Seit Mai 2021 ist Anna-Nicole Heinrich Präses der Synode der evangelischen Kirche in Deutschland und mit 26 Jahren die jüngste Amtsinhaberin in der Geschichte der EKD. Gerade ihrer Generation falle es schwer, in Worte zu fassen, was derzeit in der Ukraine passiere, sagte sie im Dlf. Auch die christliche Friedensethik stehe nun vor Diskussionen, aber:
„Wir hatten ja bis jetzt auch keine perfekte Antwort, sondern es ist immer eine Spannungsbeschreibung. Und ich glaube, genau darin liegt ja auch der Wert einer christlichen Reflexion von solchen Situationen, dass wir nicht die perfekte Antwort liefern, sondern eher dabei helfen, in aller Spannung irgendwie handlungsfähig zu bleiben.“ Das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine sei unbestritten und damit seien auch Waffenlieferungen gerechtfertigt.
Gesellschaft braucht Kirche – aber Kirche braucht auch Mitglieder
Seit Jahren sind die großen christlichen Kirchen in Deutschland mit sinkenden Mitgliederzahlen konfrontiert. Heinrich sagte, sie hoffe, dass die Kirchen nicht auf dem Weg in die Nische der Gesellschaft seien, aber: „Ich glaube, wir müssen ganz realistisch annehmen, dass wir kleiner werden. Aber es ist auch wichtig, klar zu benennen, dass Kirchenmitgliedschaft einem was bringt, dass es einen Mehrwert hat, Kirche stark zu halten und auch in Kirche zu bleiben.“
Die evangelische Kirche müsse sich die Frage stellen, wie Menschen an Kirche teilhaben könnten, ohne zwingend Mitglied zu sein. „Wir sind in einer Gesellschaft, in der feste Bindung nicht mehr en vogue ist. Das betrifft ja nicht nur die Kirchen, es betrifft ja auch andere Institutionen, das betrifft sogar unser Verhalten bei Handyverträgen.“
Offene Wunden in der Pandemie
In der Covid-19-Pandemie hätten Kirche und Diakonie eine „riesige Leistung“ erbracht. Aber es gebe Themen, da hätte Kirche vehementer eintreten müssen, sagte Heinrich. „Besuche in Altenheimen, Besuche von Sterbenden, der Umgang mit Tod und Trauer, dort sind Wunden aufgerissen, bei denen wir noch viel Arbeit reinstecken werden, die wieder zuzumachen.“
Nicht mehr an der Spitze der Klimabewegung
In den 70er- und 80er-Jahren war die Evangelische Kirche in Deutschland wichtiger Teil der Umweltschutzbewegung, diese Rolle habe man nicht mehr, sagte Heinrich. „Aktuell sind wir als Kirche nicht mehr Teil der Spitze dieser Gesamtbewegung. Das soll nicht heißen, dass nicht auf Gemeindeebene oder dass es nicht auch Projekte gibt, kirchliche Projekte, die sich wirklich sehr stark mit diesem Thema auseinandersetzen, aber insgesamt gehören wir nicht mehr zur Spitze. Ich finde es aber auch nicht schlimm, denn es gibt starke Akteurinnen, die diese Rolle jetzt ausfüllen.“ Als Kirche habe man jetzt die Chance, eine neue Rolle zu finden.
Das Interview im Wortlaut:
Benedikt Schulz: Seit knapp einem Jahr ist Anna-Nicole Heinrich, Präses der Synode der evangelischen Kirche, im Amt. Sie ist die bisher jüngste Amtsinhaberin. Im Alter von 25 Jahren wurde sie gewählt. Sie studiert an der Universität Regensburg, ist dort wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Homiletik der Fakultät für katholische Theologie.
Anna-Nicole Heinrich: Dankeschön für die Einladung.
Schulz: Frau Heinrich, man kann in diesen Tagen eigentlich kein Interview führen, ohne über das bestimmende Thema dieser Tage zu reden, der Krieg in der Ukraine. Sie stammen ja selbst aus einer Generation, die auch den kalten Krieg gar nicht mehr aus eigener Anschauung kennt. Sie sind aufgewachsen in Jahrzehnten des Friedens in Europa. War Europa, war der Westen, möglicherweise zu naiv in den vergangenen Jahren?
Heinrich: Sie haben schon ganz gut eingeleitet – ich kann das aus meiner Profession heraus gar nicht wirklich bis zu Ende denken und kann deswegen, glaube ich, die Frage auch gar nicht beantworten. Ich kann für mich persönlich sagen, dass ich vermutlich naiv auf die letzten Entwicklungen geschaut habe. Weil ich muss ganz ehrlich sagen, ich habe nicht damit gerechnet, dass vor wenigen Wochen mitten in Europa ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg ausbrechen könnte. Und auch wenn es irgendwie ein Stück weit naiv klingt, merke ich auch, wie schwer es gerade meiner Generation fällt, das in Worte zu fassen, was da passiert. Und diese Konfrontation mit der Frage, haben wir uns sozusagen als Deutschland - politisch, diplomatisch - naiv verhalten, ist deshalb irgendwie schwer zu beantworten. Ich habe ein bisschen das Gefühl, die Situation ist gerade so – ich versuche das einfach mal in ein Bild zu fassen –, wie wenn wir zusammen ein Brettspiel spielen. Und das Brett liegt die ganze Zeit auf dem Tisch und vielleicht gibt es auch Menschen, die die Regeln ein Stück weit brechen, aber das Brett liegt die ganze Zeit auf dem Tisch, und auf einmal kommt jemand und schmeißt das Brett einfach vom Tisch. Und das ist irgendwie so eine Form von Aggression, die es, glaube ich, vorher nicht gegeben hat und die uns vielleicht jetzt so ein bisschen in unserer Naivität überrumpelt, die aber so neu ist, dass wir, glaube ich, ganz neu lernen müssen, damit umzugehen. Persönlich, politisch, diplomatisch.
"Die Ukraine hat alles Recht, sich dort zu verteidigen"
Schulz: Sie können ja als Vertreterin der EKD durchaus auch mit Stolz zurückblicken, auf die Rolle der evangelischen Kirche in der Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland, in den 80er-Jahren. Da müssen Sie aber auch in diesen Tagen in gewisser Weise zur Kenntnis nehmen, dass diese Friedensbewegung ein moralisches Ende erreicht hat, oder?
Heinrich: Ich glaube, die steckt in genau der gleichen Dilemmata-Situation. Eigentlich genau in diesem Moment, wo das Brett vom Tisch geworfen worden ist, wo wir an unseren Grundsachen, woran wir auch weiterhin festhalten, nämlich dass Gespräche zum Frieden führen, ein Stück weit durchgerüttelt worden sind, weil das eben aktuell nicht mehr so scheint. Und ich glaube, es ist trotzdem wichtig, in dieser Dilemma-Situation irgendwie zu bleiben, nicht davon abzulassen, dass Frieden am Tisch entsteht und dabei alle Bemühungen aufrecht zu erhalten, wirklich Zusammenarbeit zu gestalten, wieder persönlich, kirchlich, geistlich, politisch, und trotzdem natürlich anzuerkennen und ganz klar zu benennen: Das ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, den Putin, den Russland, gegen die Ukraine führt. Und die Ukraine hat alles Recht, sich dort zu verteidigen. Und das ist, glaube ich, der Punkt, der jetzt innerhalb der protestantischen Friedensethik diskutiert wird und sicher auch weiter diskutiert wird. Und ich glaube, das ist auch wichtig, weil das ist ja auch was, womit wir lernen müssen umzugehen und auf diesem Grat sozusagen weiterzuwandern. Bei allen Friedensbemühungen und auch pazifistischen Bewegungen anzuerkennen, da geschieht Unrecht und die Ukrainer*innen haben ein Recht, sich zu verteidigen.
Schulz: Genau, „Dilemma“ ist eigentlich ein gutes Stichwort. Die EKD-Kirchenkonferenz hat jetzt noch vor wenigen Wochen, im März, ein Positionspapier veröffentlicht. Und wenn es da um die militärische Selbstverteidigung der Ukraine geht, da wird der Ton – ich sage mal – eher etwas unbestimmt. Ich zitiere mal kurz:
„Auf der Grundlage des Evangeliums sind wir zutiefst davon überzeugt, dass Frieden letztlich nicht mit Waffengewalt zu schaffen ist. Dennoch sehen wir das Dilemma verschiedener Optionen, zwischen dem grundsätzlichen Wunsch nach einer gewaltfreien Konfliktlösung und dem Impuls, angesichts eines Aggressors, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen."
Frau Heinrich, ich spitze es jetzt mal bewusst ein bisschen zu. Also, Sie als EKD, Sie sehen das Dilemma, aber die Konsequenz, die Antwort bleiben Sie schuldig?
Heinrich: Da haben Sie ja jetzt den Kernsatz, der danach folgt, weggelassen. Danach steht nämlich, dass das Selbstverteidigungsrecht unbestritten ist. Und ich glaube, also das ist zumindest für mich der Satz, der in der Stellungnahme der Ausschlaggebende ist, und damit auch Waffenlieferungen rechtfertigt.
Wichtig darauf zu hören, was die Ukrainer und Ukrainerinnen brauchen
Schulz: Genau, „Waffenlieferung“ ist natürlich ein gutes Stichwort ebenfalls. In Berlin, in der Berliner Ampelkoalition, wird ja genau darüber aktuell debattiert, ob Deutschland eben nicht nur Waffen, sondern auch schwere Waffen liefen soll, an die Ukraine. Das wäre ja in der Tat eine ganz neue Dimension der Beteiligung an diesem Krieg. Wie ist Ihre Haltung, wie ist die Haltung der EKD eben zu der Frage: Schwere Waffen liefern, Ja oder nein?
Heinrich: Ich spreche von meiner Haltung und da muss ich natürlich vorneweg sagen, dass zu beurteilen, welche Waffen dienlich für die Ukrainer*innen zur Verteidigung ihres Landes sind, das liegt nicht in meinem Kompetenzrahmen. Und ich glaube auch – ich referiere noch mal zurück auf dieses unbestrittene Selbstverteidigungsrecht der Ukrainer*innen –, ich glaube, wir sind gerade in einer Situation, wo es wichtig ist, dass wir darauf hören, was die Ukrainer*innen brauchen, um ihr Land zu verteidigen, um sich dieser grausamen, systematischen Gewalt wirklich entgegenzusetzen und sich wehren zu können. Und welche Waffen – ob leichte, ob schwere Waffen – dafür notwendig sind, müssen als allererstes die Ukraine*innen entscheiden und dann die Politik, welche die liefern wird.
Schulz: Genau, aber die Entscheidung auf Seiten der Ukraine mindestens ist ja schon gefallen. Dort ist ja die Forderung klar formuliert worden nach schweren Waffen. Trotzdem braucht man ja eine Antwort der Kirchen dazu oder eine Haltung der Kirchen.
Heinrich: Meine persönliche Haltung dazu ist, Waffen werden Menschen töten. Und wenn wir das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine anerkennen – was wir tun – und dadurch auch Waffeneinsatz legitimieren, ist es für mich zweitrangig, ob das leichte oder schwere Waffen sind. Und ein Stück weit habe ich aber auch das Gefühl, es scheint so ein kleiner Nebenschauplatz zu sein. Weil eigentlich schwingt doch die Frage mit, inwieweit wir politisch bereit sind, uns in diesen Krieg weiter einzumischen. Und ich glaube, diese Frage entscheidet sich nicht daran, ob wir leichte oder schwere Waffen liefern, sondern eigentlich sind wir Teil dieses Krieges, denn er findet mitten in Europa statt.
Schulz: Und muss denn angesichts eben eines Angriffskrieges, der mitten in Europa stattfindet, christliche Friedensethik neu gefasst werden? Und wenn ja, wie?
Heinrich: Ich glaube, dass diese Situation, diese neue Aggression in dieser Welt auf alle Fälle dazu führen wird, dass wir wieder in Diskussionsprozesse gehen. Aber ich würde niemals zusagen, dass wir ... wir hatten ja bis jetzt auch keine perfekte Antwort, sondern es ist immer eine Spannungsbeschreibung. Und ich glaube, genau darin liegt ja auch der Wert einer christlichen Reflektion von solchen Situationen, dass wir nicht die perfekte Antwort liefern, sondern eher dabei helfen, in aller Spannung irgendwie handlungsfähig zu bleiben und Christ*innen Ideen, Motive, Argumentationen anbieten, in denen sie sich selbst eine Meinung bilden können.
"Die Schuldfrage betrifft uns auf so vielen Ebenen"
Schulz: Jetzt hat Ihr Kollege, der EKD-Friedensbeauftragte Friedrich Kramer, vor kurzem gesagt: ‚Im Krieg gibt es eigentlich immer nur Falsch oder Falscher – wer keine Waffen liefert macht sich schuldig, wer Waffen liefert macht sich genauso schuldig.‘ Was glauben Sie denn, welche Schuld wiegt in diesem Fall denn mehr?
Heinrich: Ich glaube, das lässt sich nicht gegeneinander abwiegen. Die Frage der Schuld dieser Kriegssituation ist eine, die uns ja auf ganz vielen verschiedenen Ebenen beschäftigt, bis hin zur persönlichen. Ich, als Mensch, der noch nie Krieg erlebt hat und das eigentlich nur aus den Geschichtsbüchern kennt und da ja ganz oft auch die Sprache davon war, machen wir uns, wenn wir untätig zuschauen, sozusagen schon als Individuen schuldig, also, ich glaube, diese Schuldfrage betrifft uns auf so vielen Ebenen und darf nicht gegeneinander aufgewogen werden. Wo ich Friedrich Kramer zustimme ist: Waffen töten Menschen und wer einen Menschen tötet, überschreitet eine Grenze, macht sich schuldig, kann aber auch mit dieser Schuld leben.
Schulz: Die größte Kirche der orthodoxen Welt, also das Patriarchat von Moskau, hat sich ja ziemlich wortgewaltig hinter diesen Krieg gestellt. Können Sie oder wollen Sie den Dialog mit dieser Kirche – bei allem Willen zur Ökumene – noch aufrechterhalten?
Heinrich: Gut, da würde ich gerne ein bisschen ausholen und sozusagen ein bisschen schärfen, was Russische Orthodoxe Kirche beziehungsweise orthodoxe Kirche/Moskauer Patriarchat so ein bisschen ist. Weil, ich habe das Gefühl, gerade der Begriff Russisch-Orthodoxe Kirche suggeriert immer sehr schnell, dass es sozusagen die russische Staatskirche ist – und das ist es eben nicht. Die Russische Orthodoxe Kirche ist eine große Kirche und dazu gehört auch das Moskauer Patriarchat, wo Kyrill – worauf Sie gerade referiert haben – sich ganz klar pro-Putin positioniert. Aber zu diesem Moskauer Patriarchat gehört eben in gleicher Weise auch die Ukrainische Orthodoxe Kirche, auch die Belarussische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats. Und ich glaube, das ist ganz, ganz wichtig wahrzunehmen, dass auf beiden Seiten der Konfliktlinie Akteur*innen der Russischen Orthodoxen Kirche sitzen. Und deshalb ein ganz klares: Nein, wir brechen Gespräche zur Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriachats und auch zur Russischen Orthodoxen Kirche nicht ab.
Schulz: Frau Heinrich, ich habe es schon gesagt, Sie sind die jüngste Präses der EKD-Synode, seit es dieses Amt gibt. Jetzt, in Zeiten des massenhaften Ausstiegs eben nicht nur, aber eben auch vieler junger Leute aus den christlichen Kirchen, warum sollten junge Menschen Mitte Zwanzig sich eigentlich noch für die christlichen Kirchen interessieren?
Heinrich: Ganz persönlich würde ich sagen, weil ich das Gefühl habe, dass man als Christ*in ein Stück weit besser durch die Welt kommt oder generell als gläubiger Mensch. Ich kann ein Beispiel nehmen. Also, ich glaube, gerade diese Kriegssituation – ich habe ja vorher schon davon gesprochen, dass ich da vielleicht auch einen bisschen naiven Blick drauf habe –, das ist ja schon was, was mich auch einfach persönlich sehr betrifft. Und jetzt gerade in dieser Osterzeit zum Beispiel, wo wir ja irgendwie hin und her wanken zwischen, jetzt war erst Karfreitag, da ist Jesus gestorben, da ist der Tod, da ist sozusagen das totale Leid, dann kommt dieser Karsamstag, wo man so in der Luft hängt und jetzt ist Ostersonntag und auf einmal ist er auferstanden und eigentlich ist es irgendwie Friede-Freude-Eierkuchen und Hoffnung. Also, das ist ja nur symbolisch sozusagen oder gerade für mich als Christin symbolisch für einen Weg, den ich ziemlich oft in meinem Leben durchlaufe, von Momenten, die sehr düster sind, in denen viel Leid herrscht, bis hin zu Momenten, die sehr hoffnungsvoll sind. Und mein Glaube und meine ständige Reflektion in dieser Spannung helfen mir irgendwie dabei, praktisch und handlungsorientiert weiterlaufen zu können. Also, ich würde es immer so ein bisschen sagen, dass mich mein Christsein stärker darin macht, auf dem Schwebebalken zwischen Gut und Böse irgendwie weiterlaufen zu können und einen Weg zu finden, in ganz kleinen, aber eben auch in großen Krisen.
"Unsere Gesellschaft braucht Kirche"
Schulz: Aber der Erfolg ihrer Botschaft – also der Botschaft der Kirchen – ist ja eigentlich aktuell, muss man so sagen, eher überschaubar. Eine in diesen Tagen veröffentlichte Prognose von der Forschungsgruppe Weltanschauung, in Deutschland veröffentlicht, die sagt, was schon etwas länger erwartet wurde: Erstmals rutscht die Zahl der Mitglieder der großen Kirchen in Deutschland unter die 50-Prozent-Marke, Tendenz weiter fallend. Und da frage ich mich schon, braucht unsere Gesellschaft die Kirchen überhaupt noch, wenn mehr als die Hälfte der Bevölkerung diese Frage schon längst mit Nein beantwortet hat?
Heinrich: Also, ich würde sagen, die Christ*innen brauchen Kirche, weil Kirchengemeinschaft organisiert, in dem genau das reflektiert werden kann, was ich gerade erzählt habe. Kirche ist eine große Institution, die nicht nur Glauben vermittelt, sondern auch Glauben lebt. Diakonie und Kirche ist nicht zu trennen, das sind wichtige Pfeiler unserer Gesellschaft. Und Kirche ist schon auch eine Stimme in unserer Gesellschaft, auch wenn wir jetzt unter die 50 Prozent Mitglieder – evangelisch und katholisch – gefallen sind. Somit: Ja, ich würde eindeutig sagen, unsere Gesellschaft braucht Kirche. Aber man muss auch ganz ehrlich sagen, Kirche braucht Mitglieder – das ist natürlich auch nicht von der Hand zu weisen.
Schulz: Sind sie denn auf dem Weg zur Nische? Und wenn ja, können sie sich in dieser Nische einrichten, in der deutschen Gesellschaft?
Heinrich: Ich habe die Hoffnung, dass wir nicht auf dem Weg in die Nische sind. Ich glaube, wir müssen ganz realistisch annehmen, dass wir kleiner werden werden. Aber ich glaube, es ist auch wichtig, klar zu benennen, dass Kirchenmitgliedschaft einem was bringt, dass es einen Mehrwert hat, Kirche stark zu halten und auch in Kirche zu bleiben. Und auf der anderen Seite – sozusagen jetzt aus unserer Kirchenperspektive heraus – müssen wir uns, glaube ich, auch neue Gedanken machen, wie erlauben wir Leuten teilzuhaben, die sich nicht so fest binden wollen. Also, ich habe nicht das Gefühl, sondern wir sind ja in einer Gesellschaft, da ist feste Bindung nicht mehr so richtig en vogue – das betrifft ja nicht nur die Kirchen, das betrifft ja auch andere Institutionen, das betrifft sogar unser Verhalten bei Handyverträgen. Also, wenn ich jetzt den Einmonatsvertrag abschließen kann und er mich nicht mehr kostet als der 24-Monatsvertrag, nehme ich natürlich den Einmonatsvertrag, weil ich schneller wieder rauskommen würde, wenn es mir doch nicht gefällt oder wenn es mir doch nicht das gibt, was ich brauche. Und ich glaube, da neue Wege zu gehen, auch als Kirche die Menschen anzusprechen, punktuell ihnen zu erlauben, sich Sachen mitzunehmen, Impulse mitzunehmen, ohne sie gleich festzuhalten und festzubinden, das sind, glaube ich, Wege, die uns hoffentlich nicht in die Nische führen, sondern breit wahrnehmbar bestehen lassen.
Kirche und Diakonie haben während der Pandemie "eine riesige Leistung erbracht"
Schulz: Jetzt leben wir ja seit etwas mehr als zwei Jahren in so einem merkwürdigen Ausnahmezustand, nämlich in einer Pandemie. Und das ist ja eine Zeit, in der sich viele gläubige Menschen Halt und Orientierung, Sinnstiftung gewünscht haben von den Kirchen, eben auch von Ihrer Kirche. Und da sind die Kirchen in der Pandemie teils recht deutlich kritisiert worden, dass man eigentlich wenig zu sagen gehabt hätte. Ich zitiere mal einen Journalisten, Heribert Prantl, der hat gesagt: „Die öffentlichen kirchlichen Äußerungen wirkten, wenn auch von Verantwortung und Nächstenliebe tönend, kleinmütig und ziemlich angepasst.“ Wie stehen Sie zu dieser Kritik?
Heinrich: Ich glaube, man muss schon daneben legen, dass Kirche und vor allem auch Diakonie während dieser Krisenzeit eine riesige Leistung erbracht haben und wirklich professionell in der Situation - auf die wir auch nicht vorbereitet waren – reagiert haben und überall, wo möglich, Hilfsstrukturen zur Verfügung gestellt haben. Ich glaube, das hat vor allem still stattgefunden. Und deshalb ist der Vorwurf – Heribert Prantl bezieht sich ja auch auf die Verlautbarungen –, die wirken vielleicht etwas klein, aber ich bin schon in der Rückbetrachtung der Überzeugung, die wirken klein, weil wir uns aufs Richtige konzentriert haben, nämlich auf die konkreten Entscheidungen und Hilfsstrukturen vor Ort.
Schulz: Aber hätte man nicht sich ein klares, auch lautes, öffentlich verlautbartes Wort gewünscht von Seiten der EKD?
Heinrich: Ich glaube, es gibt natürlich Themen, wo man im Rückblick sagt, da hätte man vehementer eintreten müssen – gerade für die Rechte von vulnerablen Gruppen. Also, ein Thema, was ja auch immer wieder genannt wird, ist das Thema der Besuche in Altenheimen, der Besuche von Sterbenden, dem Umgang mit Tod und Trauer in diesen Situationen. Das sind, glaube ich, Wunden, die dort aufgerissen worden sind bei vielen, wo wir noch viel Arbeit reinstecken werden, die wieder zuzumachen. Und ich glaube, wir haben da auch Sachen mitgenommen, die wir in Zukunft vehementer vertreten würden. Aber das sozusagen jetzt maßgeblich in den Mittelpunkt zu rücken, glaube ich, würde die Sache ein Stück weit verziehen. Denn irgendwie hat diese Zeit ja – ohne es schönreden zu wollen – schon auch ein Stück weit dazu geführt, dass wir uns einer gewissen Selbstvergewisserung unterzogen haben und eben rauskommen und währenddessen schon gemerkt haben, es gibt Kernbereiche von Kirche, die gerade in solchen Situationen notwendig sind: Seelsorge, da sein für die Menschen, ansprechbar sein, Möglichkeit für Trauer, Zweifel, Klage anzubieten und trotzdem dabei die Hoffnungsperspektive nicht zu verlieren, sie aber eben auch nicht zu schönen.
Schulz: Frau Heinrich, ein Thema, das sicherlich zu Austritten aus Ihrer Kirche geführt hat, das müssen wir ansprechen. Die EKD – nicht nur, aber auch die EKD – wird kritisiert für ihren Umgang mit den Opfern sexualisierter Gewalt, für schleppende Aufklärung, zuletzt konkret für die einseitige Aussetzung der Arbeit des Betroffenenbeirates. Das ist kritisiert worden unter anderem von Johannes-Wilhelm Rörig, bis vor kurzem ja noch der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung. Und der hat das als eine einseitige Machtausübung bezeichnet – und man kann dem ja kaum widersprechen. Was haben Sie für einen Erklärung für diese Art des Umgangs mit Betroffenen?
Heinrich: Die Grundannahme, mit der wir alle unsere Bemühungen bei Prävention, Aufarbeitung und Intervention vollziehen ist, dass wir wollen, dass das nicht wieder passieren kann. Und genau diese gleiche Grundüberzeugung haben auch die Betroffenen, die an unterschiedlichsten Stellen partizipieren, zusammen mit kirchlicher Struktur, aber auch außerhalb davon. Und das jetzt wieder als Grundlage zu nehmen, Betroffenenbeteiligung neu aufzubauen, neu zu denken, das haben wir uns zur Aufgabe gemacht, das haben wir auch vielschichtig verortet und das wird jetzt auch angegangen. Und es hilft uns, da wirklich den Blick nach vorne zu haben, mit den Betroffenen zusammen jetzt auch zeitnah die Gespräche aufzunehmen, um gemeinsam zu gucken, ob das Modell, was von extern sozusagen erarbeitet worden ist, jetzt dann weiterträgt.
Schulz: Es ist ja geplant, eine synodale Kommission, die das Thema auf den Jahrestagungen der EKD sozusagen in der Debatte halten soll. Da heißt es jetzt im Beschluss der Synode vom vergangenen November, Zitat: „Das Präsidium trägt dafür Sorge, dass auch Perspektiven von betroffenen Personen zur inhaltlichen Arbeit der Synode einfließen.“ Und ja, das klingt gut, aber auch ein bisschen wolkig. Und da frage ich mich, wie soll denn das konkret umgesetzt werden und was sagen Sie den Betroffenen, die – bislang zumindest – ja nicht so gute Erfahrungen gemacht haben mit Ihrer Kirche?
Heinrich: Wir haben auf der Synode im Herbst ja Betroffene zu Wort kommen lassen und dadurch ist gerade auch zum Präsidium hin, gerade auch zu mir als Präses, natürlich ein Stück weit ein Kommunikationskanal, eine Beziehung entstanden, und dass ist jetzt auch gerade in der Phase, wo wir überlegen, wie wir diese Vorbereitung der Synode umsetzen. Es geht ja im Kern darum, dass das ein Dauerthema ist, das ist kein Thema, was uns nur einmal beschäftigten darf, sondern das steht immer auf der Tagesordnung. Und das steht auch auf der Tagesordnung, wenn wir irgendwann an dem Punkt wären, dass wir sagen, unsere Präventionskonzepte sind wirklich an allen Stellen umgesetzt. Alles Mögliche, was wir tun wird es nicht verhindern, dass es nicht doch an manchen Stellen passiert. Deshalb ist es wichtig, dass es ständig auf der Tagesordnung bleibt.
Dafür war dieser Antrag da und eben, dass wenn es auf der Tagesordnung ist, es immer mit Betroffenen zusammen erarbeitet werden soll und muss, wie das dort stattfindet. Und dieser entstandene Kommunikationskanal, über die schon auch schwer auszuhaltende Situation so einer direkten Konfrontation, aber eben auch dem gegenseitigen Annehmen in dieser Grundannahme, dass wir alle hier nach bestem Wissen und Gewissen handeln, weil wir wollen, dass das nicht mehr passieren kann, hat eine Kommunikationsebene aufgemacht, die gerade auch zu der guten Lage führt, dass wir mit einzelnen Betroffenen im Kontakt sind und auch unsere aktuellen Überlegungen immer wieder rückspiegeln können, sodass wenn wir im Herbst dann das erste Mal mit einer Struktur den Tagesordnungspunkt vorbereitet haben werden, sagen können und ihn dann auch gemeinsam mit Betroffenen vorbereitet haben werden.
Sorge über Klimawandel: "Die Zeit zu handeln, ist jetzt."
Schulz: Frau Heinrich, lassen Sie uns zum Schluss über ein Thema reden, dass gerade Ihre Generation ziemlich nachdrücklich auf die Agenda gesetzt hat, nämlich der menschgemachte Klimawandel. Wie viel Sorgen macht Ihnen persönlich der globale Temperaturanstieg?
Heinrich: Sehr. Ich habe erst letzte Woche einen Ausschnitt in dem Bericht des Weltklimarates gelesen. Also den dritten Teil, der ja jetzt Handlungsoptionen sozusagen aufzeigt, der ganz klar sagt: Die Zeit zu handeln ist jetzt. Und ich habe das Gefühl, das sagt er eigentlich seit 40 Jahren und es wird nicht weniger bedrohlich, was sie schreiben. Somit persönlich wahrgenommen eine große Bedrohung.
Schulz: Jetzt ist es so, dass Nichtregierungsorganisationen, zivilgesellschaftliche Bündnisse – Fridays for Future zum Beispiel – sich um dieses Thema kümmern, die Wissenschaft – sowieso – ist damit befasst. Religionsgemeinschaften und eben auch die evangelische Kirche haben eigentlich zu diesem Megathema nicht so richtig viel zu sagen, ist mein Eindruck, oder?
Heinrich: Spannende Wahrnehmung. Ich würde tatsächlich sozusagen analysieren in eine Zeit zurück, in der ich selber noch nicht gelebt habe, aber ich glaube, in den 70er/80er Jahren wäre diese Aussage wahrscheinlich so nicht gefallen. Da, glaube ich, haben kirchliche Akteur*innen die Debatte maßgeblich mit angestoßen. Aber ich glaube, es ist auch total richtig, was Sie sagen. Aktuell sind wir als Kirche nicht mehr Teil der Spitze dieser Gesamtbewegung. Also, das soll nicht heißen, dass nicht auf Gemeindeebene oder dass es nicht auch Projekte gibt, kirchliche Projekte, die sich wirklich sehr stark mit diesem Thema auseinandersetzen. Aber gesamtwahrgenommen gehören wir nicht mehr zur Spitze. Ich finde aber auch, dass ist eigentlich nicht schlimm, denn es gibt starke Akteur*innen, die diese Rolle jetzt ausfüllen, und wir als Kirche haben jetzt die Chance, eine neue Rolle zu finden.
Schulz: Aber haben Sie nicht als Kirche eine Chance verpasst? Also, Sie haben natürlich die 70er/80er Jahre angesprochen, auch die Anti-AKW-Bewegung, da war die Evangelische Kirche wichtig. Jetzt, wo es eben um dieses existenzielle Thema Klimawandel geht, da sind Sie doch ein bisschen ins Hintertreffen geraten – haben Sie da eine Chance verpasst?
Heinrich: Ich glaube, wir haben in den 70er/80er Jahren als Gesellschaft eine Chance verpasst, das wirklich ernst zu nehmen, was uns damals schon vor Augen geführt worden ist – oder ich könnte ja auch als junge Person sagen, was euch damals schon oder was Ihnen damals schon vor Augen geführt worden ist. Ich glaube, als Kirche müssen wir jetzt eine Rolle finden, wo wir uns mehr als Ermöglicher*innen verstehen, dass es eben jetzt wahrgenommen wird. Und das, glaube ich, setzt auf ganz unterschiedlichen Ebenen an. Das ist natürlich einmal, dass wir als Kirche einfach eine riesige Institution sind, die wahrgenommen wird, auf die geschaut wird, und da müssen wir glaubwürdig handeln.
Also, glaubwürdiges Handeln von großen Institutionen ist, glaube ich, eine wichtige Sache, um diese Gesamtbewegung weiter voranzutreiben. Also, eigene Klimaneutralität angehen, sich ernst machen, verbindliche Richtlinien schaffen und mit gutem Beispiel vorangehen. Und dann, glaube ich, gibt es noch zwei andere Punkte, nämlich die Verantwortung übernehmen, dass wir als Kirche nach innen, gerade zu unseren Hochverbundenen auch über die Diakonie sehr unterschiedliche Milieus erreichen, auch Milieus, die bis jetzt wenig sensibilisiert sind für das Thema und dort wirklich mit dem Thema aufschlagen. Und zwar Ängste nehmen, aber auch Verantwortung aufzeigen oder Verantwortungsräume aufzeigen und aufzeigen, dass es im direkten Zusammenhang mit unserem persönlichen Leben steht und eben keine Meta-Diskussion ist, die uns doch wahrscheinlich eh nicht betreffen wird.
Doch, der Klimawandel betrifft uns als Menschen! Und ich würde noch hinzusetzen – und das ist das, wo ich in letzter Zeit auch viel drüber nachgedacht habe –, was kann Kirche sozusagen in dieser Gesamtbewegung irgendwie nochmal reinbringen, was den Menschen noch mehr Hoffnung und Mut gibt, auch weiter einzutreten. Ich habe vor kurzem mit Klimaaktivistinnen von Fridays for Future gesprochen und da habe ich auch sehr viel Frustration erlebt. Dieses ständige Gegen-Mauern-Laufen zum Beispiel, das fand ich schon auch irgendwie ein Stück weit befremdlich, dieses im Grunde öffentliche Nicht-Wahrnehmen des dritten Teils des Berichts des Weltklimarates, das lässt Leute ein Stück weit verzweifeln. Und ich glaube, wir als Kirche, wir als Christ*innen haben da Erzählungen, haben da Rituale, wo genau das Platz hat, die Klage und der Zweifel, aber wo wir den Leuten eben auch einen Raum bieten können, wo sie wieder Hoffnung schöpfen können. Und natürlich die internationale Perspektive. Wir sind als Kirche weltweit vernetzt und Klimagerechtigkeit ist auch eine Frage zwischen Nationalitäten, zwischen Ländern, zwischen Kontinenten. Und da immer wieder das Licht hinwirken, auf unsere internationalen Partner*innen, zu zeigen, wo das Leid ist, dahin zu zeigen, wo die Armen sind und gleichzeitig zu sagen: Wir sind dafür verantwortlich, ich glaube, das ist eine Rolle, die uns als Kirche gut stehen könnte und die Gesamtbewegung damit auch gut stärken würde.
Schulz: Anna-Nicole Heinrich, Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihre Zeit.
Heinrich: Danke auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.