Als der angehende Mathematikstudent Marc Weber mit seinem eng gepackten Rucksack auf dem Rücken in den Bahnhof von Jena einfährt, ist die DDR in den Köpfen vieler Menschen eigentlich schon am Ende. Die Erinnerung an den letzten Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse, den Marc an seiner Provinzschule in der Lausitz erleben musste, lässt daran kaum zweifeln.
"Und morgen würden sie wie jedes Jahr an der hinter der Kaufhalle aufgestellten Tribüne vorüberlaufen, Transparente tragen und den alten Männern von der SED-Kreisleitung zuwinken – wie albern! [...] Erst als Falk aufschrie und sich triumphierend umblickte, sah Marc die Wespe auf der hellgrauen Sprelacartfläche, sah, wie sie versuchte, sich zu drehen oder loszufliegen, sah zwei ausgerupfte Beine auf der Tischplatte, daneben einen durchsichtigen Flügel. Den zweiten Flügel hielt Armin mit einer spitzen Pinzette in die Luft, fixierte ihn im durchs Fenster scheinende Morgenlicht und sagte schließlich: Wäre besser gewesen, es so mit den Juden zu machen. Nicht einfach vergasen. Marc fiel ein, dass die Zwillinge am letzten Maifeiertag ein Spruchband Nie wieder Faschismus getragen hatten, stumm und ohne eine Miene zu verziehen."
Die DDR als Zeitschleife
Selbst die Staatsicherheit verzeichnete eine gerade gegen Ende der DDR stetig steigende Anzahl rechtsextremer Systemgegner, dafür findet Anne Richter hier das passende Bild. Marc hingegen, der Abiturient, der sein Staatsbürgerkundeheft sorgfältig geführt und Urkunden "Für gutes Lernen in der sozialistischen Schule" entgegengenommen hat, strebt ein Jahr vor dem Mauerfall ein Mathematikstudium an in einem System, an das er selbst längst nicht mehr glaubt. Kaum hat er die Erinnerung an seine Schulzeit beiseite geschoben, kommt ihm, während er in einer Nacht des Jahres 1988 durch Jena streift, ein Gedanke.
"Er überlegte ob er noch immer hier sein würde, wenn sein Alter der Quersumme der aktuellen Jahreszahl entsprach, und dachte an die Form der darin doppelt vorkommenden Ziffer Acht, an das Symbol für Unendlichkeit."
Die DDR als Zeitschleife der mathematischen Unendlichkeit? Anne Richter scheut nicht vor weit ausgreifenden Metaphern und Formulierungen zurück, das wird bereits auf den ersten Seiten ihres Romans "Unvollkommenheit" deutlich. In chronologischen Abschnitten zwischen 1988 und 2008 folgt sie ihren drei Hauptfiguren: Neben Marc sind das sein Kommilitone Paul, der aufgrund dissidentischer Umtriebe exmatrikuliert wurde, und die schöne Modedesignerin Hanka, die sich gegen ihre systemkonformen Eltern auflehnt.
Angsterfüllte Grundstimmung
Die drei lernen sich auf einem von Pauls Protest-Konzerten kennen, mit denen er sich einen Namen gemacht hat, sowohl in den Widerstandkreisen als auch bei der Staatssicherheit. Die entschlossene und zugleich angsterfüllte Grundstimmung in Dissidentenkreisen, die staatliche Diskriminierung kritischer Studenten, das ambivalente Verhalten der Professoren, die zwar Begabte fördern möchten, aber nur dann, wenn sie keine falschen Fragen stellen, gehören zu den lesenswerten Passagen dieses Romans.
"Was machst du eigentlich, fragte Marc, jetzt...? Wo du nicht mehr studierst...? – Arbeite in Göschwitz, sagte Paul kühl, Fließbandarbeit für Knackis, Hilfsschulabgänger und Staatsgegner wie mich. Muss immer um sechs aufstehen. Ab und an mache ich einen Tag frei, dann gibt’s Ärger."
Die Freundschaft zwischen Paul und Marc leidet nicht nur an politischen Zwängen, sondern auch an der freigeistigen Modedesignerin Hanka, die beide junge Männern begehren. Die Geschichten über private und politische Verwerfungen in der ausgehenden DDR, über die allmähliche Formierung eines breiteren zivilen Widerstands nach den Kommunalwahlen 1989 und über die Arbeitsmethoden der Staatsicherheit sind auch im dreißigsten Jahr des Mauerfalls nicht auserzählt. Leider gelingt es Anne Richter nicht, den vielfach verfilmten und aufgeschriebenen Erzählungen über die Umbruchszeit und ihre Folgen greifbare und aufschlussreiche Figuren und Szenen hinzuzufügen. Während auf Jenas Straßen "Wir sind ein Volk" skandiert wird, sitzen die schöne Hanka und der verliebte Marc beim Bier:
"Auf einen besseren Sozialismus....und auf die Musik! Nach einigen Schlucken fügte sie hinzu: Manchmal mache ich das gerne, in eine vornehme Gaststätte gehen und die Leute ein bisschen erzürnen...., Servietten zerpflücken, kleckern, Suppe mit der Gabel und den Nachtisch mit dem Messer essen; wenn keiner hinguckt, mit dem Bleistift auf die gemusterte Tapete schreiben, am Ende mit der Bedienung diskutieren und draußen einen Lachanfall kriegen....aber heute sind die meisten cooler als sonst."
"Coole" Stimmung in Jena 1989
Ungeachtet der Frage, ob die Stimmungslage im Herbst 1989 in Jena wirklich "cool" war, verwundert hier die grobe Figurenzeichnung der Klischee-Rebellin Hanka, die mit infantilen Gesten Systemwiderstand inszeniert. Holzschnittartige Figuren und schematische Handlungswendungen findet man auch und vor allem in den Passagen nach dem Mauerfall, der als solcher mit keinem Wort erwähnt wird. Die durch die Maueröffnung getrennten und mittlerweile wieder vereinten Hauptfiguren unternehmen gemeinsam mit Pauls neuer Freundin eine Reise nach Rumänien. In einer ausufernden Beschreibung einer Burgbesichtigung, die wirkt als sei sie aus einem Reiseführer übernommen, betritt die Reisegruppe eine historische "Ehekammer", in die verstrittene Paare bis zu Versöhnung eingesperrt wurden.
"Wie es sich wohl darin gelebt hat – in den Kammern, murmelte Hanka. [...] Eng, erwiderte (Marc) dann und zerschnitt die dumpfe Stille, und man fühlte sich als Teil einer Gemeinschaft. Gemeinschaft, wiederholte Paul verächtlich. Ein gemeinsamer Feind hält Menschen zusammen. Manchmal braucht es einen solchen Rahmen, sagte Marc, damit die Menschen wissen, was sie aneinander haben. Wie in der DDR, sagte Siri ironisch. Marc sah hinüber zu Hanka; ihre Blicke trafen sich. Aber hier in Rumänien war der Kommunismus ja noch viel extremer, ergänzte Siri."
Literarisch nicht gelungen
Solcherart konstruierte Dialoge und auch sprachliche und kompositorische Schwächen nehmen im Verlauf dieses in vieler Hinsicht unvollkommenen Romans leider noch zu. Aber nicht nur das. Es mangelt schlicht an handwerklicher und editorischer Sorgfalt. Die Erzählerin verwechselt nicht nur Rumäniens Hauptstadt Bukarest mit dem ungarischen Budapest. Auch Marcs neuer Chef heißt einmal Grundinger und dann plötzlich Windig. Oder sind es zwei verschiedene Kollegen der Agentur, in der der einst so zurückhaltende Mathematiker plötzlich als strahlend erfolgreicher "financial risk manager" arbeitet?
Auch wie Marcs einst bester Freund Paul sich vom mutigen DDR-Dissidenten zum erfolgreichen Mathematikprofessor im widervereinten Deutschland wandelt, um dann schließlich zum alkoholkranken Komponisten mit Künstlerstipendium zu werden, erschließt sich dem Leser leider nicht. Bis zu seinem etwas einfallslosen Ende findet man an diesem Wenderoman einer Autorin, die immerhin einmal für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert war, leider nicht viel Gutes. Er ist ein Rätsel oder vielmehr: ein Ärgernis.
Anne Richter: "Unvollkommenheit"
Osburg Verlag, Hamburg. 291 Seiten, 22 Euro.
Osburg Verlag, Hamburg. 291 Seiten, 22 Euro.