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Anna Kröning
"Deutschland hat ausgelernt"

Überforderte Lehrer, frustrierte Schüler - scheitern die deutschen Schulen an der Integration? Darauf gibt es keine einfache Antwort. Mit ihrem Buch legt die "Welt"-Redakteurin Anna Kröning eine akribisch recherchierte Analyse vor und kommt zu Ergebnissen, die aufhorchen lassen.

Von Christina Janssen |
    Collage: Buchcover Anna Kröning "Deutschland hat ausgelernt", Piper Verlag. Hintergrund: Flüchtlinge und Zuwanderer nehmen 2016 in einem Berufsbildungszentrum am Unterricht teil.
    Lehrer stoßen im "Integrationsort" Klassenzimmer an ihre Grenzen (Buchcover Piper Verlag, Hintergrund: picture alliance / dpa / Arne Dedert)
    Um etwas Entscheidendes vorweg zu nehmen: Der populistisch eingefärbte Untertitel trügt. Die Schulen in Deutschland scheitern nicht an der Integration, sie scheitern an chronischer Vernachlässigung. Das und nichts anderes ist es, was die Journalistin Anna Kröning anprangert.
    "Viele Lehrer sind hoffnungslos überfordert […]. Innerhalb der Schülerschaft entwickeln sich Konflikte. Die Schüler haben unterschiedliche Sprachniveaus und Lernstände. Es gibt nicht genügend Sozialarbeiter und Schulpsychologen, es fehlen Dolmetscher, um mit den Eltern zu sprechen."
    Doch das Ressourcenproblem ist nicht alles. Krönings Recherche offenbart darüber hinaus eine eklatante Planlosigkeit. Schon vor Jahrzehnten hätte es reichlich Gelegenheit gegeben, übergreifende Konzepte zu entwickeln - man denke nur an die sogenannten "Gastarbeiterkinder" aus Italien, Griechenland oder der Türkei. Trotzdem traf das Jahr 2015 die deutschen Schulen weitgehend unvorbereitet.
    "Es gab keine von der Bildungsforschung empfohlenen und von der Politik abgesegneten Schulkonzepte - Wissenschaftler sprechen hier von einem blinden Fleck. Er befindet sich ausgerechnet auf einem der zentralen Aufgabenfelder der deutschen Gesellschaft, der Integrationspolitik."
    Schulen fühlen sich im Stich gelassen
    Die Folge: Motivierte Pädagogen erfinden Schule neu, improvisieren, experimentieren - und stoßen im "Integrationsort" Klassenzimmer an ihre Grenzen. Kröning führt die Gesamtschule Bockmühle in Essen als Beispiel dafür an, dass die fehlenden Investitionen nicht nur spürbar, sondern auch sichtbar sind.
    "Am Eingang hängen Bauplanen, Bohrmaschinen röhren. Seit vier Jahren erneuert man hier den Brandschutz. Dabei soll der Gebäudeklotz irgendwann abgerissen werden und einer neuen Schule weichen. Die Wände der Klassenzimmer hinter den orangefarbenen Türen sind asbestverseucht, die Gänge dunkel; außen wächst Moos auf den Balkonsteinen. 70 Prozent der Schüler haben einen Migrationshintergrund."
    Auch Flüchtlinge besuchen diese Schule, unter ihnen Analphabeten und Jugendliche, die nicht einmal die Grundrechenarten beherrschen. Es ist kaum möglich, sie in den vorgesehenen zwei Jahren Deutschförderung so weit zu bringen, dass sie einen Abschluss machen können. "Das müssen wir alles hier auffangen", sagt die Schulleiterin.
    "Die Wut über die politischen Verfehlungen und den systematischen Verfall, der dazu geführt hat, dass es solche Schulen wie diese gibt, ist groß. An der Bockmühle zeigt sich das ganze Dilemma, sämtliche Lücken - zu wenig Lehrer, zu wenig Förderstunden, zu wenig Räume - aus eigener Kraft füllen zu müssen."
    Bildungsföderalismus und Entscheidungsvakuum
    Landauf, landab hat Kröning Schulen besucht, mit Pädagogen, Schülern und Eltern, Wissenschaftlern und Politikern gesprochen und einen immensen Apparat an Sekundärliteratur ausgewertet. Kröning setzt auf Evidenz statt Emotionen. Die Stärke ihres Buches liegt im Wechselspiel von Reportage-Elementen und akribisch recherchierten Analyse-Passagen.
    "Im EU-Vergleich, aber auch im Vergleich mit den anderen OECD-Nationen ist das deutsche Schulsystem unterfinanziert. Die öffentlichen Ausgaben für Bildung […] von der Grundschule bis zur Hochschule verharren in Deutschland bei 4,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der OECD-Schnitt liegt bei 5,2 Prozent. Um diesen Schnitt zu erreichen, müsste Deutschland jährlich gut 26 Milliarden Euro mehr ausgeben."
    Rucksäcke hängen an einer Garderoba in einer sanierungsbedürftigen Grundschule in Berlin (13.02.2009).
    Viele Schulen sind sanierungsbedürftig (imago / Rolf Zöllner)
    Warum Deutschland das nicht tut? Die Antwort der Autorin ist so einfach wie ernüchternd: weil die Politik es nicht will.
    "Das Bundesministerium für Bildung und Forschung sagt: Zuständig für die Bildung sind die Länder. Die Länder sagen: Für Lehrer haben wir kein Geld, für den Schulbau sind die Kommunen zuständig. Am Ende sind es die Lehrer und Schüler, die unter den Folgen dieser wegdelegierten Verantwortlichkeiten leiden."
    Auf vier Bundesländer hat sich Kröning in ihrer Recherche fokussiert: Bayern, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Sachsen. Anhand dieser Exempel analysiert und bewertet sie unterschiedliche Integrationsansätze, denen aber letztlich eines gemein ist: Flüchtlingskinder haben - wie auch Kinder aus sozial schwächeren Familien - deutlich schlechtere Chancen:
    "[Die Schulen] sollten Integrationsmotoren werden. Das Schulsystem ist aber eher ein Motor der frühen Trennung und des Aussortierens von Schülern, die aus Familien mit nicht akademischem Hintergrund kommen."
    Zwölf-Punkte-Plan für bessere Schulen
    So drohe das deutsche Schulsystem eine Generation der Perspektivlosen hervorzubringen, statt das Potenzial junger Zuwanderer auszuschöpfen. Woran dies scheitert, arbeitet die Autorin in beeindruckendem Detailreichtum heraus: Wie funktionieren die zweijährigen Deutschlernklassen, woher rührt der Lehrermangel, was hat es mit dem Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern auf sich, welche Integrationsmodelle führen in Ländern wie Kanada zum Erfolg…? - Dies ist nur ein Bruchteil der Themenfelder, die Kröning in ihrer von großer Sachkenntnis geprägten Bestandsaufnahme ausleuchtet. Dabei verharrt sie nicht in der Kritik. In Bayern etwa, lobt die Autorin, habe man den Unterricht an den Berufsschulen in enger Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern mustergültig reformiert:
    "Statt komplizierte Fachsprache in zusätzlichen Förderstunden aufzulösen, wird nun im Unterricht alles zusammen für alle Schüler gemacht: Es werden Sprachinhalte und Fachinhalte vermittelt. Jeder Lehrer, egal ob er angehende Bäcker oder Kfz-Mechatroniker unterrichtet, muss nach dem neuen Unterrichtsprinzip vorgehen."
    Am Ende des Buches formuliert die Autorin einen Zwölf-Punkte-Plan für bessere Schulen - von mehr Investitionen bis hin zu einer sinnvollen Verzahnung von Asyl- und Bildungspolitik. Die thematisch bedingte Kleinteiligkeit und ein gewisser Hang zur Redundanz machen die Lektüre mitunter etwas mühsam. Doch sei’s drum. Das Buch ist ein wohltuender Beitrag zu einer Diskussion, der die von Kröning angemahnte Sachlichkeit ausgesprochen gut zu Gesichte stünde.
    Anna Kröning: "Deutschland hat ausgelernt. Wie Schulen an der Integration scheitern und was wir tun können",
    Piper Verlag, 320 Seiten, 20 Euro.