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Anne Carson : "Rot. Zwei Romane in Versen"
Eine rote Sprache erfinden

Der kanadischen Autorin Anne Carson eilt großer Ruhm voraus. Sie ist Dichterin und Altphilologin, übersetzt, schreibt Theaterstücke und Essays. In den letzten Jahren sind in Deutschland mehrere Bücher erschienen. Jetzt hat der S. Fischer Verlag zwei in einem Band vorgelegt: "Rot. Zwei Romane in Versen".

Von Marie-Luise Knott |
Anne Carson : "Rot. Zwei Romane in Versen"
Die Dichterin Anne Carson entwickelt eine Sprache für die zerklüftete Welt. (Cover: S. Fischer Verlag / Foto: Nora Koldehoff)
Alles in diesem Buch kreist um das titelgebende Rot. Und um die Figur des Geryon. Denn Geryon ist dieses Rot: Rot ist sein Leben, rot seine Insel, rot sein Körper und rot ist sein Tod. Doch zuallererst ist Rot die Farbe der Liebe, die Farbe der Wut und die Farbe des stetigen mütterlichen Freudenflusses.
Von Maria, der Freundin seiner Mutter hatte Geryon ein schönes japanisches Notizbuch in fluoreszierendem Umschlag bekommen. Auf den Umschlag schrieb er Autobiographie. Drinnen notierte er die Fakten.
"Gesamtheit Aller Über Geryon Bekannten Fakten
Geryon war ein Monster alles an ihm war rot. Geryon lebte
auf einer Insel im Atlantik namens Roter Ort. Geryons Mutter
war ein Fluss der ins Meer fließt der Rote Freudenfluss. Geryons Vater
war aus Gold. Manche sagen Geryon hatte sechs Hände sechs Füße andere
Flügel. Geryon war rot und rot waren seine eigenartigen Rinder. Eines
Tages kam Herkules tötete Geryon nahm sich die Rinder."
In dieser Passage, mit der sich Geryon, der Held der Notiz, vorstellt, sind gleich mehrere Aspekte von Carsons Schreiben erkennbar. Man muss sich an die Tatsachen halten, sagt der Text. Auch und gerade an die widersprüchlichen. Es kann schließlich nicht alles aufgehen im Leben. Ferner sagt die Passage: Auch Überlieferungen – Mythen, Theorien und Erzählungen – sind Tatsachen, sie prägen unsere Welt. Dass Carsons Geryon auch das Ereignis seines eigenen Todes als eine Tatsache notiert, weist ihn als mythische Figur aus. Wir verstehen nicht alles, sagt Carson, aber wir müssen uns der heutigen Wissensunordnung aussetzen. Warum eigentlich tötete Herkules den Geryon um Mythos wirklich?
Was haben wir hier?
Anne Carson, 1950 in Kanada geboren, ist derzeit wohl eine der bedeutendsten Dichterinnen im englischsprachigen Raum. Sie hat zahlreiche Preise erhalten und ist im antiken Griechenland ebenso zu Hause wie im Werk von Samuel Beckett, Gertrude Stein, Dante oder Basho. In Hollywood-Filmen ebenso wie in Vulkanologie, Gletscherformationen, in der philosophischen Schule der Phänomenologen, aber auch in Liebesdingen.
"Was haben wir hier?" lautet eine der zentralen Fragen in ihrem Werk. Woraus eigentlich ist unser komplexes Heute gemacht? Was sehen, was verstehen wir? Und: Was geschieht mit dem Ungesehenen und Unverstandenen, das dennoch da ist und auch sein Wesen treibt? Carson ist berühmt für beides: ihren weitgespannten Horizont und ihre formale Experimentierfreude. In ihren Büchern collagiert sie Dramolette, verdichtete Prosa, formstrenge Verse und essayistische Fragmente. Ihr gelingt es, in einem Satz Ideen, Erzählungen und persönliche Fragen über eine Distanz von Jahrtausenden kurzuschließen. Zugleich ist ihr ganzes Werk der Versuch, der Wahrheit zwischen den Menschen ein wenig näher zu kommen.
FLIEGENGITTERTÜR
"Seine Mutter stand am Bügelbrett, zündete sich eine Zigarette an und betrachtete Geryon.
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Draußen war die Luft dunkelrosa
und vibrierte bereits vor Hitze und Geschrei. ‚Zeit für die Schule‘, sagte sie zum dritten Mal.
Ihre kühle Stimme schwamm
über einen Stapel frischer Geschirrtücher und durch die schattige Küche zu Geryon
bei der Tür mit dem Fliegengitter.
Noch mit mehr als vierzig Jahren sollte er sich daran erinnern wie staubig fast mittelalterlich
das Netz gerochen hatte
wenn es ihm sein Gitter ins Gesicht drückte. Sie war jetzt hinter ihm. ‚Das wäre ein Problem
für dich wenn du schwach wärst
du bist aber nicht schwach‘, sagte sie, richtete ihm die kleinen roten Flügel und schob ihn
aus der Tür."
Was für eine Szene: Ein Junge möchte nicht in die Schule. Er möchte lieber zu Hause bleiben, doch die Mutter weist ihm liebevoll den Weg: "Du bist nicht schwach", sagt sie und richtet ihm die kleinen roten Flügel.
In dem ersten Teil des Bandes "Rot", der, wie gesagt, aus zwei Romanen in Versen besteht – schildert Anne Carson Kindheit und Jugend des Geryon aus dem Herakles-Mythos; der zweite Teil, "Rot Doc>" ist eine Fortsetzung seiner Abenteuer, doch diesmal ist Geryon ein Erwachsener. Der erste Teil ist ein Entwicklungsroman, der zweite ist ein Roadmovie. Der erste erschien 1998, der zweite Teil 15 Jahre später, im Jahr 2013.
Ausgangspunkt oder Inspirator beider Teile ist, wie so oft bei Anne Carson, die Welt der Griechen, doch weniger Homer als vielmehr der Dichter Stesichoros, von dem Carson sagt:
"Er kam zwischen Homer und Gertrude Stein, keine leichte Periode für einen Dichter."
Ein Kurzschluss, über Jahrtausende hinweg. Der um 600 vor unserer Zeitrechnung auf Sizilien lebende Grieche Stesichoros und die im 20. Jahrhundert in Paris lebende Amerikanerin Gertrude Stein sind fixe Bezugsgrößen in "Rot". Stesichoros gilt als derjenige Dichter, der das feste Gefüge der Homerschen Mythen aufbrach. Er wollte in der Sprache die Welt neu ergreifen, so wie sie tatsächlich war. Und so erfand er unter anderem die Kindheit und Jugend des Geryon, der in der griechischen Mythologie nur eine Fußnote in der Herakles-Geschichte war. Knapp zwei Jahrtausende später stieß Carson auf die erhaltenen Fragmente und übersetzte. Von der Philologie zur Poesie. Sie erzählt:
"Das Ergebnis der Übersetzung war unbefriedigend, Die spannendsten Aspekte des Originals fielen einfach durch die Übersetzung und verschwanden. An der Oberfläche blieb diese langweilige Übertragung und der aufregende Stoff steckte irgendwo darunter. Der Roman war ein Versuch, den Stoff aus den Lücken der Übersetzung hervorzulocken. Darum ist die Übersetzung so verrückt und der Roman ist die Ausarbeitung dieser Verrücktheit."
Wie würde Geryon heute leben? Ein subversives Spiel. Wie kaum eine andere beugt Carson die Sprache ganz ins Heute hinein, nennt etwa die Mutter eine "Installateurin seiner Sanftheit". Die Alten wirken wie neu und sind unter uns.
Vom Mythos ins profane Heute
Carsons Geryon ist tatsächlich fast ganz von heute. In seinem Leben gibt es Schule, Hockey, Videothek und Babysitter. Doch er ist ein Sonderling. Das einzige, was ihm von der Reise aus der griechischen mythischen Vergangenheit in die profane Gegenwart des Heute geblieben ist, sind: seine rote Farbe und seine Flügel, die er meist unter seinem T-Shirt versteckt trägt oder auch mal mit einer Latte am Rücken festbindet, als wolle er seine beiden Flugkräfte – Wut und Liebe – bändigen. Anfangs sehen wir ihn als Fünfjährigen, der seinen älteren Bruder bewundert und von diesem sexuell missbraucht wird. Später ist er ein scheuer, kunstaffiner Vierzehnjähriger, der seine homosexuellen Neigungen entdeckt und sich mit den Schwierigkeiten von Sex, Liebe und Identität herumschlägt. So wächst er heran. Irgendwann verlegt er sich vom Schreiben auf die Fotografie und versucht Aufnahmen mit 15 Minuten Belichtungszeit. Doch kann man die Zeit stillstellen?
Herakles, der berühmteste aller griechischen Helden, ist bei Carson ein Herumtreiber und Geryon verliebt sich in ihn. Eine Geschichte aus Zartheit, Blindheit und glühendem Verlangen nimmt ihren Lauf, bis Herakles Geryon verlässt. Ich will, dass du frei bist, sagt er. Ein Hohn, der Geryon das Herz bricht. Jahre später treffen sie sich zufällig wieder, diesmal in einem Bus in Südamerika. Herakles ist mit einem Liebhaber namens Ancash unterwegs, und zu Dritt beschließen sie, zu einem Vulkan zu reisen, an dessen Glutrand die Einheimischen ihr Brot backen. Soweit der erste Teil.
Der Band machte 1998 bei seinem Erscheinen in den USA Furore. Eine postmoderne Dichterin schreibt einen Entwicklungsroman – und das "in Versen" – was konnte das sein? Carsons Nicht-Roman ist fremdartig, leicht ironisch und immer wieder auch anrührend. Die Geschichte liest sich – für Carsons Verhältnisse – fast süffig und wurde bei Erscheinen als so etwas wie ein Crossover-Klassiker der zeitgenössischen Dichtung gefeiert. Susan Sonntag, Alice Munroe und Michael Ondaatje priesen das Werk. Die Verschränkung von Mythos und Heute sorgte für den typischen Carson-Effekt: Das Paradox der fernen Nähe.
Dieses Paradox schafft Freiheit: Mythen helfen den Menschen, die tödliche Realität zu ertragen. Sie stellen eine immaterielle Parallelwelt zur Verfügung und durchweben kollektives Bewusstsein. Mythen lösen sich nie ganz auf, sie leben fort und treiben nicht selten ihrerseits weitere Erzählungen hervor. Auch Anne Carson trieb die Geschichte des Geryon nach dem Abschluss des ersten Bandes weiter um, und so schrieb sie Jahre später eine Fortsetzung. "Versuche wieder, scheitere besser", zitiert sie Samuel Beckett. Als Widmung notierte sie: "For the randomizer."
Wer ist dieser "randomizer"? Ein Schicksalsgott? Der Zufallsgenerator eines Computers? Die Dichterin und Übersetzerin Anja Utler, die in "Rot" erfindungsreich die Leichtigkeit, Komplexität und die Eleganz der Verrückheit von Carsons Sprachkraft im Deutschen überträgt, hat sich entschieden, das Motto der Offenheit wegen auf Englisch zu belassen.
Während der erste Teil von "Rot", der von 1998, nach Kapiteln durchnummeriert ist und nahezu linear eine Geschichte erzählt, ist der zweite Teil, der von 2013, in losen Fragmenten abgefasst, in die der Leser mit Neugier und Vergnügen jeweils neu hineinspringen. Szene wechselt auf Szene. Erzählt wird, wie schon in "Anthropologie des Wassers", eine Reise. Die Textkörper erinnern an Zeitungskolumnen; oder an Autobahnen. Die Lücken zwischen den Wörtern suggerieren, die Datei sei vom Computer fehlformatiert. Unfertig und zufällig, wie das wirkliche Leben.
Die verlorene Zeit
In diesem zweiten Teil heißt der Protagonist nicht mehr Geryon, sondern nach seinem Anfangsbuchstaben: G. Die Zeit ist verstrichen und G ist älter geworden. Sein Leben steht ganz im Bann der vergangenen (und verlorenen) und vergehenden Zeit. "Zu viel Erinnerung ist das Problem", wusste schon Proust. G ist immer noch rot, und er hat immer noch seine Flügel, aber er schreibt nicht mehr an seiner Autobiographie. Herakles heißt jetzt "Sad but Great" und ist ein Kriegsveteran mit posttraumatischer Belastungsstörung. Seine Nerven liegen blank. Den Grund hierfür deutet Carson nur an: Irgendein Ereignis an einer Straßenkreuzung ... eine Frau, die eine Einkaufstasche trug, ... in irgendeinem namenlos bleibenden Krieg – vielleicht im Irak, vielleicht in Afghanistan ...
Tatsachen wirken fort, auch wenn man sie nicht mehr sieht. G und Sad sind unterwegs nach Norden, zu Gs Mutter, dem einstigen Roten Freudenfluss, die jetzt krank in einer Klinik liegt. Unterwegs dorthin durchqueren sie Gletscherwelten und Eishöhlen, in denen sie etwa toastergroßen Eisfledermäusen begegnen. Etwas von der alten Anziehung zwischen G. und Sad ist noch vorhanden, aber sie sind Teil einer größeren Geschichte geworden, in der es noch andere (mythische) Figuren gibt: darunter Hermes, Ida und Io, der Lieblings-Stier aus Gs berühmter Herde. Außerdem ist da noch eine mysteriöse Frau von Hirn, die dem Chor in der griechischen Tragödie ähnelt, Fragen stellt und das Geschehen kommentiert.
G liest unterwegs Daniil Kharms, den russischen Absurden. Alles in seinem Kopf vermischt sich:
"Einen Daniil Kharms zum
Freund zu haben entlastet
von Kausalität. Aber das
Leiden anderer Leute kürzt
man gern ab theoretisiert
es historisiert es es soll
weggehen. G mag nicht
daran denken wie DK auf
dem Boden seiner Zelle in
der psychiatrischen
Abteilung eines
sowjetischen Gefängnisses
liegt außer Reichweite von
Englischem Tweed Gurken
seinem eigenen Körper.
Außer Reichweite von
seiner ersten Frau zweiten
Frau und mehreren Kindern
die vermutlich auch alle
während der Blockade
verhungert sind genauso
wie die Soldaten und die
Tiere im Zoo. Kein Jesus
Zum Reinwaschen oder
Koan es von der Brücke zu
werfen kein Zeus das in
den Tartaros zu stoßen. Du
siehst dein Gesicht an dein
Gesicht ist alt aber das
Leiden ist älter. Geräusche
aus dem anderen Zimmer.
G schlüpft in den Flur und
öffnet die Tür. Bin
schwimmen ruft er hinter
sich als der Wind zuschlägt."
Leningrad … der Krieg ... das Gefängnis und die verhungerten Tiere im Zoo – das ganze Leid, und nirgends ein Gott, ein Held oder ein Zauberspruch, uns vom Leid zu befreien ... Was gäbe G darum, ein Retter zu sein, aber auch er kann nichts ausrichten. Also geht er erst einmal schwimmen.
Löcher schlagen
Die Schönheit, Freiheit und Geschwindigkeit, mit der Carson Fakten und Gedanken aus allen Zeiten und Wissensgeschichten fragmentiert und assoziiert, macht diese Dichterin zu einer einzigartigen Erscheinung in der zeitgenössischen poetischen Landschaft. Man muss – so sagt sie uns - wie einst Stesichoros die Sprache aufbrechen, damit das, was dahinter kauert, durchsickern kann. Wie bei einem "Zelldiagramm", wo man in Querschnitten die verschiedenen Schichten eines Wortes, einer Figur, eines Ortes erkennen kann. Immer gibt es einen Rest, der nicht aufgeht, sagt sie. An diesen Rest zu denken befreie – auch von der Ausweglosigkeit der Vernunft.
Carsons Frage "Was haben wir hier?" versammelt die Welt im Unverstand, Gertrude Stein im Ohr. Um alles – auch die Sprache –in Freiheit zu setzen, gestaltet Carson ihre Lesungen stets als Performances. Ihr Vortrag ist tonlos. Satz folgt auf Satz. So produziert sie nahe Ferne, und der Raum weitet sich: Rhythmen und Tempi wechseln, haiku-dichte Landschaftsbeschreibungen treffen auf Jazz- oder Velvet Underground-Sound – eine lustvolle Hinwendung durchtränkt Buchstaben, Wörter, Sätze, Fragmente.
"Krähen groß wie scheunen rasen überkopf."
heißt es einmal, oder:
"Schwarze lavabrocken gehäuft auf schwarze Seegrasballen."
Sprich: Alles kollidiert.
"Ihm kommt
kein Gedanke an Nat King
Cole oder Jim Dandy oder
Kastanien als er nach oben
schaut und Io auf sich
zustürzen sieht in jener
Geschwindigkeit die auch
erwartbar ist wenn ein 400
Pfund schweres Objekt
durch den Raum fällt.
Fallen ist ein Faktum. Sich
aufschwingen nicht. Aber G
wird auf einmal klar wie
sehr er dieses Tier liebt. Er
lässt seine Flügel zu ihrer
vollen Größe explodieren
und verlässt den Boden mit
einem Schrei."
Superman? Ein Traum? Ein Trip? Wo sind wir? Automatisch fallen einem beim Lesen weitere Bilder ein – etwa aus der Göttlichen Komödie. Dort fliegt einer, der Geryon heißt, durch die "dicke Luft" der Hölle, um Dante und Vergil vom siebten in den achten Kreis der Hölle zu tragen. Dantes Geryon hat keine Flügel. Um zu fliegen durchschaufelt er die Luft mit den Armen. Wie ein Schwimmer.
Verschiedentlich legt Carson im Roman, der keiner ist, Spuren zu ihrem poetischen Verfahren. Einmal etwa sind G und Sad unterwegs, als sie plötzlich auf ein quadratisches rotes Schild stoßen. "Absturzgefährdet" steht darauf. "Die meinen nicht uns", sagt Sad laut, setzt mit dem Auto zurück und umfährt das Schild. Carsons Texte tun genau das: bewusst missachten sie alle Konventionen, um mit Lust und aus Notwendigkeit zielstrebig ins Unbekannte vorzustoßen.
Das Tempo der Assoziationen und Kollisionen ist hoch. Nicht immer kann man ihr auf Anhieb folgen. Aber es ist ein großes Vergnügen, sich auf ihre lustvollen Sprachereignisse einzulassen. Es gehe beim Denken und beim Dichten darum, möglichst schnell irgendwo hin zu gelangen, wo man noch nie war, hat Carson einmal gesagt.
Vom Tänzeln
Im englischsprachigen Raum ist Anne Carson berühmt, und auch hierzulande ist ihr Werk schon lange mehr als ein Geheimtipp – vor allem unter Lyrikern. Immer wieder wurden über die Jahre einzelne Werke übersetzt; so erschien 2001 auch der erste Teil von "Rot", damals in der Übersetzung von Karin Lauer. In neuerer Zeit ist Carson in Deutschland mit größerer Verve präsent. Ihre Zeit ist gekommen, scheint es, und das zu Recht, denn, so enigmatisch manches erscheinen mag: die heutigen Zeiten können die tänzelnden Bewegungen ihrer Gedanken und Bilder gut brauchen.
Der poetische Text, schrieb Anja Utler einmal, verhandele keineswegs äußere Wirklichkeit in Gedichtform; vielmehr materialisiere sich in seiner konkreten Gestalt die Realität sprachlich-körperlicher Bedeutung und Welterzeugung. Das ist Anne Carsons Ideen verwandt.
"Philologie zeigt uns, dass Wörter in beiden Händen Koffer tragen. Man schaut sich das Wort an und denkt, es steht da wie ein Mensch ... Dann bemerkt man die Koffer an seinen Seiten. Wenn man sich mit diesem Menschen ein wenig anfreundet, kann man ihn dazu bringen, seine Koffer zu öffnen und man sieht unheimlich viele Dinge darin, die man nie erwartet hätte. ... Wenn man einmal entdeckt hat, dass Wörter so sind, kann man sie jederzeit als unerschöpfliche Gefäße betrachten."
Die Welt – ein unerschöpfliches Gefäß. Die Fragen hören nie auf. Wie bei Stesichoros, preist Carson auch bei Hölderlin das Selbstbewusstsein, mit dem dieser kleine sprachliche Katastrophen konstruiert, um neue Wege zu gehen – aus Wut darüber, dass die Wirklichkeit von der Sprache einkassiert zu werden droht. Man könnte es eine "rote" Sprache nennen - eine Sprache, die, ob der Vereinnahmung, der Usurpation für sprachfremde Zwecke in Rage gerät. Man muss alles tun, um festgesetzte Bedeutungen zu verhindern. Aber man weiß: eine "rote" Sprache setzt sich der Gefährdung aus, abzustürzen. Sie katastrophisiert, um es in Carsons Worten zu sagen, die Erzählung und die Kommunikation.
Wir brauchen die Kunst, weniger, damit wir nicht verrückt werden, wie es oft heißt, sondern vor allem, damit in diesen zerklüfteten Zeiten das Fragen in uns weitergeht. Damit wir mit den Fragen nicht alleine sind auf der Welt. Wieder und wieder stellen wir die einfachsten Themen: Freundschaft, Liebe, Hass, Tod. – Warum eigentlich hat Herakles den Geryon im Mythos umgebracht? Fragt Geryon irgendwann. – Es kann eben nicht jeder Tag ein Prachttag sein, entlässt Carson ihre Leser. So schleichen wir uns aus dem Roman, der keiner ist. Es gibt sie, die Prachttage. Auch dank Carsons Kunst.
Anne Carson: "Rot. Zwei Romane in Versen. "
"Die Autobiographie von Rot" und "Rot Doc>"
aus dem amerikanischen Englisch von Anja Utler
S. Fischer Verlag 2019, 320 Seiten, 24 Euro.