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Anpfiff ohne Azzurri (1/5)
Fußball-Werte fürs Leben

Italien nimmt zwar diesmal nicht an der WM teil. Doch Fußball bleibt der Sport, der das Land vereint. In Neapels Stadtteil Scampia, der als Hochburg der Camorra gilt, versuchen Ehrenamtliche, junge Amateurkicker aus der Hochhaussiedlung über den Fußball auf den richtigen Weg zu führen.

Von Kirstin Hausen |
    Die Amateurkicker aus Neapels Stadtteil Scampia auf ihrem Fußballplatz inmitten einer Hochhaussiedlung
    Die Amateurkicker aus Neapels Stadtteil Scampia auf ihrem Fußballplatz inmitten einer Hochhaussiedlung (Deutschlandradio/ Kirstin Hausen)
    Samstagmittag vor dem katholischen Gemeindehaus Don Guanella in Scampia. Hier, an der Peripherie von Neapel, wurde der Film "Gomorra" gedreht, hier ist die Mafiaorganisation Camorra zu Hause. Sie erpresst Schutzgeld, verkauft Drogen, korrumpiert Politiker, verschafft ihnen Stimmen oder lässt sie abwählen, vereinnahmt den öffentlichen Raum, zerstört die Demokratie. Sie versucht, jede wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung zu verhindern und das sieht man. Die Straßen sind gesäumt von hohen Wohnblocks, beeindruckend hässlich. Wer in Scampia lebt, gehört zu den Verlierern. Jedenfalls denken das die übrigen Italiener.
    "Die Medien stellen Scampia immer als Brutstätte der Camorra dar. Es gibt hier aber auch Initiativen junger Leute, die sich für einen Wandel einsetzen."
    Giuseppe Sbrescia ist 30 Jahre alt und in Scampia geboren. Er streift sich ein blaues Fußballtrikot über, zieht die Stutzen hoch.
    "Ich bin vor sechs Jahren zum ersten Mal zum Training in der Pfarrgemeinde erschienen und seitdem habe ich kein einziges Mal gefehlt. Ich bin der Kapitän, weil das Team hier meine zweite Familie ist."
    "Wir wollen den Spielern die Richtung weisen"
    Im Gemeindehaus verteilt Gennaro Granato Wasserflaschen. Anfang 40, kräftig gebaut, Kurzhaarschnitt, von Beruf Feuerwehrmann. Er leitet ehrenamtlich die Fußballabteilung der Pfarrgemeinde von Scampia, trainiert selbst zwei der insgesamt zwölf Mannschaften.
    "Der Fußball ist für uns das Instrument, die jungen Männer auf den richtigen Weg zu führen. Wir üben keinen Zwang aus. Wir sagen beispielsweise nicht, am Sonntag müsst ihr zur Messe kommen. Uns geht es darum, eine Botschaft zu vermitteln, dann liegt es an ihnen, daraus etwas zu machen."
    Für jeden Spieler hat er ein Begrüßungsritual. Einen kneift er in die Wange, den nächsten stößt er in die Rippen oder zieht am Haarschopf. Sehr männliche Gesten, und doch zärtlich. Die jungen Männer bedeuten ihm viel.
    "Uns geht es um die menschliche Seite, aber auch um den Sport. Wenn wir nicht professionell vorgehen würden, hätten wir heute keine zwölf Mannschaften. Die beste Fußballschule ist die Straße. Wir wollen den Spielern aber auch die Richtung weisen. Auf der Straße können sie sonst leicht auf die schiefe Bahn geraten. Wir müssen sie von der Straße holen. Deshalb trainieren die Älteren drei Abende die Woche. Plus das Spiel am Samstag. Das heißt sie sind an vier von sieben Tagen bei uns."
    Kritik an der alten Politikergarde Italiens
    Gennaro fragt den Kassenwart Salvatore, ob er Lust hat, noch eine Pizza zu essen vor dem Anpfiff. Es geht nach Secondigliano, ebenfalls ein berüchtigter Camorra-Ort. Die Pizza ist gut und günstig. Das Gespräch beim Essen dreht sich um Politik. Gennaro und Salvatore sind sich einig: Die alte Politikergarde hat abgewirtschaftet. Sie wählen die 5-Sterne-Bewegung. Auch wenn sie nicht mit allem einverstanden sind, was die einstige Protestbewegung rund um den Kabarettisten Beppe Grillo politisch durchsetzen will.
    "Sie hatten noch keine Zeit, eine fähige Politikerklasse zu bilden. Ihnen fehlt die Erfahrung in der Politik. Wenn sie in die Regierung gewählt werden, ist das so als würden wir morgen in der ersten oder zweiten Liga spielen. Da hätten wir auch ein paar Schwierigkeiten. Um eine Nation wie Italien zu regieren, eine große Demokratie, was auch immer über uns gesagt wird, braucht man Staatsmänner. Die gibt es heute kaum noch. Aber wenigstens haben die '5 Sterne' keine vorbestraften Kandidaten, wie es sie in allen anderen Parteien gibt. Und das ist für uns sehr wichtig."

    Wenig später sitzen Gennaro und Salvatore wieder im Auto, schlängeln sich durch den dichten Verkehr. Viele Familien kehren vom samstäglichen Wocheneinkauf heim. Gennaro Granato hat dafür keine Zeit:
    "Meine Frau unterstützt mich, vor allem lässt sie mich machen. Das hier ist für mich wie ein Kind, diese Fußballschule. Und nicht nur für mich. Der Trainer hat ein Geschäft und was macht er samstags? Er steht auf dem Fußballplatz und lässt seine Frau die Arbeit machen."
    Luigi Di Maio, Spitzenkandidat der populistischen "Fünf-Sterne-Bewegung"
    Spitzenkandidat der Fünf-Sterne-Bewegung: Luigi Di Maio (imago stock&people/ Giuseppe Ciccia)
    "Wer hier Respekt lernt, hat ihn später auch"
    Der Fußballplatz von Scampia ist umrahmt von Hochhäusern. Auf den Balkonen stehen Fahrräder und Kühlschränke, Wäscheständer und kaputte Mofas. Viele Wohnungen haben die Rollos komplett heruntergelassen. Gennaro Granato feuert die Spieler vom Spielfeldrand an. Er ist mindestens so engagiert wie Trainer Massimo di Sarra.
    In der ersten Halbzeit fallen zwei Tore für Scampia. Jedes wurde vom Mittelfeld aus vorbereitet, darauf ist Gennaro besonders stolz:
    "Fußball hat Regeln, Fußball ist ein Gruppenspiel. Wir wollen unseren Spielern Werte fürs Leben mitgeben. Wer hier Respekt vor seinen Mannschaftskollegen, vor dem Trainer und vor dem Gegner erlernt hat, der hat ihn auch später vor dem Arbeitskollegen, vor dem Chef."
    Scampia gewinnt das Spiel am Ende 4 zu 1. Heute gehen die jungen Männer hier als Sieger vom Platz.