So gelegen wie dieser Band aus Enzensbergers "Anderer Bibliothek" kommt uns kaum eine Neuerscheinung dieses Frühjahrs. Das Tagebuch einer namentlich unbekannten jungen Frau aus den letzten Tagen der Naziherrschaft in Berlin und den ersten Wochen der russischen Besatzung zeigt uns im Rückblick auf den jüngsten Krieg vor allem eins: Krieg ist nicht gleich Krieg - hier irrt der Pazifist. Die lange Bombardierung Berlins, schließlich die Eroberung durch die russische Armee, Stadtteil für Stadtteil, Straße für Straße, kostete unter der hilflosen Zivilbevölkerung noch zahllose Opfer, die um so mehr zu beklagen sind, als der Krieg ja ohnehin längst verloren war. Weil die russischen Eroberer der Reichshauptstadt das verbrecherische Regime und seine Soldaten von der Zivilbevölkerung nicht unterscheiden konnten, musste er als totaler Krieg geführt werden - und das nicht bloß, weil Goebbels ihn auch noch ausgerufen hatte. Hervorgegangen ist dieses Tagebuch aus den Notizen einer weitgereisten, modernen und selbstbewussten unverheirateten Frau, die den Fall Berlins und den Einmarsch der russischen Armee aus der Froschperspektive ihrer eigenen Stimmung wahrnahm und ihre Nachbarn, die Bewohner eines Mietshauses und die im Luftschutzkeller Versammelten genau beobachtete.
Bomben. Die Mauern schwanken. Ich bin nass wie nach schwerer Arbeit. Seit ich ausgebombt bin und in der gleichen Nacht beim Bergen Verschütteter half, laboriere ich an meiner Todesangst. Es sind immer die gleichen Symptome. Zuerst Schweiß ums Haar, Bohren im Rückenmark, im Hals sticht es, der Gaumen dörrt aus, und das Herz klopft Synkopen. Die Augen stieren auf das Stuhlbein gegenüber und prägen sich seine gedrechselten Wulste und Knorpel ein. Jetzt beten können. Bis die Bomberwelle sich verzieht. Wie auf Kommando brach fiebriges Schwatzen los. Alle lachten, überschrieen einander, rissen Witze. Fräulein Behn trat vor und las die Goebbelsrede zum Geburtstag des Führers. Sie las mit einer neuen, spöttischen und bösen Stimme, die man hier unten im Keller noch nicht vernommen hat...
Trotz der Gerüchte über Wunderwaffen und Ersatzarmeen glaubte niemand mehr an den Endsieg und fürchtete in einer seltsam aufgekratzten und rastlosen Stimmung umso mehr den Einmarsch der Russen, von denen die Nazipropaganda gerade der weiblichen Zivilbevölkerung das Schlimmste prophezeit hatte. Die Tagebuchschreiberin war eine exzellente Beobachterin ihrer eigenen Stimmungen, aber auch ihrer Umwelt in dieser extremen Lage. Gerade hatte man noch seine Lebensmittelmarken für Fleisch, Graupen oder Brot eingelöst und das Vorratslager einer Kaserne der Schutzpolizei ausgeräubert - da traten die ersten russischen Soldaten auf. Neben den abstrusen Formen, die der Alltag in Berlin in den letzten Tagen der Naziherrschaft angenommen hatte, ist die Konfrontation der Zivilbevölkerung mit den russischen Eroberern das zweite Hauptthema des Buchs. Welches Kriegskind hat nicht, lange ehe es vom Faschismus und den Ursachen des Zweiten Weltkriegs und den Verbrechen der Deutschen in Polen und Russland etwas erfuhr, das Bild des 'russischen Vergewaltigers’ eingeprägt bekommen? Nicht als Befreier erschien in diesen Schilderungen die russische Armee in Berlin, sondern als barbarische Eroberer, die die Niederlage des Feindes mit der Schändung hilfloser Mädchen und Frauen feierten. Ist das Tagebuch der Anonyma, zuerst 1954 in den USA, 1959 auch bei uns veröffentlicht, als Augenzeugenbericht längst nicht mehr konkurrenzlos, so verdient es doch besondere Beachtung. Aus der Froschperspektive einer lebensklugen und liebeskundigen jungen, modernen Frau erscheint die Vergewaltigungsleidenschaft der russischen Soldaten, welche zur mythischen Überlieferung des Zweiten Weltkriegs gehört, in einem anderen und neuen Licht.
Überall auf den Bürgersteigen Pferde. Sie misten und strahlen. Kräftiger Stallduft. Zwei russische Soldaten wollen von mir wissen, wo die nächste Pumpe sei...Freundlicher Ton, gutmütige Gesichter. Zum ersten Mal höre ich die Fragen, die später immer wieder kehrten: "Haben Sie einen Mann?" Wenn man ja sagt, wird weitergefragt, wo er sei. Wenn nein, folgt die Frage, ob man nicht einen Russen heiraten wolle. Woran sich plumpes Gelächter schließt.
Nach Auskunft dieses Tagebuchs hatte die Weiberjagd der russischen Soldaten in den ersten Tagen und Wochen nach der deutschen Niederlage selten mit der Demütigung des Feindes durch die Schändung seiner Frauen zu tun, wie man es aus ethnischen Kriegen der jüngsten Zeit kennt. Sie wollten wirklich bloß Sex, verlangten nach Frauen, die sie lange entbehrt hatten und empfahlen sich gern durch den Hinweis auf Jugend und Gesundheit, wenn sie nicht auch noch Tauschgeschäfte vorschlugen. Mehl, Fleisch und Zucker gegen Beischlaf. Die Tagebuchschreiberin arrangiert sich nach schlimmen Erfahrungen mit zwei Offizieren und fragt sich dann, ob das Prostitution sei. Unerfahrene junge Mädchen und konservative Frauen kamen mit der so roh ausgelebten Sexualität der Soldaten am schlechtesten zu recht. Manche begingen gar Selbstmord. Die Schreiberin dieses Tagebuchs dagegen erwies sich als eine Feministin vor der Zeit. Wenn deutsche Soldaten, Ehemänner und Väter ihre Frauen und Töchter nicht mehr schützen konnten, dann war mehr eingeläutet, als das Ende des faschistischen Männlichkeitskults und des Naziregimes. Konnten die Frauen die Kollektiverfahrung sexueller Ausbeutung in einer extremen Situation zum ersten Mal öffentlich erörtern - was sie auch hinreichend taten - blieb dem Mann an sich nichts als die Niederlage. Das Ende des Patriarchats hatte begonnen.
Anonyma: Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945. mit einem Nachwort von Kurt W. Marek. Erschienen ist der Band im Eichborn Verlag, er kostet 19.90 Euro.