Archiv

Anke Stelling: "Schäfchen im Trockenen"
Der neue Wohnungs-Klassenkampf

Soziale Verlierer erkennt man an ihrer Adresse - diese bittere Erfahrung muss auch die Heldin aus Anke Stellings neuem Roman machen. Als Resi in den 90ern nach Berlin zog, war Wohnen noch billig. Doch nun wird der Vierfachmutter gekündigt, und sie kann sich die Mieten im Kiez nicht mehr leisten.

Von Julia Schröder |
    Anke Stellings Roman "Schäfchen im Trockenen" vor einem besetzten Haus Berlin-Prenzlauerberg
    Seit Jahren steigen in Berlins City die Mieten und werden für Stellings Heldin zu teuer (Buchcover:Verbrecher Verlag / Hintergrund: picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg)
    Das Zimmer für sich allein, das Virgina Woolf einst für die schreibende Frau reklamierte, ist diese winzige Kammer, die in Berliner Wohnungen normalerweise für die Waschmaschine genutzt wird. Resi hat ein Brett zwischen die beiden Wände geklemmt, schaut ihrem altersschwachen Notebook beim Hochfahren zu, bevor sie ihm kettenrauchend Sätze anvertraut, die sie an ihre älteste Tochter, die vierzehnjährige Bea, richtet. Der soll es zumindest intellektuell einmal besser gehen als Resi, denn die Mittvierzigerin musste einsehen, dass sie viel zu spät gemerkt hat, wie der gesellschaftliche Hase so läuft.

    "Ich bin ein echter Spätzünder. Oder geht das allen so, dass ihnen mitten im Leben plötzlich auffällt, was sie nicht kapiert haben, all die Jahre über, obwohl es doch mehr als offensichtlich ist? Ich dachte immer, ich sei klug, würde die Welt kennen und die Menschen verstehen. Schließlich konnte ich schon vor der Einschulung lesen, mich gut ausdrücken und problemlos kopfrechnen. (...) Doch von größeren Zusammenhängen, Strukturen oder Machtverhältnissen hatte ich keine Ahnung. Da fehlten mir die einfachsten Erkenntnisse - zum Beispiel die, dass mein Leben auch anders hätte sein können. (...) Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich dachte: Fuck! Wenn meine Eltern woanders gewohnt hätten, hätten wir einen anderen Küchenfußboden gehabt."
    Plötzlich wirft der Vermieter die Familie einfach raus
    Die Schriftstellerin Resi und ihre Familie - der Künstler Sven und die vier gemeinsamen Kinder - haben die Kündigung gekriegt. Das heißt: Resi hat sie gekriegt, die anderen wissen noch nichts davon. Der Grund: Resi und Sven haben bei der Baugemeinschaft ihrer Freunde, einem Wohnungsprojekt in einem familienfreundlichen Berliner Kiez, nicht mitgemacht, und Resi hat über die Gründe und die Folgen geschrieben. Ihr Artikel, eine Auftragsarbeit für eine überregionale Zeitung, hat die kleinen Unterschiede, die ungleich verteilten finanziellen Mittel und Ansprüche im Freundeskreis, den, wie sie es nennt, "Kampf um Lebensentwürfe" aufgespießt. Schon das hat unter dem halben Dutzend Jugendfreunden, die alle mal gemeinsam aus Stuttgart nach Berlin gekommen waren, Empörung und Unverständnis ausgelöst. Dann folgte auch noch ein ganzer Roman, in dem man sich wiedererkennen musste, das konnte ja nicht gut gehen ... "Weiß man doch", hätte Freundin Friederike gesagt. Und nun haben die Freunde Vera und Frank, in deren Mietvertrag Resi und Sven eingestiegen waren, um mit den Kindern die große Altbauwohnung mit der niedrigen Altmiete übernehmen zu können, diese schöne, geräumige, günstige Wohnung einfach gekündigt und Resi eine Kopie mit Stempel "Zur Kenntnis" geschickt.

    Anke Stelling hat ihrem Roman den mehrdeutigen Titel "Schäfchen im Trockenen" gegeben, aber ihre Ich-Erzählerin Resi sieht ihre eigenen Schäfchen - sich selbst, Mann und Kinder - schon nach Marzahn absteigen. Zu allem Überfluss stehen die Herbstferien vor der Tür, und sie werden die einzigen sein, die sich keinen Urlaub leisten können.
    Alpträume vom sozialen Abstieg in Marzahn
    Anke Stelling, Jahrgang 1971 und in Stuttgart aufgewachsen, hat offenkundig sehr genau beobachtet, wovon sie schreibt. Den Alltag als schreibende Familienfrau mit vier normal wundervoll-fürchterlichen Kindern zwischen Kita-Laufnase und Pubertätsverwahrlosung verdichtet sie in Szenen voller Liebe und Ausweglosigkeit. Ebenso prägnant nimmt ihre Erzählerin die eigene Jugend in den Blick, das Aufwachsen in einer Zeit, als man noch ganz ernsthaft von Chancengleichheit sprach. Auch in den Besserverdiener-Elternhäusern, aus denen die Freunde von Resi stammten - im Unterschied zu ihr, dem Aufsteigerkind:

    "In diesen Kreisen hieß es, dass Geld nicht glücklich macht, Besitz belastet, Reiche nicht in den Himmel kommen. (...) Solche bösen Leute waren verantwortlich für das Elend in der damals noch sogenannten Dritten Welt, solche Leute hatten im Dritten Reich sogar mit Hitler paktiert, nur um ihre widerlichen Privilegien zu behalten, doch all die Reichen, mit denen wir jetzt und persönlich zu tun hatten, waren anders und wollten dafür sorgen, Leid und Ungleichheit zu mildern. Und deshalb sollten auch die Armen, Unschuldigen und durch Nichtbesitz moralisch Überlegenen nicht weiter darauf herumreiten, arm, unschuldig und moralisch überlegen zu sein."
    Böser Blick aufs Privilegierten-Milieu
    Anke Stellings Resi macht das Beste aus der späten Erkenntnis, eigentlich immer die Außenseiterin gewesen zu sein, auch wenn alle taten, als wäre es nicht so. Bis sie es nicht mehr taten. Diese Selbstgespräche führende, sich erinnernde, drastisch zuspitzende, mal frustrierte, mal sich aufraffende, mal dahinschmelzende Erzählerin verfügt über den bösen Blick auf ein privilegiertes "Isch des Bio?!"-Milieu. Dessen Mitglieder wollten einst alles anders und besser machen als die Wirtschaftswundereltern, und nun, mit ihrem geerbten oder erheirateten Geld, ihren energieeffizienten Wohnungen und glutenfrei aufgezogenen Kindern, möchten sie nicht hören, dass sie aus der Privilegiennummer nicht rauskommen.
    Angesichts des andauernden Trends zur Adoleszenzverlängerung in der jüngeren deutschen Gegenwartsliteratur nimmt die Leserin dankbar zur Kenntnis, dass Anke Stelling Leute von Mitte vierzig in eine ganz erwachsene Verantwortung nimmt. Dass aus "Schäfchen im Trockenen" mehr geworden ist als eine bitterböse Satire mit treffenden Dialogen, liegt an Anke Stellings Fähigkeit, den Wörtern auf den Grund zu gehen und Situationen in eine unerwartete Richtung zu schubsen. Am Ende zeigt sich sogar ein kleiner Silberstreif am Horizont, und Sven, der sich immer aus allem raushält und lieber auf dem Balkon ein bisschen was raucht, entpuppt sich überraschenderweise als Stütze. Trotzdem ist Anke Stellings "Schäfchen im Trockenen" eine rundum desillusionierende Lektüre. Und das ist gut so.
    Anke Stelling: "Schäfchen im Trockenen"
    Verbrecher Verlag, Berlin. 272 Seiten, 22 Euro.