Für Freud und seinen Kollegen Breuer war die Patientin Bertha Pappenheim ein für ihre Zeit typischer Fall der weiblichen Hysterie. Bertha war als 21jährige 1880 bei Breuer in Behandlung gekommen, weil sie unerklärliche Symptome entwickelt hatte, wie das Vergessen von Menschen und Wörtern, Hustenanfälle und Lähmungen. Zeitweilig erblindete sie sogar. Breuer behandelte sie zunächst unter Hypnose und dann durch eine reine Sprechtherapie, in der es Bertha Pappenheim gelang, nach und nach verdrängte Erinnerungen wieder zu aktivieren. Für Breuer kommen in ihrer Krankheit verborgene sexuelle Konflikte wieder zum Vorschein, die sich aus der beinahe inzestuösen Beziehung zum Vater entwickelt hatten. Tatsächlich verschwanden die Symptome in der Therapie, doch offenbar hat Breuer seine persönlichen Wünsche gegenüber Bertha Pappenheim nicht ganz von seiner therapeutische Beziehung trennen können. Die genauen Umstände dieser Liaison kann auch die Biographin Marianne Brentzel nicht ganz klären. Fest steht allerdings, dass die Therapie bei Breuer abrupt abbricht. Nach einem kurzen Sanatoriumsaufenthalt wird Bertha Pappenheim jedoch als geheilt entlassen. Damit endet das Leben der Anna O. Sie lebt jetzt ausschließlich unter ihrem richtigen Namen Bertha Pappenheim weiter.
Für mich war spannend die Erkenntnis, dass es da offensichtlich zwei ganz verschiedene Welten gibt. Da gibt es einmal die Anna O. und über die ist unendlich geforscht, in der Fachliteratur hin und her debattiert worden. Und dann gibt es die Bertha Pappenheim, die ihr ganzes übriges Leben der sozialen Arbeit gewidmet hat und über die ist eigentlich relativ wenig gearbeitet worden und die ist in Vergessenheit geraten.
1888 zog Bertha Pappenheim mit ihrer Mutter von Wien nach Frankfurt, wo sie sich sehr schnell in der Wohltätigkeit engagierte und erkannte, dass Almosen und Spenden als Soziapolitik allein nicht ausreichen können. Sie arbeitete in einem Verein zur Erziehung und Ausbildung jüdischer Waisenkinder, für die sie um die Jahrhundertwende erst in Frankfurt und dann in Neu-Isenburg ihr Heim aufbaute, das sie bis in die dreißiger Jahre leitete. Doch das war nur ein Teil ihrer jahrzehntelangen sozialen Arbeit. Eine entscheidende weitere Seite ihres Lebens wurde das Engagement für den Jüdischen Frauenbund. Dort suchte sie nach einer Verbindung zwischen Feminismus und Judentum. Sie kritisiert zeit ihres Lebens das Frauenbild in der jüdischen Religion.
Bertha Pappenheim hat ja diese Festlegung, dass die Zugehörigkeit zur Religion matrilinear definiert ist, die hat sie sehr ernst genommen. Für sie waren eigentlich die Frauen diejenigen, die die religiösen Kenntnisse weitergeben sollen und die dafür standen, dass überhaupt die jüdische Religion weiter existierte. Das war ihr Hauptanliegen auch bei der Gründung des jüdischen Frauenbundes, der zweite neben der sozialen Arbeit und das hat ihr ganzes Leben bestimmt. Und ich glaube, wenn diese Gedanken weiterentwickelt worden wären, dann auch sowas wie eine feministische Theologie auch im jüdischen Bereich hätte entwickelt werden können.
Die soziale Kämpferin und jüdische Feministin Bertha Pappenheim versuchte über dreißig Jahre lang, eine Brücke zu schlagen zwischen ihren beiden Lebensthemen. Sie scheiterte dabei aber nicht selten an der Realität und ein wenig auch an ihrem recht konservativen Frauenbild, in dem es Sexualität praktisch nicht gab, in dem Frauen nach wie vor dem traditionellen Bild verhaftet blieben. Sie bekämpfte besonders heftige den Mädchenhandel, die Ausbeutung von Sexualität und die Prostitution. Dies tat sie so konsequent, dass sie selbst eigene Sexualität vermied. Ihre dennoch vorhandene Sehnsucht nach Liebe und Nähe kamen nur in ihren veröffentlichlichten Gedichten und Erzählungen zum Ausdruck. Ob es hier einen Zusammenhang zu der eigenen traumatischen Erfahrung in der Jugend gibt, kann man nur vermuten, eindeutig belegen es die bekannten Dokumente nicht.
Diese Zusammenhänge scheinen so auf, wenn sie mit solcher Erbitterung männliche Sexualität negativ darstellt und immer wieder hervorkehrt, dass es die Opfer ja nicht geben würde, wenn es keine Täter gebe und die Täter halt die Männer sind, die die Frauen zur Prostitution zwingen. Da kommt ein emotional sehr starker ja richtiger Hass hoch und den verarbeitet sie ja auch literarisch. Da denke ich mir schon, dass das mit ihrem Leben zu tun hat, wo Sexualität ja keine positive Rolle gespielt hat.
Bertha Pappenheims Sorge um die anvertrauten Kinder und die Frauenfrage war in den dreißiger Jahren so stark, dass sie alles Politische jenseits von Sozialpolitik ausklammerte. Das führte zu verhängnisvollen Fehleinschätzungen des Nationalsozialismus. Lange Zeit lehnte sie es ab, die Kinder ihres Heims ins Ausland zu schicken – solange, bis es für einige zu spät war. Noch kurz vor ihrem Tod geriet sie selbst in die Fänge der Gestapo, die sie vergeblich zum Verrat zwingen wollten. Sie starb nach längerer Krankheit noch in ihrer Wohnung. Damit ging das Leben einer engagierten Frauenrechtlerin zu Ende, das zwei völlig getrennte und von ihr selbst niemals zusammengebrachte Teile hatte. Ohne die letzten Geheimnisse wirklich lüften zu können, hat Marianne Brentzel eine Biographie geschrieben, die beide Seiten der Bertha Pappenheim zu würdigen versteht, die aber deutlich das wichtige sozialpolitische Engagement betont gegen das dunkle Leben der Anna O.