Bei Siemens weiß man längst, wie Rollenklischees und unbewusste Vorurteile viele Frauen oder Migranten von guten Jobs ausschließen. Pressesprecher Michael Friedrich: "Ich nehme jetzt mal das Beispiel die berühmte Durchsage im Flugzeug: Aus dem Cockpit kommt eine Frauenstimme. Das ist für den einen oder anderen noch ungewöhnlich oder hätte er so nicht erwartet - was natürlich absoluter Unsinn ist. Es entspricht nicht der gängigen Erwartungshaltung Frauen in einem techniklastigen Beruf zum Beispiel zu sehen. Das ist auch eine Sache, die bei Siemens eine große Rolle spielt. Dagegen kämpfen wir auch vehement, weil wir sagen, wir wollen gerne viel mehr Frauen in technischen Berufen haben."
Aber Siemens glaubt, wie viele andere deutsche Unternehmen auch: Eine anonyme Bewerbung schafft keine Abhilfe. Friedrich: "Momentaner Stand: Komplett anonymisierend steht nicht auf der Tagesordnung. Ich glaube, so kann man das sagen."
Vorteile anonymisierter Bewerbungen nicht erwiesen
Siemens begründet das damit, es sei nicht erwiesen, dass anonyme Bewerbungen tatsächlich bessere Ergebnisse lieferten. Michael Friedrich: "Es gibt jetzt momentan aus unserer Sicht keine empirischen Belege, dass das zwangsläufig besser läuft so."
Auch die Antidiskriminierungsstelle sah bei ihrem Pilotprojekt 2011 lediglich eine "tendenzielle Chancengleichheit" - repräsentativ waren ihre Studienergebnisse nicht. Unternehmen wie die Deutsche Post oder die Telekom, die sich 2011 an dem Pilotprojekt der Antidiskriminierungsstelle beteiligten, rekrutieren inzwischen wieder traditionell - das Projekt habe keine Effekte gezeigt, heißt es dort. . Auch der 2011 am Pilotprojekt beteiligte Münchner Online-Versand Mydays hat die anonymisierte Bewerbung inzwischen wieder abgeschafft. Zum Grund will man sich nicht äußern.
Eindruck vom Kandidaten gewinnen
Doch es gibt noch einen anderen Grund, warum Siemens auf komplette Anonymisierung verzichtet. "Wir wollen ja schon auch einen Eindruck von einem Kandidaten gewinnen, natürlich neben der rein fachlichen Qualifikation geht es natürlich auch um solche Fragen wie: Passt jemand gut in ein Team hinein, ist er eine gute Ergänzung für ein Team? Wir sagen ja auch, wir wollen ganz bewusst Vielfalt haben: Männer, Frauen, verschiedene Nationalitäten, verschiedene Altersgruppen", sagt der Siemens-Pressepsrecher.
In der Siemens-Personalabteilung argumentiert man also genau anders herum: Weil sie Vielfalt will, will sie diese auch auf den ersten Blick erkennen können. Bewerber, die - im Positiven - vom Standard abweichen ließen sich so gezielter herausfiltern. Friedrich: "Wir glauben, dass wir so einfach bessere Ideen bekommen von allen Seiten. Und verschiedene Blickwinkel und Perspektiven. Dementsprechend ist das ein ganz wichtiger Faktor. Und die Recruiter sind eben angewiesen, darauf zu achten."
Siemens will keine Bewerbungen mit Fotos
Immerhin auf das Foto verzichtet man inzwischen bei Siemens, da es über die Qualifikation eines Bewerbers nichts aussage. Dennoch komme ein Großteil der Bewerbungen aus Deutschland weiterhin mit Foto. Pressesprecher Friedrich: "Es ist eine über Jahre geübte Praxis in Deutschland. Es war lange Zeit üblich, eine Bewerbung vollständig mit einem Foto einzureichen, wie das so schön heißt, 'mit einem aussagekräftigen Bewerbungsfoto'. Dementsprechend machen das noch sehr viele."
Auch den Bewerbenden sind anonymisierte Bewerbungsverfahren oft fremd. Daher bräuchte es spezielle Verfahren, die eine Broschüre der Antidiskriminierungsstelle des Bundes empfiehlt. Vom Online-Fragebogen, der Alter, Geschlecht und Nationalität gar nicht wissen will, bis hin zum Schwärzen dieser Daten auf den Lebensläufen durch unabhängige Personen.
Wirtschaft zeigt kaum Interesse
Jedes Unternehmen, egal ob Großkonzern oder Handwerksbetrieb kann anonymisierte Verfahren anwenden. Aber es scheint wenig Interesse in der Wirtschaft zu geben. Die Antidiskriminierungsstelle kennt nur ein einziges deutsches Unternehmen, das anonymisierte Bewerbungen einsetzt: der Elektrotechnikhersteller Bürkle + Schöck, ein Mittelständler aus Stuttgart.
Bei der IHK München liegt keine Statistik zu dem Thema vor.