Leute, die schräg rüberkommen, dürfte es zu allen Zeiten gegeben haben. Aber waren sie auch „Außenseiter“? Waren sie Außenstehende, Unzugehörige, von denen es heißt, dass sie die gebotene Anpassung schuldig bleiben und mit dem Geist der Gemeinschaft – dem Geist des „Wir“ – auch diesen selbst aufs Spiel setzen?
Genaueres Hinsehen lässt eher vermuten, dass die Figur des Außenseiters eine charakteristische Erscheinung der modernen Gesellschaft ist: einer Gesellschaft, die jedoch mit all denen hadert, die es in ihren Augen am Einsatz für das Projekt fehlen lassen, als das sie selbst sich versteht.
Ralf Konersmann, geboren 1955 in Düsseldorf, Hochschullehrer und Publizist, war bis 2021 Direktor des Philosophischen Seminars an der Universität Kiel. Einem größeren Publikum bekannt wurde er durch seinen Bestseller "Die Unruhe der Welt " (2015), 2017 kam das "Wörterbuch der Unruhe" heraus, das mit dem Tractatus-Preis ausgezeichnet wurde und 2021 erschien "Welt ohne Maß". Demnächst kommt, ebenfalls bei S. Fischer, sein Essay "Außenseiter" heraus.
Leute, die irgendwie schräg rüberkommen, dürfte es zu allen Zeiten gegeben haben. Mythen und Märchen wissen ein Lied davon zu singen. Sie erzählen von bunten Vögeln und komischen Käuzen, von Eigenbrötlern, Spinnern und Taugenichtsen.
Nicht wenige dieser Geschichten, und gerade die meisterzählten, enden tragisch: die Geschichte des Philosophen, der die Bürger seiner Stadt das Zweifeln lehrte und auf Beschluss seiner Verfolger den Giftbecher nahm, und ebenso die Geschichte des Religionsstifters, der, kaum dass er Gehör zu finden begann, unter dem Gespött der Menge und der Autoritäten ans Kreuz geschlagen wurde.
Die Namen und ihre Geschichten sind ohne Zahl.
Im Rahmen dieser Welt, der Welt der Exzentriker und Sonderlinge, ist jedoch der Außenseiter ein spezieller Fall.
Das Erscheinen des Außenseiters setzt bestimmte Normalitäten voraus: die Normalitäten einer Gesellschaft, die für all ihre Belange die Verantwortung an sich gezogen hat und die Menschen als Mitglieder anspricht: als Zugehörige, die aufgefordert sind, diesen Status der Normalität zu bestätigen.
Angesichts dieser Gegebenheiten lässt sich schon an dieser Stelle ein verbreitetes Missverständnis ausräumen. Der Außenseiter ist nicht, wie die Standardwerke der Soziologie unterstellen, „ein universal-menschliches Thema“. Erst das nachdrückliche Verständnis des Sozialen in der Moderne hat aus dem besonderen Fall, dem Fall der Abweichung, einen sozialen Typus gemacht. Die Gesellschaft nimmt diesen Typus als problematisch wahr, und so hat er inzwischen große Schwierigkeiten, sich zu behaupten.
Um es mit der gebotenen Deutlichkeit zu sagen: Ungeachtet der zahllosen Bekenntnisse zu ‚Vielfalt‘ und ‚Diversität‘ ist der Außenseiter, der um 1800 die Bühnen der Welt betrat, heute eine bedrohte Art.
Wasaber – und wer – ist überhaupt ein Außenseiter?
Die Geschichte des Begriffs bestätigt zunächst die Vermutung, dass diese Figur eine vergleichsweise junge Erscheinung ist.
Geradezu überpünktlich taucht das Wort Außenseiter erstmals an der Schwelle zur Moderne auf, und zwar im Englischen. Der Entstehungshintergrund der Figur ist die Welt des Sports und speziell des Reitsports, der den Outsider als denjenigen ausweist, der ohne echte Siegchance ins Rennen geht. Seine Fähigkeiten weichen von der des Hauptfeldes so stark ab, dass er den Anschluss mit hoher Wahrscheinlichkeit verlieren und zurückbleiben wird.
So ruft das Wort eine bestimmte Situation auf, eine charakteristische Szenenfolge, und überträgt sie auf die soziale Welt. Die Nennung des Wortes Außenseiter genügt, um eine jener bildstarken Orientierungen vorzugeben, denen die Alltagsmetaphysik des modernen Sports ihren Nimbus verdankt. Egal, wie hart der Wettbewerb sein wird – Teilnehmer, die am Ende ihren Status als Außenseiter bestätigen, werden sich finden.
In den Zeiten des medial inszenierten Sports ist diese Praxis des Zuweisens und Einordnens zum unerlässlichen Ritual geworden. Noch bevor das Ereignis startet und in sämtliche Haushalte live übertragen wird, werden mit Hilfe ausgesuchter Experten die Chancen der Teilnehmer erwogen: hier die erklärten Favoriten, die wohl den Sieg unter sich ausmachen werden, und dort die Außenseiter, deren Chancen entsprechend schlecht stehen.
Es ist gerade die Trivialität solcher Vorgänge, die ihre Wirksamkeit auf Dauer sicherstellt.
Die Entscheidungsprozedur der sportlichen Konkurrenz ist aufschlussreich, weil sie sich als Modell anbietet: als das Modell des sozialen Lebens in der Moderne.
Basis des Modells ist eine Verhaltenslehre, die auf Anpassungsbereitschaft, auf Cleverness und Flexibilität setzt und damit die spröde Umständlichkeit der Tugendlehren erfolgreich unterläuft. Auch hier dient der Sport als Vorlage: Nur derjenige hat unter den Bedingungen der Konkurrenz eine Chance, der die Regeln verinnerlicht hat, der nicht lange überlegt, sondern die Gelegenheiten, die sich bieten, sogleich erkennt und reaktionsschnell handelt.
Die sporttypische Situation des Leistungsvergleichs, der die Gegner entzweit, setzt andererseits voraus, dass die Bedingungen des Wettbewerbs bekannt und grundsätzlich akzeptiert sind. Wer am Ende vorn mit dabei sein will, darf – darüber wachen Dutzende von Kameras – auf keinen Fall abweichen, darf auf keinen Fall eigensinnig sein und den regelbasierten Ablauf stören. Die Teilnahme setzt die Bereitschaft voraus, die Regeln so, wie sie sind, einzuhalten und sich anzueignen – sich, wie der Soziologe Georg Simmel mit Blick auf das Phänomen der Konkurrenz bemerkt hat, bedingungslos „unterzuordnen“ und „Gehorsam“ zu leisten.
Die soziale Konkurrenz ist ein Geschmeidigkeitswettbewerb. Sie ist das soziale Gegenstück zu dem, was Biologen seit der Zeit Darwins als ‚natürliche Selektion‘ ansprechen. Wie die Selektion erreicht auch die Konkurrenz ihren Zweck, indem sie soziale Prozesse als Auswahlentscheidungen anlegt, die den Beteiligten als unausweichlich erscheinen: als naturgegeben.
Im Gesamtzusammenhang der Gesellschaft wird dieses Gesetz, das Gesetz des Wettbewerbs, zum entscheidenden Motiv der Konformität. Es sorgt dafür, dass die moderne Gesellschaft sich teilt in diejenigen, die sich einlassen, die das Spiel mitspielen und infolgedessen drin sind, und diejenigen, die es an der nötigen Bereitschaft fehlen lassen und sich, ohne dass es dazu förmlicher Beschlüsse bedürfte, allein dadurch isolieren und draußen sind.
So gibt das Wort Außenseiter die vor allem für die Gesellschaften des Westens verbindlichen Umrisslinien eines Weltbildes vor – eines Weltbildes, das den Werten, die in Festreden, in Lehrplänen und Verpflichtungserklärungen beschworen werden, Hohn spricht.
Der Konkurrent ist nicht der Feind, er ist der Schicksalsgenosse. Aber, und darauf hat an der Schwelle zur Neuzeit bereits Thomas Hobbes hingewiesen, in dieses Miteinander schneidet die Entscheidung.
Zur Situation der Konkurrenz gehört, dass sie nicht unbegrenzt offenbleiben kann. Irgendwann – und auch diese Einsicht verdankt sich der Parallelgesellschaft des Sports – muss es ein Ergebnis geben. Ein Ergebnis, das in die Statistik eingeht: in die Tabellen, Aufstellungen und Vergleichslisten, die das Einzelereignis auf die Ebene des allgemein Verbindlichen heben. Erst die bürokratische Aufbereitung macht die Einzelergebnisse vergleichbar und sorgt dafür, dass das Prinzip der Konkurrenz sich ausbreitet und selbst in die zartesten menschlichen Beziehungen vordringt.
Mit der Normalisierung der Konkurrenz, und das heißt: mit dem Handeln und Verhalten in Kategorien des Wettbewerbs, verwandelt sich der soziale Raum in eine Arena.
Und genau so, als universalen Wettbewerb, hat bereits Hobbes im Vorfeld der Moderne die bürgerliche Gesellschaft beschrieben.
Nachdem sie mit der stabilen Positionsverteilung der Ständegesellschaft gebrochen und die Dinge unwiderruflich in Bewegung gebracht habe, erkannte Hobbes, habe sie im öffentlichen wie im privaten Leben einen gnadenlosen Kampf um Vorteil und Sieg entfesselt.
Das unablässige Vergleichen und Sichselbstvergleichen, zu dem die in alle Lebensbereiche hineingetragene Konkurrenz die Menschen anhält, gibt vor, was von nun an über den Rang jedes Einzelnen im sozialen Gefüge entscheidet: der als Erfolg verbuchte Sieg oder aber die Niederlage, die den Status des misfit besiegelt.
Der niemals enden wollende Wettbewerb – der Kampf um Anerkennung, um das Angenommensein und Dazugehören – ist ein strenger, um nicht zu sagen: ein unerbittlicherErzieher.
All die Einzelnen hält der Wettbewerb dazu an, ihre Chancen zu wahren und sie fortlaufend zu verbessern: durch Gefälligkeit und Networking, durch Beweglichkeit und Fitness. Die Grundregel dieses Programms sieht vor, wenn überhaupt, dann nur positiv aufzufallen. Im Übrigen aber, so sieht es der heimliche Lehrplan des Wettbewerbs vor, gilt es jede Abweichung vom Weg der Anerkennung, vom Weg der Bestätigung und des Erfolgs zu vermeiden.
Damit aber dieser Prozess des Sicheinfügens in Gang kommen und Normalität werden konnte, musste der Außenseiter als warnendes Beispiel hervortreten. Er musste für alle Welt sichtbar und eine deutliche Mahnung sein. Ohne dieses Gesehenwerden, ohne das Visualitätsprinzip des Sozialen, kein Außenseiter. Anders als der Fremde, der ein Unbekannter ist, und anders auch als der Aussteiger, der von sich aus die Fremdheit sucht und sich der Aufmerksamkeit entzieht, bleibt der Außenseiter Bestandteil des sozialen Spiels.
Der Außenseiter ist präsent. Er ist derjenige, der sichtbar ist und dennoch nicht dazu gehört. Genau damit aber, mit diesem an sein Erscheinen gebundenen Konflikt, erregt er die Fantasien derer, die sich anders entschieden und angepasst haben.
Zur Logik der Konkurrenz gehört, dass die Unzugehörigkeit unmittelbar auf den Außenseiter selbst zurückfällt. Es liegt an ihm selbst und seinem Verhalten, heißt es im Rahmen dieser Logik, dass er draußen steht. In ihm glauben die Arrivierten, das Sandkorn im sozialen Getriebe erkannt zu haben, die Störung, die den erwünschten Lauf der Dinge blockiert.
Der Außenseiter wiederum erlebt seine Wahrnehmung und Bewertung als Widerfahrnis. Seine Markierung als Störer und Fremdkörper ist etwas, das über seinen Kopf hinweg und doch mit innerer Folgerichtigkeit geschieht.
Was aber setzt dieses Geschehen in Gang?
Die Exponierung des Außenseiters, seine Dingfestmachung, setzt einen bestimmten, routinemäßig taxierenden Blick voraus, der es erlaubt, zwischen Drinnen und Draußen, Uns und Ihnen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung, dieses Schema, ist elementar.
Das allein genügte jedoch nicht, um die moderne Figur des Außenseiters hervorzubringen.
Hinzukommen musste eine weitere, erst mit dem Übertritt in die Moderne gegebene Voraussetzung: die Situation der Immanenz.
Bezogen auf die Moderne beschreibt der Begriff der Immanenz die Verfasstheit einer Gesellschaft, die nichts mehr über sich hat, kein Prinzip und kein überweltliches Wesen, an das sie die Verantwortung für sich selbst und ihre Belange abtreten kann.
In dem Maße, wie die metaphysischen Obdachgewährungen der Vergangenheit verblassten und die sozialen Beziehungen sich sowohl mehrten als auch lockerten, fiel unmittelbar der Gesellschaft selbst die Aufgabe zu, sich den Bürgern als die einzig verbliebene Option zu empfehlen. Der Gesellschaft der Bürger musste es gelingen, den revolutionären Akt der Emanzipation, aus dem sie hervorgegangen war, in eine Politik der Integration und der sozialen Anpassung zu überführen, die zu all den Einzelnen durchdringt: in eine Politik, die Abweichungen markiert und ihnen entgegentritt, bevor sie sich zu Infragestellungen auswachsen.
Die Kennzeichnung von Außenstehenden war der fällige nächste Schritt. Rein aufgrund seiner Disposition begann das einmal eingeführte Modell mit der Einzigartigkeit des Einzelnen zu hadern – mit dem Phänomenbestand der Singularitäten. Mit dem, was außerhalb seiner Ordnung steht, was nicht statistisch erfassbar, nicht klar benennbar und nicht problemlos austauschbar ist, weiß dieses Modell des Sozialen nichts anzufangen. Das Singuläre und Beispiellose, wo es nicht zu leugnen ist, bereitet ihm Unbehagen. Es gilt ihm, im ursprünglichen Sinn dieses Wortes, als monströs: als irreguläre Abweichung von den anerkannten Abläufen und Normen der sozialen Welt.
Einer auf ihre Immanenz zurückgenommenen Gesellschaft, einer Gesellschaft also ohne Transzendenz, ist der vormoderne Kunstgriff der Delegation – der Delegation der Verantwortung an überweltliche Mächte – verwehrt. Sie hat für sich selbst und ihren Fortbestand allein aufzukommen.
Sprachlich findet dieser Status der Immanenz seinen Ausdruck in der Ausrufung des großen Wir, das den Kreis der Zugehörigen umschließt.
Wer hier sogleich in Kategorien der Verschwörung denkt, in Kategorien der Absprache und der Manipulation, geht fehl. Weit angemessener ist das Bild einer Schleuse: Über das Wir strömen Affekte und Reflexe in den Raum des Politischen ein und besetzen ihn normativ. Das Wir bekommt ein Gesicht. Es tritt in Erscheinung als ein Konglomerat wiedererkennbarer Sprech- und Verhaltensweisen, als Realfiktion, die eine tatsächliche Gewalt ausübt und funktional die längst zum Klischee geronnene Heimat ersetzt.
Dieses Wir, das mit Beginn der Moderne das alte Wir der Majestäten zu übertönen begann, ist ein Identifikationsangebot.
Es ist nicht das kleine, das begrenzte Wir der familiären Bindungen, ist nicht das Wir des nachbarschaftlichen Beistandes oder des Teamgeistes im Sport. Es formiert sich als eine umfassende und allzuständige Instanz, die für sich in Anspruch nimmt, in der Frage der Zugehörigkeit zu entscheiden: zu entscheiden, wer zu der von ihm selbst verkörperten Gesellschaft der Zustimmungs- und Mitmachbereiten gehört und … wer die Anderen sind.
Wir: Ein ganzes Weltgefühl liegt in diesen drei Buchstaben. Je größer das Verlangen nach Geschlossenheit ist, desto deutlicher tritt auch der Unwillen hervor, das Dasein der einmal als schwierig Markierten noch länger zu ertragen.
Andererseits ist dieses moderne, dieses große Wir zwar mächtig, aber auch abhängig von Realitätsschocks, von Einbrüchen des Unerwarteten und Unausdenkbaren. Schon auf mittlere Sicht erweist es sich als diffus und instabil. Verstreuten Einzelnen bietet sich damit die Chance, die Kräfteverhältnisse spielerisch umzukehren, und das heißt: ihre Exzentrik nicht etwa schamhaft zu verbergen, sondern zu kultivieren und offensiv vorzutragen.
Auch diese Option, die Option der Umwertung der Werte, ergab sich von Anfang an, und es waren Leute wie Jean-Jacques Rousseau, die sie früh schon genutzt haben.
Exemplarisch und vielleicht sogar als erster hat Rousseau in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus der Abweichung eine Haltung gemacht: die Haltung derer, die, um es mit einer Gedankenfigur des Aufklärungszeitalters zu sagen, die Vernunft am Einschlafen hindern und, allein durch ihren Status, die Idee der Moderne mit ihrer Wirklichkeit konfrontieren.
„Wenn ich nicht besser bin“ – so lautet einer dieser schroffen Außenseitersätze Rousseaus, „wenn ich nicht besser bin, so bin ich wenigstens anders“. Und ein weiterer: „Ich bin nicht wie einer von denen geschaffen, die ich gesehen habe.“
Wenigstens anders – zwei Worte, die genügten, um die Perspektive zu drehen: vom Bestreben der eben heraufziehenden Moderne, die vielen Einzelnen durch die Verpflichtung auf ein gemeinschaftliches, generationenübergreifendes Projekt zu einen, hin zu der querlaufenden Bekundung eines Soseins, das unverhohlen abweicht und … anders ist.
Es steckt aber noch mehr darin. In aller Unbefangenheit – man könnte auch sagen: mit dem Recht des Außenseiters – hat Rousseau ein Übriges getan und die politischen Verwerfungen freigelegt, die sich schon zu seinen Lebzeiten, in dieser Gärungsphase der Moderne, abzeichneten und seither immer deutlicher hervorgetreten sind.
An erster Stelle gehört dazu das strukturelle Missverhältnis moderner Lebensentwürfe: das Missverhältnis zwischen den Erwartungen des Homme social, der Geborgenheit in idealisierten Gemeinschaften sucht, und der Entschlossenheit des Homme solitaire, der das Angebot der Geborgenheit ausschlägt und, mit den berühmten Worten Kants, den Anspruch erhebt, sich „ohne Leitung eines andern“ seines „eigenen Verstandes zu bedienen“.
Das Ergebnis dieser Ermutigung zum Gebrauch des eigenen Verstandes war eine keineswegs verlässliche, aber regelmäßig wiederauflebende Sympathie für Leute, die etwas riskieren: für Leute, die dem Zeitgeist, mag er links stehen oder rechts, ein Schnippchen schlagen und bereit sind, gegen den Strom zu schwimmen.
Inzwischen ist allerdings dieses Wohlwollen weitgehend verschwunden. Der Außenseiter gilt als Unsicherheitsfaktor, bei dem man nicht weiß, wo er steht und woran man mit ihm ist. In ihm, dem Abweichler, gewinnt die Sorge einer verunsicherten Gesellschaft Gestalt, die dem Einzelnen, sobald er sich als er selbst zu Wort meldet, misstraut.
Aus solchen Verwerfungen speist sich der Konflikt. Kollektive sind gefügig, sind verführbar und, wie jeder Statistiker weiß, berechenbar.
Bei den Einzelnen, sobald sie erwacht sind, kann man sich dessen nicht ganz so sicher sein.
Gesteigert wird der Argwohn der Vielen dadurch, dass der Außenseiter keinerlei Erklärung anbietet, die sein Erscheinen, oder genauer noch: sein Dasein auf akzeptable Weise rechtfertigen würde.
Der Außenseiter spricht nicht als Repräsentant einer Gruppe oder eines Programms, zu dem man seine Meinung längst schon hat. Er ist einfach ‚da‘. Das aber ist in der Grammatik des Sozialen nicht darstellbar. Ein Dasein, das sich auf keinen der bekannten Gründe, auf keine Motive und Veranlassungen zurückführen lässt, erscheint schlicht als unbegreiflich. Es wirkt ‚verstörend‘, und so wird der Außenseiter, unter reger Beteiligung der für das Soziale zuständigen Wissenschaften, entweder als Rebell eingeordnet oder – die pathologische Variante – als Spinner.
Das Beispiel Rousseaus hat Schule gemacht und seither immer wieder verstreute Einzelne dazu angeregt, das Stigma der Irregularität aufzugreifen und aus der Ausgrenzung eine Auszeichnung zu machen.
Um es in der einschlägigen Bildsprache zu sagen: Während der klassische Außenseiter einfach draußen steht, ist es diesem artverwandten Typ gelungen, das Schema zu durchbrechen und als der, der er ist, im Innenbereich aufzutauchen: da, wo die Zugehörigen sind.
Die damit aufgetane Option erschüttert den schlichten Gegensatz von Drinnen und Draußen und ordnet die Verhältnisse neu. Sie beweist, dass die Trennwand durchlässig und sogar beweglich ist.
Dieser besondere und zweideutige, mal hüben, mal drüben auftauchende Typ des Außenseiters ist nicht einfach ausgeschlossen. Seine Unangepasstheit ist wohlkalkuliert, so dass seine Gegenwart zwar Reibungen erzeugt, im Regelfall aber für niemanden eine ernsthafte Herausforderung darstellt. Er dient als Reizfigur, deren Performance die Gesellschaft nervt und verunsichert, vor allem aber fasziniert.
Der einst gegen den Egalitarismus der Revolution aufbegehrende Dandy, der diese Rolle als einer der ersten erprobt hat, ist an dieser Zweideutigkeit ebenso gescheitert wie die Großstadtpoesie der Bohème. Die Offensive der Eleganz war, wie überhaupt das Erscheinungsbild dieser Einzelnen und Verstreuten, kapriziös und verweigerte die Massentauglichkeit.
Als ungleich durchsetzungsstärker haben sich die Bad Guys und Bad Girls der Popkultur erwiesen. Mit ihren wohldosierten Tabubrüchen stellen sie das bestehende Normensystem infrage, um einen konsumfreudigen und doch zugleich als rebellisch gefeierten Lebensstil zu zelebrieren, der das Bild des Außenseiters auf charakteristische Weise bereichert.
Coolness, um nur dieses eine Attribut der lizensierten Außenseiterschaft aufzugreifen, ist die denkbar einfache, durch eine bloße Gebärde zum Ausdruck gebrachte Außeralltäglichkeit, die die Betreffenden heraushebt und sie in den Augen des Publikums interessant macht. Die Popkultur hat die disruptive, mit grandioser Beiläufigkeit vorgetragene Gebärdensprache der Coolness zu einer risikolosen Form des Nonkonformismus ausgebaut. Die Sprache der Coolness, die Sprache der Subtexte, der Winke und Zeichen, hat sich als erfolgreich und vor allem als übertragbar erwiesen.
Inzwischen findet sich unter den Etablierten eine wachsende Zahl von Leuten – und das gilt keineswegs nur für die Unterhaltungsindustrie – die ihre Etablierung dem sorgfältig gepflegten Image verdanken, nicht zu den Etablierten zu gehören.
Für das Publikum, das den Code verstanden und zu lesen gelernt hat, ist entscheidend, was sich aus dem grenzwertigen Treiben der Celebrities über das Leben in Gesellschaft lernen lässt.
Im Mittelpunkt des Spektakels steht der fortlaufend aktualisierte Gossip, steht das Anekdotische und irgendwie Sprechende, an dem das Verhalten der Vielen sich ausrichten kann. In einer dünnhäutigen, hart und schnell urteilenden Umgebung haben sich die ikonischen Außenseiter des Pop als freischaffende Dienstleister bewährt, die stellvertretend für die Vielen auf offener Bühne agieren und sich den Blicken bereitwillig aussetzen. Ihnen fällt die Aufgabe zu, die Spielräume des Verhaltens herauszuspüren und sie vor den Augen einer Öffentlichkeit, die nicht genug davon bekommen kann, mit Leben zu füllen.
In dieser Umgebung gerät die nicht-lizensierte, die nicht von der Aura des Pop geschützte Abweichung wie von selbst in den Verdacht der Systemwidrigkeit. Sie gilt als unerklärlich und, im nächsten Schritt, als verantwortungslos. Weitere Umstände, die das Unverständnis der Mitwelt verstärken, kommen hinzu.
Da ist zunächst das Verlangen nach Eindeutigkeit. Die zunehmende Technisierung des Alltags legt die Abläufe sozialen Handelns – Vorgehensweisen und Erledigungen aller Art – mit beispiellosem Nachdruck fest. Für Abweichungen, das versteht sich von selbst, ist in dieser Neonormalität der technisch optimierten Lösungen kein Raum. Wo einmal die eigene Einsicht über das Maß und die Richtung entschied, da geben inzwischen Apps und Programme akribisch vor, was zu geschehen hat und wie im Einzelnen vorzugehen ist.
Der Wechsel der Rolle, die infolge dieser Umstellung den Menschen zufällt, ist eklatant. Mochten sie sich noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als Mitgestalter ihrer Welt empfinden, geht die Tendenz inzwischen dahin, jede Eigeninitiative, die nur die klar definierten Abläufe stören würde, zu unterdrücken und den Anleitungen zu folgen.
Hinzu kommt als Weiteres die Neigung, nicht als man selbst, sondern als Exponent einer Gruppe aufzutreten: als Sprecher einer Bewegung, als Gesandter einer Organisation, eines Netzwerks, einer Community.
Selbst in Kunst und Wissenschaft ist es üblich geworden, statt im eigenen Namen als Exponent eines Kollektivs zu agieren, das für die Aussage einsteht und sie autorisiert. Aus dieser Art des rückversichernden Sprechens, die das Ideal des Selbstdenkens abgelöst hat, ist eine Verhaltensregel geworden. Die Nichtbeachtung allein dieser Regel reicht aus, um als jemand dazustehen, der anmaßend auftritt und zurecht missfällt.
Angesichts solcher Codierungen und Tendenzen schlägt die Entschlossenheit, mit der sich Rousseau einst der Billigung durch die Gesellschaft entzog, auch für heutige Ohren noch immer wie ein Tabubruch ein. Hier noch einmal der entscheidende Satz: „Ich bin nicht wie einer von denen geschaffen, die ich gesehen habe.“
Offenkundig hatte Rousseau, als er diesen Satz zu Papier brachte, das Bild einer Gesellschaft vor Augen, die der Entfaltung des Einzelnen großzügig Raum gibt: der freien Ausgestaltung einer Besonderheit, ja Einzigartigkeit, die, weit über das politisch Erwünschte hinaus, der Vielfalt des Menschseins Raum gibt, oder genauer: diese Vielfalt realisiert.
Lange Zeit war dieses Bekenntnis zur Selbstentfaltung des Einzelnen, zu seiner Entwicklung und Bildung, als Bestandteil modernen Selbstverständnisses akzeptiert. Das hat sich geändert. Schritt für Schritt haben die Proklamationen des Wir, haben die täglichen Aufrufe zum Zusammenhalt und zum Miteinander der Außenseiterschaft die Legitimität entzogen. Statt sich von sich selbst zu lösen und ihre Ansprüche zu prüfen, klammert sich die Gesellschaft an ihre Routinen und nimmt den Außenseiter als Fall wahr, der eigentlich gar nicht vorkommen dürfte.
Bemerkenswert wie die Fatalität dieser Entwicklung ist das Tempo, das sie in den letzten Jahren aufgenommen hat.
Noch im Jahr 1966, also rund 200 Jahre nach dem Vorstoß Rousseaus, war das Bekenntnis zur Selbstentfaltung des Einzelnen präsent. Angesichts der Geschichte des Außenseiters und ihres Verlaufs ist es wenig überraschend, dass es die seinerzeit grandios auftrumpfende Popkultur war, die ihm zu einem leidenschaftlichen Revival verhalf.
Ray Davies, der Kopf der neben den Beatles und den Stones eher intellektuell wirkenden Kinks, schrieb damals einen Song, der die frühmoderne Intuition aufgriff und sie publikumswirksam erneuerte. Passend zum Thema erschien der Song auf einer B-Seite und bündelte das Bekenntnis zur Außenseiterschaft in einem Refrain, der – hintersinnigerweise – zum Mitsingen einlud.
Und genau damit schließt sich der Kreis. Denn wie schon der Autobiograf Rousseau begegnete auch dieser Refrain dem Verlangen nach Konformität mit einem stolzen Bekenntnis – nein, nicht zu einem dieser Schlagworte, die die Massen ergreifen sollen, sondern, in aller Bescheidenheit, mit einem Bekenntnis zu sich selbst: „I’m not like everybody else“.