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Anne Applebaum: Der Gulag.

An dieser Stelle in aller Kürze zu einer Neuvorstellung, die sich mit einem ganz anderen Schwerpunkt befasst: Hier geht es um ein weiteres großes Terrorsystem des 20.Jahrhunderts, das auch noch längst nicht abschließend erforscht worden ist.

Von Robert Baag | 02.08.2004
    Gemeint ist der GULag, das sowjetische Lagersystem, das in seiner Grundstruktur noch bis vor zwanzig Jahren existiert hatte, also bis hinein in die erste Zeit der Perestrojka-Ära unter Michail Gorbacev.

    Die Vorgeschichte des GULag, seine Funktion während der 30er, 40er und 50er Jahre, der Alltag seiner Häftlinge und des Wachpersonals, der GULag als feste Größe, als ökonomischer wie ideologisch-politischer Grundpfeiler des untergegangenen Sowjetsystems wird hier über 736 Seiten beschrieben und analysiert - zusammengefasst unter dem dafür angemessenen, lakonisch-knappen Titel: "Der GULag".

    Die US-Journalistin und Osteuropa-Spezialistin Anne Applebaum hat sich hier das ehrgeizige Ziel gesetzt, die an sich schon reichlich vorhandene Literatur zum System der Zwangsarbeit in der UdSSR um eine weitere, gewichtige Arbeit zu ergänzen, die mit neuen Aspekten aufwarten kann. Aber: Nicht nur für detailverliebte Experten ist dieser Band gedacht.

    Applebaum hatte das Glück und vielleicht auch den Instinkt, sich zur rechten Zeit am rechten Ort bislang unbekanntes sowjetisches Archivmaterial erschließen zu können. So reichert sie bisher Bekanntes aus dem Lageralltag mit neuen Impressionen an, macht das Buch damit auch für solche Leser interessant, die schon vor über 30, 40 Jahren Aleksandr Solshenicyns Aufsehen erregenden GULag-Klassiker "Ein Tag im Leben des Ivan Denisovic" verschlungen und sich anschließend auch noch durch dessen unverändert gültiges Standardwerk "Der Archipel GULag" gearbeitet haben.

    "Letzte Wahrheiten" - so viel sei aber schon jetzt gesagt - kann und will Applebaums Arbeit allerdings nicht bieten. Dies sagt die Autorin redlicherweise selbst. Ob es jemals - und dann auch noch in absehbarer Zeit -möglich sein wird, einen inhaltlich befriedigenden Abschluss der GULag-Forschungen anzukündigen, bleibt ohnehin zweifelhaft. Denn Informationen, wonach die ehemaligen sowjetischen, heute russischen Spezial-Archive sich nun wieder zunehmend der allgemeinen, vor allem aber der westlichen Forschung verschließen, stimmen in diesem Zusammenhang ausgesprochen pessimistisch. Es wird nämlich allgemein ein dezidierter politischer Wille höchster russischer Stellen als Auslöser für ein derartiges Verhalten vermutet.
    Nicht zuletzt auch vor dieser Entwicklung bleibt daher fest zu halten: Bei Applebaums Arbeit handelt es sich um ein insgesamt sehr zu empfehlendes Buch, das einen aktuellen, nicht selten erschöpfenden, dabei übrigens auch gut geschriebenen und von Frank Wolf flüssig ins Deutsche übersetzten Überblick liefert. Eine schlechte Nachricht bleibt allerdings am Schluss: Der Preis erscheint mit 32 Euro vergleichsweise hoch und dürfte viele potentiell Interessierte vom Kauf zurückschrecken lassen. Das aber wäre schade. - Hier also noch einmal der Titel unseres Kurz-Hinweises: Anne Applebaum: "Der GULag",Siedler Verlag, Berlin, 736 Seiten.