Eric Leimann: Ich habe gelesen, an dem Tag nach dem Casting hatten Sie Ihre schriftliche Abiturprüfung. Haben Sie sich da vielleicht überlegt, einfach nicht hinzugehen und stattdessen den Lernstoff noch mal durchzugehen?
Mala Emde: Ja, das hatte ich überlegt und auch wirklich in Frage gestellt, ob ich zu diesem Casting gehen soll. Und dann hab ich gedacht: Okay, ich kann an dem letzten Tag vor den Schriftlichen...sollt ich sowieso nicht lernen, sondern meinen Kopf freimachen und irgendwas tun, was mir einfach Freude bereitet. Und dann war Casting wohl die beste Möglichkeit, hab ich mir vorgestellt (lacht).
Leimann: Und Sie hatten das Gefühl, dass es gar nicht so gut gelaufen ist...
Emde: Das ist auch wahr. Ich glaube, ich habe die ganze Aufregung von dem Abitur in dieses Casting hineinprojiziert, sprich: Ich hatte meinen Text vergessen während des Castings. Das ist mir vorher noch nie passiert, das war mir furchtbar peinlich. Und danach war ich mir eigentlich sicher, dass das nicht geklappt hätte.
Leimann: Haben Sie denn jemals erfahren - ich weiß, man sagt das Schauspielern oft nicht so gerne - weswegen Sie ausgesucht worden sind?
Emde: Esther Schapira, unsere Redakteurin vom HR, meinte immer, sie waren auf der Suche nach dem Anne-Lachen. Und sie hätte es wohl in dem ersten Moment, als ich in den Raum hineintrat, gewusst: Das ist die Frau, die wir suchen. Die strahlt irgendwie eine Stärke aus und trotzdem etwas Freies und einen Lebensmut. Ja, für sie war es wohl mein Anne-Lachen.
Leimann: Sie sind die erste Deutsche, die Anne Frank spielt. Es hat ja lange gedauert, bis in Deutschland ein Filmprojekt zustande kommt. Fühlt man da eine besondere Verantwortung oder ist es letztendlich doch eine Rolle, an die man rangeht, wie an jede andere auch?
Emde: Also ich würde sagen, ich gehe an jede Rolle anders ran. Das muss man einfach zwangsläufig, also weil man sich mit anderen Dingen beschäftigt. Und natürlich wurde mir, dadurch, dass ich mich mit ihr beschäftigt habe, bewusst, wie viele Erwartungen auch an ihr geknüpft sind, wie vielen Menschen sie etwas bedeutet und wie viel auch mit ihr assoziiert wird. Aber dann hab ich beschlossen, ich muss mich davon lösen und darf mir auch das nicht zu bewusst machen, weil das setzt nur einen Druck in mir aus und das macht mich unfrei. Und dann habe ich mich irgendwann, ab einem gewissen Zeitpunkt nur noch auf Raymond Leys, der Regisseur, und meine Anne konzentriert. Wir haben versucht, unsere Anne zu finden, die wir darstellen, weil wir können nicht alle Erwartungen erfüllen.
Leimann: Und wie war die Idee von der Anne, also die Sie mit dem Regisseur zusammen entwickelt haben? Was wollten Sie denn rüberbringen in dem Film?
Emde: Der Film konzentriert sich sehr stark auf die Menschen im Hinterhaus. Auch die zwischenmenschlichen Beziehungen. Und wir wollen nicht die große Geschichte erzählen, weil die erzählt sich von allein, glaube ich. Und dann war es uns wichtig, die Anne, die wir im Tagebuch kennenlernen, eben aufzuzeigen, also wie multiplex ihre Persönlichkeit war. Dass sie diese stille und sehnsuchtsvolle Anne war, dann ihren unglaublichen Lebensmut, ihren Trotz und die innere, eigene Freiheit, die sie sich schafft durch ihre Worte und ihre Gedanken. Und dann war es uns natürlich auch wichtig, diese zwei Jahre zu erzählen. Das heißt, am Anfang spiele ich eine Dreizehnjährige, am Ende ist sie fünfzehneinhalb Jahre alt und eine junge Frau geworden. Und das ist auch wichtig, dass wir das erzählen in ihrer Entwicklung.
Faszination bis heute
Leimann: Wenn man sich jetzt diese ganze Geschichte anguckt: Es ist ja Weltliteratur, die Leute sind fasziniert, wenn man nach Amsterdam kommt, sieht man immer lange Schlagen vor diesem Anne-Frank-Haus, das ja für den Film nachgebildet worden ist. Worin liegt ihrer Meinung nach die Faszination, die dieses Mädchen bis heute ausübt?
Emde: Ich glaube einmal liegt die darin, dass wenn wir das Tagebuch lesen, dass sich da auf einmal eine Person vor uns auftut, an der wir Geschichte beinahe haptisch vor uns haben. Und mit der wir diese Geschichte Hand in Hand durchgehen können. Dass heißt, wir sind nicht irgendwie verloren, für uns Deutsche zum Beispiel, in dieser deutschen großen Geschichte, mit der wir uns natürlich auseinandersetzen, also im besten Fall, sondern wir können sie durch sie vielleicht so ein bisschen zu unserer eigenen machen. Weil Anne Frank gibt uns die Möglichkeit. Ich glaube fast jeder kann in diesem Tagebuch etwas finden, mit dem man sich identifizieren kann....
Leimann: Weil es ja auch in einer ganz einfachen und eben jungen Sprache verfasst ist...
Emde: Ja genau und trotzdem kann man sie aber ernst nehmen. Sie ist auch nicht zu sehr Kind. Dass man sich auch als erwachsener Mensch irgendwie zurückerinnern kann und über sich selber vielleicht auch lachen kann, weil sie sich auch nicht zu ernst nimmt, also sie ist auch so selbstironisch. Und gleichzeitig gewinnt man sie auch lieb, es ist einfach ein Schicksal, was sich einprägt. Es ist auch eine unglaubliche Geschichte und jeder fühlt sich zu ihr vertraut und dadurch hat jeder auch das Gefühl, ich muss, ich will mich intensiver mit ihr auseinandersetzen, will ihr Zuhause sehen, will nachvollziehen, in welchem Ort sie diese Worte geschaffen hat.
Leimann: Sie waren, glaube ich, 17, als sie den Film gedreht haben.
Emde: Ja, dann wurde ich 18 ...
Spannendes Tochter-Vater-Verhältnis
Leimann: Sie waren also ein bisschen älter als die reale Anne Frank, aber das ist ja so ein bisschen eine Geschichte eines Erwachsenwerdens. Wo haben Sie Parallelen gesehen und wo haben Sie gesehen: Okay, das ist jemand, der vor 70 Jahren gelebt hat?
Emde: Also die Parallelen, glaube ich, besonders in der Gefühlswelt. Also wenn man verliebt ist, glaub ich, ist das kein Unterschied, ob das vor 70 Jahren oder heute war. Da fühlt man das gleiche Kribbeln in einem aufsteigen und die gleiche Aufregung. Womit ich Probleme hatte, was vor 70 Jahren war, also vielleicht auch irgendwo, das war uns auch wichtig zu schauen: Wie ist zum Beispiel das Vater-Tochter-Verhältnis? Das war sehr vertraut zwischen Otto und Anne, aber gleichzeitig war der Vater einfach vor 70 Jahren noch mehr Patriarchat als heute. Und da haben wir eben versucht zu schauen: Wie modern wollen wir das machen oder wie zeitgetreu wollen wir das halten? Oder, wo wir auch drauf geschaut haben: Wie es sich vielleicht verändert bei dem Kuss mit Peter. Weil ein Kuss war eine viel größere Hürde, weil das ein größeres Tabu war. Oder auch über die Sexualität zu sprechen - wo Anne Frank sehr modern war, aber trotzdem ist da ja eine gesellschaftliche Hürde. Und ich glaube, da mussten wir uns herantasten und welchen Weg wollen wir gehen.
Leimann: Sie gingen ja noch zur Schule, glaube ich, als sie den Film gedreht haben. Da setzt man sich ja auch noch mal auseinander. Was haben denn Ihre Mitschüler oder Ihre Freunde, Gleichaltrige über diese Anne Frank-Geschichte gewusst und wie haben die sich damit auseinandergesetzt?
Emde: Also - viele haben das Tagebuch gelesen - und jeder kennt das Schicksal von Anne Frank. Wenn man über diese Zeit spricht und irgendwie versucht, über einzelne Schicksale zu sprechen, kommt Anne Frank immer wieder auf. Was teilweise auch sehr schade ist, finde ich, weil ich glaube, es gibt doch ganz, ganz viele andere Schicksale, über die wir leider nicht sprechen und Anne Frank ist eine Art Symbolfigur geworden, was ich sehr gefährlich finde, denn ich finde, man muss jedes einzelne Schicksal der Menschen, die da gelebt haben, wertschätzen. Und sie steht für ihr Schicksal, nicht als Symbol. Also - meinen Freunden ist sie ein Begriff und sie haben mir auch immer die Möglichkeit gegeben, mit ihnen darüber zu sprechen. Obwohl ich das immer, wenn ich daran arbeite, immer sehr in meiner eigenen Welt das bewahre.
Leimann: Es ist ja bekannt, dass junge Leute eigentlich kaum noch fernsehen oder keinen Fernseher mehr besitzen. Wie kann man denn heute überhaupt eine junge Generation mit so einer Geschichte wie Anne Frank erreichen? Ist da so ein Fernsehspiel überhaupt noch der richtige Weg? Gibt es andere Wege, die besser geeignet wären, so ein Gedenken sicherzustellen?
Emde: Also ich glaube, eine Anne Frank-App wäre jetzt nicht das Beste, das man machen kann (lacht). Ich glaube, der Film gibt schon eine Möglichkeit, auch wenn es ein Fernsehfilm ist. Aber zum Beispiel unser Film soll auch an den Schulen gezeigt werden. Dadurch, dass er Anne Frank sehr ernst nimmt, nimmt er ja auch die anderen Jugendlichen, glaube ich, sehr ernst und gibt dadurch schon einen Weg. Ich sehe trotzdem natürlich das Problem des Fernsehens, weil die Jugend guckt kein Fernsehen mehr. Es wird einen Kinofilm geben, vielleicht wird der noch mehr Leute, noch mehr junge Leute interessieren, aber ich glaube die Leute, die an Anne Frank interessiert sind, die können sich ihn auch in der Mediathek angucken oder schalten dann auch mal den Fernseher ein - wenn sie einen haben oder bei den Eltern. Und nach wie vor, glaube ich, ist das Tagebuch der beste Weg, um sich Anne Frank zu nähern und das wird auch heute immer noch viel gelesen.
Leimann: Muss man sich von so einer Rolle befreien, wenn man die gespielt hat, also ich meine das erst mal psychologisch...?
Emde: Ich glaube, das passiert automatisch. Weil, sobald die Dreharbeiten abgeschlossen sind, bei mir war das sehr simpel, weil ich habe gedreht und dann hatte ich noch eine sehr kurze Zeit bis zu meinen mündlichen Abiturprüfungen. Also ich musste einen radikalen Schnitt machen und sagen: Gut, jetzt ist die Anne Frank weg, weil ich muss mich jetzt auf Ethik und Kunst konzentrieren.
Natürlich ist es dann noch ein Ablösungsprozess und sie ist auch weiterhin Teil meiner Gedanken und manchmal sehe ich die Welt vielleicht noch ein bisschen mehr mit Annes Augen. Aber das geht dann immer nach einem Dreh relativ schnell, weil man dann eine neue Rolle hat und man muss es auch irgendwie loswerden. Man kann nicht jede Rolle bei sich behalten, weil man ist dann auch immer wieder mal einfach Mala und das ist auch ganz gut, wenn man frei durch die Welt läuft.