So erscheint die Geschichte der DDR auch als Geschichte von konsumpolitischen Entscheidungen, die in direkter Verbindung zur politischen Geschichte standen. Auf den 17. Juni 1953, die Volkserhebung 1956 in Ungarn, den Mauerbau 1961 oder den 'Prager Frühling’ 1968, die politischen Krisen in Polen Ende der sechziger und siebziger Jahre folgten Versuche, die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern zu verbessern.
Am Beginn dieser Versuche standen 1948 die Geschäfte der staatlichen Handelsorganisation – die HO-Läden; auf dem Land sollte bald der "Konsum" die nötige Versorgung übernehmen. Die so erzielten ersten bescheidenen Erfolgen provozierten indes eher unbescheidene Ziele: Eine "wissenschaftlich-technische Revolution" sollte die DDR auf allen Gebieten an die Weltspitze katapultieren. Besonders reizvoll: Dass verhasste Bonner Regime sollte in der so sensiblen Konsumfrage übertroffen werden – Weltniveau eben. Der besseren Warenverteilung sollte dabei auch der neu eingeführte DDR-Versandhandel dienen. Ein Einkaufskatalog von 1959 präsentierte sich entsprechend selbstbewusst:
Ich bin stolz darauf, der Katalog eines sozialistischen Versandhauses zu sein. Auf meinen Seiten wird jetzt schon überzeugend sichtbar: Die Arbeiter in der Industrie und die Werktätigen in der Landwirtschaft schaffen es! Bis 1961 wird Westdeutschland im Pro-Kopf-Verbrauch an Lebensmitteln und den wichtigsten Konsumgütern überholt.
Es kam bekanntlich anders, und 1961 nicht der konsumpolitische Erfolg, sondern die Mauer. Und sie entlarvte zugleich die Lüge, dass die offene Grenze zu Westberlin den sozialistischen Aufbau und damit die Versorgung der Bevölkerung behindert hatte. Denn auch die geschlossene Grenze brachte keine Verbesserung. Die Versorgungskrise war hausgemacht und hielt Staats- und Parteiführung in Atem:
Keine Ware des täglichen Bedarfs war zu nichtig, um nicht zum Thema auf den Sitzungen von Zentralkomitee und Politbüro zu werden. Mal war es der fehlende Würfelzucker, mal Frauenbekleidung in Übergrößen, mal Kinderstrümpfe, mal Butter oder Wurst. Die regelmäßig auf den Sitzungen des Politbüros des ZK der SED beschlossenen 'Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgung’ demonstrierten die große politische Aufmerksamkeit, welche die Machthaber auch dem geringsten Versorgungsproblem widmeten – ohne es jedoch dauerhaft und grundsätzlich zu lösen.
Eine der Strategien, der fortwährenden Kluft zwischen Angebot und Nachfrage beizukommen, war der Versuch, den sozialistischen Kunden zu einem verantwortungsvollen Käufer umzuerziehen. Dieser sollte dazu gebracht werden, die Waren künftig nach Verfügbarkeit und nicht mehr nach Notwendigkeit zu kaufen. Er sollte also nicht mehr kaufen, was er brauchte, sondern das, was da war. Solche Planungen konnten skurrile Ausmaße an:
Einige Wirtschaftsplaner gedachten allen Ernstes, die 'kräftige Frau’ als allgemeines Schönheitsideal zu etablieren, in der Hoffnung, damit mittel- und langfristig die Nachfrage nach Damenoberbekleidung zu senken. Schließlich hätten Verbraucherumfragen gezeigt, dass korpulente Frauen nicht jeden modischen Kleiderwechsel mitmachten.
Doch solche und andere Rechnungen gingen nicht auf. Und so liest sich Kaminskys gut recherchierte und spannend geschriebene Konsumgeschichte auch vielmehr wie eine Kulturgeschichte des Mangels: Staat und Partei versuchten ständig, den Mangel zu erklären, die Menschen hingegen, sich in der Praxis mit ihm zu arrangieren. Dazu gehörte in Fabriken und Geschäften ein inoffizielles System der Verteilung. Viele bereicherten sich an den seltenen Konsumgaben, zweigten für sich, für Familie und Freunde reichlich ab. Aber es gab auch jene, die im Kleinen für ein bisschen mehr Gleichheit im Sozialismus sorgen wollten:
In manchen Verkaufsstellen legten sich die Verkäuferinnen Listen an, um ihrerseits für ein wenig Gerechtigkeit bei der Verteilung der Waren zu sorgen, sich dem auf ihnen lastenden Druck zu entziehen und gleichzeitig den inneren Frieden in den Orten aufrechtzuerhalten: Sie ließen im Rotationsprinzip alle ihre Kunden an den raren Mangelwaren teilhaben.
Erst mit Währungsreform und staatlicher Vereinigung kam für die DDR-Bürger jenes – so Annette Kaminsky – "positive Einkaufserlebnis", das ihnen stets vorenthalten worden war. Doch das System der Marktwirtschaft, in dem sie sich nun wiederfanden, hat bei aller sozialer Absicherung auch seine Schattenseiten – die hohen Arbeitslosenzahlen in Ostdeutschland machen dies drastisch deutlich. Auch das "positive Einkaufserlebnis" hat eben seinen Preis.
Das Buch von Annette Kaminsky "Wohlstand, Schönheit, Glück. Kleine Konsumgeschichte der DDR" ist erschienen in der "Beck’schen Reihe" des C. H. Beck Verlags, umfasst 176 Seiten und kostet 19,90 DM.