard Heydrich, den es nach gefütterten Jagdstiefeln gelüstet. Ob des unersättlichen Luxusbedarfs seiner Klientel zieht Scherwitz Anfang 1943 mit den Werkstätten in die leerstehende Textilfabrik Lenta am Stadtrand von Riga um und vergrößert die Belegschaft auf über 900 Menschen, darunter ganze Familien.

    Obwohl die "Kasernierung Lenta" nun als "Außenlager des KZ Kaiserwald" geführt wird, lebt man dort wie im "Paradies". Die "Arbeitsgefangenen" spielen Tischtennis, Billard und Fußball in eigens geschneiderten Trikots. Im August 1943 wird Scherwitz ein gleichrangiger "Bewachungsoffizier" beigeordnet, der ein Drittel der Belegschaft nach Kaiserwald deportiert.

    Je näher die Rote Armee rückt, desto schwieriger wird es für Scherwitz, seine Juden zu schützen. Ehe sie per Schiff ins KZ Stutthof abtransportiert werden, lässt er etliche fliehen und untertauchen. Eine missglückte Flucht wird ihm nach Kriegsende zum Verhängnis. Der nun seine SS-Aktivitäten verschweigende und als jüdischer Funktionär agierende Aleke Sirewitz alias Fritz Scherwitz wird von einigen seiner Häftlinge denunziert. Auf Grund allerdings zusehends substanzloser werdender Falschaussagen eines Überlebenden verurteilt ihn ein Münchener Gericht 1949 wegen Totschlags an drei Flüchtenden aus der Lenta zu sechs Jahren Gefängnis und "Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von vier Jahren". Dabei bleibt es in den beiden Wiederaufnahmen des Verfahren. Eine Rehabilitierung findet nicht statt. Einer der damaligen Belastungszeugen erklärt 50 Jahre später:

    Wir glühten vor Hass. Für mich war Scherwitz ein Nazi, er trug die SS-Uniform und ich die Häftlingskleidung. Darum ging es gleich nach dem Krieg. Er hat die zwei Häftlinge nicht erschossen. Trotzdem war es in Ordnung für mich, dass er verurteilt wurde.

    Als Anita Kugler dem tschechischen Rechtsanwalt Herbert Ungar, der Scherwitz auf der Lenta erlebt hat, 2001 die Gerichtsakten zu lesen gibt, schilt Ungar insbesondere das letzte Urteil von 1950:

    Das Gericht hat willkürlich als erwiesen angesehen, was nicht erwiesen war. Scherwitz "strafverschärfend" vorzuwerfen, es zeuge von besonders niedriger Gesinnung und sei besonders verwerflich, dass er als Jude Juden erschossen habe, bedeutet im Umkehrschluss, es zeige keine niedrige Gesinnung und sei nicht besonders verwerflich, wenn Deutsche Juden erschießen. Was für ein Wahnsinn! Es ist ein antisemitisches Urteil. Es ist ein Naziurteil!

    Hans G. Helms über Anita Kugler: "Scherwitz - Der jüdische SS-Offizier." Der Band ist im Kölner Verlag Kiepenheuer und Witsch erschienen, hat 758 Seiten und kostet 29,90 Euro.