Jeder, der bereits als junger Mensch Anne Franks Tagebuch gelesen hat, war beeindruckt und berührt von ihren Aufzeichnungen. Erstaunlich war und ist auch für den erwachsenen Leser, wie reflektiert das Mädchen mit seinem Schicksal umging. Am 7. März 1944, wenige Monate, bevor das Versteck der acht Bewohner des Amsterdamer Hinterhauses verraten wurde, schrieb Anne:
"Die unbesorgte, unbekümmerte Schulzeit kommt nicht wieder. Ich sehne mich auch nicht mehr danach zurück. Ich bin darüber hinausgewachsen. Nur so harmlos vergnügt sein, das kann ich nicht mehr. Ein Teil von mir bewahrt doch immer seinen Ernst. Ich sehe mein Dasein bis zum Beginn dieses Jahres wie unter einer scharfen Lupe. Zuhause das Leben mit viel Sonnenschein, dann 1942 hierher, der plötzliche Übergang. Ich konnte das nicht alles verarbeiten."
"Ich liebe die Niederlande"
Trotz dieser Reflexion wirkte manches an ihrem Tagebuch fragmentarisch. In der nun erschienenen Gesamtausgabe ist nachzulesen, dass Anne zwei Versionen ihres Tagebuchs verfasst hat. Von Juni 1942 bis zum Frühjahr 1944 schrieb sie Briefe an “Kitty“, eine fiktive Freundin, nur für sich selbst in ihr Tagebuch. Dann hörte Anne im Radio die Ansprache des niederländischen Erziehungsministers im Londoner Exil. Er sprach davon, dass man nach dem Krieg alles über die Leiden der Niederländer während der deutschen Besatzung veröffentlichen müsse. Als Beispiel nannte er Tagebücher. Unter dem Eindruck dieser Rede beschloss Anne Frank, nach dem Krieg ein Buch zu veröffentlichen und ihr Tagebuch als Grundlage zu nehmen. Sie begann, Texte und Themen auszuwählen. Wenig später schrieb sie in ihr noch unbearbeitetes Tagebuch:
"Zu unserem großen Leidwesen und zu unserem großen Entsetzen haben wir gehört, dass die Stimmung uns Juden gegenüber bei vielen Leuten umgeschlagen ist. Wir haben gehört, dass Antisemitismus aufgekommen ist in Kreisen, die früher nicht daran dachten. Ehrlich gesagt kann ich es nicht begreifen ... Ich liebe die Niederlande, ich habe einmal gehofft, dass es mir Vaterlandslosen als Vaterland dienen könnte, ich hoffe es noch!"
Einer, der im Schweizer Exil hoffte, war damals Annes Cousin und der Spielkamerad ihrer Kindheit, Buddy Elias. Die Familie Elias war rechtzeitig in die Schweiz gegangen und dort, anders als die Familie Frank in den Niederlanden, relativ sicher. Der heute 88-jährige Elias erinnert sich in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk:
"Es begann ja schon eigentlich mit dem Einmarsch der Deutschen in Holland, da fingen die Judenverfolgungen in Holland an. Wir konnten zwar korrespondieren, aber die Anne, die Margot und die Familie konnte nicht mehr zu uns in die Schweiz kommen, und dann gingen die Verfolgungen in Holland los, und das war natürlich für uns, für die Familie in der Schweiz, auch ganz entsetzlich tragisch."
Geschichten und Erzählungen
Annes fröhliches Wesen, ihr Wissensdurst, ihre Liebe zum Schreiben und dem sich Ausdrücken, ihre erdachten Geschichten, ihre Beschreibungen des Alltäglichen waren nach dem Untertauchen plötzlich eingeschlossen auf etwa 60 Quadratmetern Wohnfläche, in Zimmern, die verdunkelt bleiben mussten, damit die Hinterhaus-Bewohner nicht entdeckt wurden, in der Ferne das Läuten der Westerkerk, das nur Minuten entfernt vom eigenen Leben Himmel und vermeintliche Freiheit bedeutete. Mit ihrem Temperament hatte es Anne im untergetauchten Leben nie leicht. Oft beklagte sie sich bei ihrer Tagebuch-Freundin "Kitty“ über Unverständnis vom geliebten Vater, böse Streite mit der Mutter und Auseinandersetzungen mit den anderen Mitbewohnern. Auch das ist ausführlicher zu lesen in der Gesamtausgabe mit drei Versionen der Tagebücher, Briefen, vier Einträgen in Poesiealben, Notizen zu Anne Franks Lektüre, Exzerpten und Dokumenten. Und da sind vor allem noch ihre im Versteck geschriebenen Geschichten und Erzählungen vom "Schutzengel“, dem "Blumenmädchen“ oder "Paulas Flug“. Diese Texte gehörten eigentlich in ein eigenes Buch, wie zum Beispiel ihre Erzählung "Die Fee“.
"Die Fee, die ich meine, war keine gewöhnliche Fee, wie so viele im Märchenland zu finden sind. Oh nein, meine Fee war eine ganz besondere Fee, außergewöhnlich in ihrem Aussehen und außergewöhnlich in ihrem Benehmen. Warum, wird sich jeder fragen, war diese Fee denn so besonders? Nun, weil sie nicht hier ein wenig half und dort ein wenig Freude brachte, sondern weil sie es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Welt und die Menschen glücklich zu machen …"
Anne holte sich mit ihren Geschichten einerseits das normale Leben in ihr Versteck und träumte sich andererseits aus dem lebendig Eingesperrtsein in die Freiheit. Buddy Elias:
"Es gibt ganz bewegende Sachen auch, sie hat auch einen Aufsatz geschrieben, sogar ein kleines Röckchen gezeichnet, das sie sich schneidern lassen wollte, wenn sie mit dem Bernd Schlittschuh laufen geht. Was wir so für Figuren laufen! - sie hatte enorme Fantasie, auch in diese Richtung."
"Unglaublich, was dieses Kind erreicht hat"
Und da ist Annes Beschreibung ihrer Freundschaft und ersten zarten Liebe zu Peter, der mit seiner Familie das Schicksal der Familie Frank teilte. In der uns bislang unbekannten unbearbeiteten Version der Tagebuchaufzeichnungen gibt es einfühlsame Beschreibungen Annes über ihr Erleben des Freundes Peter, die erstaunlich reif sind für eine 15-Jährige, sie beschreibt ihre eigene Verliebtheit mit Distanz und inmitten von Dauerspannung und entsetzlicher Angst intensiv und berührend. Der Briefwechsel mit ihrer Schwester Margot zeugt von einer Mitteilsamkeit untereinander, die man oft heute gar nicht mehr gewohnt ist. Für ihren Cousin Buddy Elias wäre Anne heute nicht nur wegen ihrer Gabe, sich so auszudrücken eine große Schriftstellerin.
"Es ist einfach unglaublich, was dieses Kind erreicht hat. Aber sie hat ja auch so wunderbare Sachen in ihrem Buch geschrieben, sie hat ja so humanistische Gedanken gehabt. Ein Satz, der mich immer wieder berührt, wenn ich daran denke: Einmal werden wir wieder Menschen sein und nicht nur Juden. Das kann man heut eigentlich verändern. Einmal werden wir wieder Menschen sein und nicht nur Ausländer oder irgendetwas anderes."
Die Anne-Frank-Gesamtausgabe ist sehr umfangreich, das haben Gesamtwerke von Autoren so an sich. Meist sind sie nicht dazu bestimmt, dass man alle Seiten liest. Darum geht es auch nicht. In diesem Buch mit der so wundervollen, sensiblen Textfassung und Neuübersetzung von Miriam Pressler geht es vor allem um eine Sammlung von Annes Vermächtnis. Es ist ein sorgfältig dokumentiertes Stück Zeitgeschichte, das in jeden Bücherschrank gehört. Und es ist das, was sich Anne immer gewünscht hat: etwas Gedrucktes von ihr, das alle lesen können.
Anne Frank Fonds Basel (Hrsg.): Anne Frank, Gesamtausgabe
S. Fischer Verlag, 800 Seiten, 28 Euro, ISBN: 978-3100223043