Archiv

40. Todestag von Anna Freud
Psychoanalytikerin und für immer Vaters Tochter

Die jüngste Tochter des Psychoanalytikers Sigmund Freud, Anna, entwickelte sich von seinem Studienobjekt zur Assistentin und übersetzte später die Lehren des Vaters in die Praxis. Vor 40 Jahren starb die Begründerin der Kinderpsychoanalyse.

Von Martin Tschechne |
Anna Freud mit ihrem Vater Sigmund in einer Aufnahme aus dem Jahr 1928
Anna Freud mit ihrem Vater Sigmund, 1928 nahe Berlin (picture alliance / Mary Evans Picture Library)
Wer fünf ältere Geschwister hat, ist wirklich nicht zu beneiden. Zumal dann, wenn der Vater die Position des Sonnenscheins in der Familie bereits an eine ältere Schwester vergeben hat. Was also tat Anna Freud? Sie setzte sich auf die Überholspur. Und entwickelte daraus ein Thema fürs Leben:
„Was das Kind zwischen dem ersten und dem fünften oder sechsten Lebensjahr zu lernen hat, ist eine größere Anforderung, als sie je im Leben wiederkommt.“

Weltweit respektierte Anwältin der Theorien des Vaters

Als sie das sagte, war sie fast 80 und noch immer zuallererst die Tochter ihres berühmten Vaters Sigmund Freud. Sie hatte ihm ein Leben lang als Katalysator seiner Ideen zur Seite gestanden, hatte seine Technik der Psychoanalyse in der ganzen Welt verteidigt und als loyale Mitarbeiterin für die Verbreitung seiner Schriften gesorgt - und doch hatte sie im gewaltigen Werk des Vaters genau die Lücke entdeckt, durch die sie selbst hervortreten konnte:

„Die Psychoanalyse ist dafür bekannt, um Freuds eigene Worte zu gebrauchen, dass sie im Erwachsenen das fast unverändert fortlebende Kind aufgezeigt hat. Und auch gezeigt hat, wie sehr das Leben des Erwachsenen von den Erlebnissen der Kindheit beherrscht ist.“

Einer Analyse beim Vater unterzogen

Von da war es nur noch ein kleiner Schritt zu ihrer eigenen Entdeckung, und alle Erfahrung ihrer Kindheit im Haus des Psychoanalytikers floss darin ein: ihr Streben um Anerkennung, ihre Angst davor, sich durch Heranwachsen zu einer jungen Frau vom Vater zu entfernen. Später unterzog sie sich sogar einer Analyse bei ihm. Sie blieb kinderlos, doch sie ging auf in ihrer Arbeit als Lehrerin an einer Grundschule. Und beobachtete und schrieb auf. Anna Freud, 1895 in Wien geboren, 1938 vor den Nazis nach London geflohen, auch dort noch hingebungsvolle Vertraute des todkranken Vaters – Anna Freud wurde berühmt als Begründerin der Kinder-Psychoanalyse:
„Ich glaube, dass es Aufgabe, Hauptaufgabe der Kindera-Analytiker in der Zukunft sein sollte, diese Entwicklungswege zu durchforschen und die Fragen zu beantworten: Wann soll was geschehen? Welche Einflüsse fördern die Entwicklung? Welche verhindern sie? Wann ist es Fehler der Außenwelt, der Erziehung? Wann ist es Fehler der Innenwelt? Was kann man ändern?“

Analyse mittels Spiel und spontaner Beobachtung

Der Unterschied liegt zunächst nur in der Methode. Erwachsene Patienten, so meint Anna Freud, hätten ein Interesse daran, ihre Probleme in einer Analyse zu lösen. Sie arbeiteten mit, auch wenn dabei Ängste und Konflikte an die Oberfläche drängen. Kinder dagegen seien zugänglich nur im freien Spiel und in der spontanen Beobachtung:
„Es gibt kein Kind, das dem erwachsenen Analytiker wirklich alles anvertraut. Kein Kind ist voll aufrichtig, denn die Kluft zwischen Kind und Erwachsenem ist viel zu groß.“
Kinder seien in ihren Bedürfnissen und Ängsten ernst zu nehmen, forderte Anna Freud und half, ihre Forderungen in der Gesellschaft durchzusetzen. Mit ihrer Lebensgefährtin, einer Amerikanerin, gründete sie die Hampstead War Nurseries als Heim für kriegstraumatisierte Kinder in London; später ging ein international renommiertes Lehrinstitut daraus hervor. Sie praktizierte selbst als Psychoanalytikerin, verfeinerte die Methoden ihres Vaters. Und als die Film-Diva Marilyn Monroe sie konsultierte, da spielte sie mit ihr Murmeln – wie mit einem Kind.
Und viele Menschen wissen heute, dass es die Aufgabe der analytischen Behandlung ist, die Kindheit des Einzelmenschen wieder in seiner Erinnerung herzustellen und ihm dadurch erst die Möglichkeit zu geben, ein freier Erwachsener zu werden.“
Anna Freud starb am 9. Oktober 1982 in London. Vom patriarchalischen Denken ihres Vaters und der Sexualmoral seiner Epoche hatte sie sich emanzipiert. Doch bis zu ihrem Tod bewahrte sie und setzte fort, was Sigmund Freud ihr und der Welt hinterlassen hatte.