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Ankara
Die Bibliothek der Müllmänner

Die Müllmänner des Stadtteils Cankaya in Ankara haben ein ungewöhnliches Projekt - eine Bücherei. Auf dem Betriebshof haben sie die Bibliothek eingerichtet, nicht mit neuen, sondern mit weggeworfenen Büchern. Passend dazu soll es bald eine rollende Bibliothek geben - in einem umgebauten Müllwagen.

Von Karin Senz |
    Ein Arbeiter sitzt in der Bücherei der Müllmänner von Ankara, die in einer ehemaligen Ziegelsteinfabrik im Stadtteil Cankaya eingerichtet wurde, und liest
    Ein Arbeiter sitzt in der Bücherei der Müllmänner von Ankara, die in einer ehemaligen Ziegelsteinfabrik im Stadtteil Cankaya eingerichtet wurde (imago / Qin Yanyang)
    Der Betriebshof der Müllabfuhr ist blitzblank und aufgeräumt. Die schweren Müllwagen stehen ordentlich in einer Reihe geparkt. Nur eins passt nicht so richtig rein. Es ist lila, grün, weiß lackiert. Emirali Urtekin, der Leiter des Betriebshofs, steigt eine bunte Treppe hoch in den Bauch des Fahrzeugs:
    "Vor ein paar Monaten war dieses Fahrzeug noch bei der Müllabfuhr im Einsatz. Allerdings war’s alt und fiel immer wieder aus. Statt es teuer zu reparieren und zu modernisieren, haben wir beschlossen, aus ihm eine Bücherei auf Raedern zu machen."
    Die rollende Bücherei im Müllwagen ist das neueste Projekt. Angefangen hat alles vor anderthalb Jahren.
    "Eines Nachts haben wir neben einem Müllcontainer mehrere Plastiksaecke voller Bücher gefunden. Ich habe dann Kollegen gefragt, ob so etwas öfter vorkommt. Sie sagten, ja, hin und wieder schon. So kam uns die Idee, die Bücher aufzuheben und unseren Mitarbeitern und deren Kindern zur Verfügung zu stellen."
    Bücher feinsäuberlich sortiert
    Die Müllmänner haben sich eine Bibliothek eingerichtet, aber was für eine. In einem ebenerdigen Raum mit Gewölbedecke und Ziegelwänden steht feinsäuberlich sortiert nach Genre ein Buch neben dem anderen. Angestrahlt von kleinen Lämpchen, die in ausgehöhlten Büchern versteckt sind. In einer Ecke ein dekorativer Bücherstapel, gegenüber an der Wand sind welche in einem Regal aus Seilen drapiert. Serhat Baytemür sitzt in seiner staubigen Arbeitshose an einem kleinen Tisch und blättert in einem Buch.
    "Die Atmosphäre stimmt einfach. Es sieht so gemütlich aus hier, mit den alten Ziegelwänden. Es ist ein bisschen wie zu Hause."
    Nur hier gibt‘s mehr Bücher sagt er. Und das nützt der 33-jährige so oft wie möglich:
    "In der Tee- und Kaffepause komme ich hier her. Das ist dreimal am Tag 20 Minuten. Viertel nach zehn, halb 1 Uhr und viertel nach 3 Uhr."
    Ein Mitarbeiter zeigt ein Buch über vdie Verbotene Stadt in der Bücherei der Müllmänner von Ankara, die in einer ehemaligen Ziegelsteinfabrik im Stadtteil Cankaya eingerichtet wurde
    Ein Mitarbeiter zeigt ein Buch über vdie Verbotene Stadt in der Bücherei der Müllmänner von Ankara, die in einer ehemaligen Ziegelsteinfabrik im Stadtteil Cankaya eingerichtet wurde (imago / Qin Yanyang)
    Auch sein Kollege Ali Cetin hat sich in seinem dunkelgrünen Arbeitsanzug für ein paar Minuten hingesetzt:
    "Natürlich lese ich gerne. Ich hab zuhause auch ein Bücherregal, aber seit es die Bibliothek mit so vielen verschiedenen Büchern gibt, lese ich lieber hier oder leihe mir von hier Bücher aus."
    Draußen ist es nasskalt. Immer wieder geht die Türe auf und es kommen Arbeiter rein, nicht nur, um sich aufzuwärmen.
    "Nicht nur ich - viele meiner Arbeitskollegen lesen leidenschaftlich gern. Wir sind hier in der Bibliothek auch ausserhalb der Dienstzeiten oft für mehere Stunden. Manchmal kommen auch die Kinder der Kollegen hier her und leihen sich Bücher aus. Das wird dann in den Computer eingetragen. Per SMS wird man dann dran erinert, wann Rückgabe ist."
    Alles ist perfekt organisiert. Die Männer stehen hinter der Idee und machen begeistert mit. Das war nicht immer so, erinnert sich Urtekin:
    "Wie so oft im Leben, ist auch hier der Anfang schwer gewesen. Die Kollegen haben nicht so recht an das Projekt geglaubt. Aber innerhalb von kurzer Zeit hatten wir rund 800 Bücher gesammelt. Dann ging alles recht schnell. In den sozialen Medien gab’s Berichte und Leute haben Bücher gespendet. Dann haben wir unsere Bibliothek hier aufgebaut."
    Bücherei ist für jedermann geöffnet
    Inzwischen haben sie rund 20.000 Bücher. Nur ein Teil ist bis jetzt einsortiert. Bei den Klassikern steht beispielsweise Goethes Faust, es gibt einen Bildband über Atatürk, Romane von Stephen King und auch einen Weltatlas auf Deutsch. Nicht nur die Mitarbeiter und ihre Familien können hier ausleihen. Die Bücherei ist für jedermann rund um die Uhr geöffnet. Schließlich wird auf dem Betriebshof auch rund um die Uhr gearbeitet.
    Urtekin ist der Kopf der Müllbibliothek. Der 48-jährige wirkt nicht wie der Leiter eines Betriebshofs. Er hat graues halblanges Haar, trägt einen Seidenschal und Jackett. Sein Büro sieht mehr aus wie eine kleine Galerie bestückt mit weggeworfener Kunst. Beispielsweise hat er die Arche Noah aus Ton aus dem Müll gefischt, gebastelt von Schulkindern. Sein Lieblingsstück ist eine alte Musicbox, die sie gemeinsam repariert haben:
    "In die Musicbox passen 60 CD's. Ich habe den Angestellten dann gesagt, sie sollen doch bitte jeder eine CD mitbringen, die sie gerne hören. Und ich wollte, dass sie draufschreiben, was sie bei der Musik fühlen. So wird aus die Musicbox zu einem Ort, wo wir Gefühle austauschen, wo wir geben und nehmen. Ich möchte den Angestellten vermitteln, dass es am Arbeitsplatz auch anders geht."
    Ein Müllwagen als rollende Bibliothek
    Urtekins Mitarbeiter respektieren ihn. Und was ist mit den Chefs in der Stadtverwaltung.
    "Kritik gibt's nicht, vielleicht sind sie ein bisschen neidisch, kann sein. Die Stadtverwaltung Çankaya ist sozial engagiert. Zum Beispiel kommen uns die Kinder der städtischen Kindertagesstätten besuchen. Hier dürfen sie alles anfassen... Also, die Stadtverwaltung unterstützt unser Projekt."
    Natürlich darf das tägliche Geschäft nicht liegen bleiben. Und das ist nun mal die Müllabfuhr. Drum stecken alle viel Freizeit in die Projekte. Auch bei der neuen rollenden Bücherei war das so:
    "Wir haben eine Werkstatt, Vieles machen wir also selber, auf freiwilliger Basis. Und das Unternehmen ist sozial engagiert und unterstützt unsere Projekte auch finanziell. Aber das wichtigste ist: Es macht uns Spaß. Wer kommt schon auf die Idee, aus einem alten Müllwagen eine mobile Bücherei zu machen."
    Dementsprechend haben die Kinder auch geschaut, als da ein Müllwagen auf den Schulhof rollte. Urtekins Augen blitzen, als der das erzählt. Und es ist klar, es wird nicht bei dem Bücherei-Projekt bleiben. Ein Minikino schwebt ihm vor, vielleicht auch mal eine Ausstellung und Musikveranstaltungen – Kultur auf dem Betriebshof der Müllabfuhr warum nicht? – Für jedermann, aber vor allem auch für die Müllmänner von Ankara.