Sie liebte die Kastanien- und Lindenbäume entlang der Prachtstraßen Berlins. Als Anna Louisa Karsch, die am 1. Dezember 1722 im niederschlesischen Hammer geboren wurde, mit ihrer Tochter Caroline in die königliche Hauptstadt kommt, hat die 38-Jährige bereits drei Leben hinter sich: eine bitterarme Kindheit als Kuhhirtin und „Kindwärterin“ der Stiefgeschwister. Sowie zwei glücklose Ehen, in denen sie sieben Kinder gebar. Dem Aufklärer Johann Georg Sulzer gesteht sie: „Nimmer soll es meine Seele vergessen, wie tief herunter ich gesunken, und wie hoffnungslos mein Zustand war.“
Verse machen bei jeder Gelegenheit
Die Karschin, so die damals übliche weibliche Form ihres Namens, besucht keine Schule. Aber ein Onkel lehrt sie Lesen, Schreiben, etwas Latein. Orthographische Besonderheiten kennzeichnen deshalb die Schreibweise der ersten deutschen Dichterin, die als Autodidaktin dem ländlichen Proletariat entstammt. Sie avanciert zur ersten Berufsautorin, ergreift jede Gelegenheit, Verse zu machen. Sie schreibt im Auftrag und bei öffentlichen Anlässen liedhafte Gedichte, die oft vom literarischen Rollenspiel geprägt sind.
Ihr ungewöhnliches Talent - man spricht von „Wunderfrau“ - weckt das Interesse der Zeitgenossen, die eigentlich dem Geniekult verfallen sind. Für Goethe, der gerade den „Werther“ geschrieben hat, ist sie ein Naturkind, das „treu und stark aus dem Herzen“ spricht. Während der Dichterfreund und Förderer Johann Wilhelm Ludwig Gleim sie eine „preußische Sappho“ nennt.
Eine der bedeutendsten Briefschreiberinnen des 18. Jahrhunderts
Karschins Schreiben ist stark autobiografisch geprägt und von einer beeindruckenden Lebensklugheit, die aufhorchen lässt:
Das fein gebaute Moos bleibt, wenn sie
schon gestorben
Tief unter Schnee noch unverdorben.
Wie ähnlich ist es mir? tief lag ich unter
Gram
Viel schwere Jahre lang, und als mein
Winter kam
Da stand ich unverwelkt und fieng erst an
zu grünen.
schon gestorben
Tief unter Schnee noch unverdorben.
Wie ähnlich ist es mir? tief lag ich unter
Gram
Viel schwere Jahre lang, und als mein
Winter kam
Da stand ich unverwelkt und fieng erst an
zu grünen.
Heute gilt die Karschin als eine der bedeutendsten Briefschreiberinnen des 18. Jahrhunderts. Souverän korrespondiert sie mit Goethe, Schiller, teilt alltägliche Beobachtungen sowie ihre Meinungen Wissenschaftlern und Theologen mit. Nahezu 2.000 handschriftliche Originale bewahrt das Gleimhaus Literaturmuseum in Halberstadt auf.
Karschs ikonischer "Tränenbrief"
Besonders ihre Briefe an Gleim, dem sie fast täglich schreibt und den sie liebevoll verehrt, sind aufschlussreiche Zeitdokumente, auch der Empfindsamkeit. So weist ein als „Tränenbrief“ in die Literaturgeschichte eingegangener Brief Lücken auf, die mit echten Tränen gefüllt wurden.
„du iezt niederfallende Trähne, du gehe hinn und sag Ihm daß ich den Ganzen Wehrt Seiner Freundschaft fühle, zürnen Sie nicht mein Vortrefflicher freund daß ich Ihm diese Trähne nachkomen laße, es sind Kinder meiner Liebe die mein Herz untterdrüken muste.“
Die 1764 von Gleim und Sulzer herausgegebenen „Auserlesenen Gedichte“ der Karschin sind ein großer Erfolg. Und doch, oder gerade deshalb, mehren sich die kritischen Stimmen. Selbstbewusst reagiert sie darauf:
„Freylich wird ich auch durch die größte Übung niemahls Einem Klopstokischen Gesang heraus bringen, meine ganze Philosophie und Gelehrsamkeit ist das Gefühl.“
Die Karschin und Friedrich der Große
Auch ihren Empfang bei Friedrich dem Großen, 1763 im Marmorsaal von Sanssouci, verarbeitet sie in einem Gedicht. In einer Vielzahl patriotischer Gesänge hatte sie dem Monarchen gehuldigt, auch als Befreier ihrer schlesischen Heimat. Doch als er ihr zwei Taler zukommen lässt, schickt sie diese zurück, und das, obwohl sie weiterhin in Armut lebt.
Sein Versprechen, für Haus und Unterhalt zu sorgen, löst 25 Jahre danach erst sein Nachfolger, Friedrich Wilhelm II., ein. Das Haus nahe dem Hackeschen Markt wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört.
Den eigenen Nachruhm prophezeit sie, 30 Jahre vor ihrem Tod im Oktober 1791, in „Ob Sappho für den Ruhm schreibt?“ eher nüchtern:
Wenn Du voll Zärtlichkeit bey meiner Asche
weinst
Noch ehe sich die Würmer an mir satt
gefressen,
Dann, Frau, hat schon die Welt mich und
mein Buch vergessen.
weinst
Noch ehe sich die Würmer an mir satt
gefressen,
Dann, Frau, hat schon die Welt mich und
mein Buch vergessen.
Doch ließ ihr Dichterfreund Gleim an der Berliner Sophienkirche eine Gedenktafel errichten, auf der zu lesen ist:
„Hier ruht Anna Louisa Karschin, geborene Dürbach
Kennst Du Wandrer sie nicht, so lerne sie kennen“
Kennst Du Wandrer sie nicht, so lerne sie kennen“