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Anpfiff ohne Azzurri (3/5)
Ein Beispiel nehmen an den Jungs vom Krämerladen

Carmine arbeitet in einem Krämerladen in Neapel. Quittungen aller Art vermeidet er, die Steuern seien zu hoch. Der 28-Jährige kann sich in Rage reden, wenn es um Politik geht - und um die verpasste WM-Teilnahme: "Italien fördert seine jungen Spieler nicht, aber wir Jungen sind die Zukunft dieses Landes."

Von Kirstin Hausen |
    Die Jungs vom Krämerladen in Neapel: "Die Politik sollte sich ein Beispiel an uns nehmen"
    Die Jungs vom Krämerladen in Neapel: "Die Politik sollte sich ein Beispiel an uns nehmen" (Deutschlandradio/ Kirstin Hausen)
    Neapel um sieben Uhr morgens. Auf der Via Foria staut sich der Verkehr. Zwei Spuren, keine Lücke. Rechts und links zwängen sich die Motorroller vorbei. Vespas. Viele Vespas. Sie schlängeln sich durch, wo immer es geht. Rote Ampeln haben keine große Bedeutung. Am Straßenrand, in zweiter Reihe, parkt ein offener Lieferwagen.
    Flink laden zwei junge Männer aus: Getränkekisten, Kartons mit Schokoriegeln, Chips und Erdnüssen – alles verschwindet in der kleinen Bar "Sport" an der Via Foria. Tägliche Routine für Giuseppe Sbrescia und seinen Cousin Filippo. "Und dann heißt es, wir in Neapel wollen nicht arbeiten", sagt Filippo mit einem Augenzwinkern.
    Giuseppe, der Mannschaftskapitän aus Scampia, sitzt bereits wieder hinter dem Steuer und fädelt sich in den Verkehr ein. Die beiden wollen arbeiten, aber Jobs sind rar. 40 Prozent der arbeitsfähigen Italiener unter 25 Jahre sind laut Statistikamt erwerbslos. In Süditalien sind es noch mehr als im Landesdurchschnitt. Deshalb ist Giuseppe dankbar für den Fahrerjob, den ihm sein Onkel angeboten hat. Besser als nichts.
    Eine halbe Stunde später laden die Männer vor dem Krämerladen des Onkels den Rest aus: Kunstvoll stapeln sie Waschmittel, Nudelpakete, Kekspackungen und vieles mehr auf dem schmalen Gehsteig. Der Laden selbst ist winzig und bis zur Decke vollgestopft.
    "Man kennt sich, man vertraut sich"
    "Wir sind gut organisiert. Morgens bringen wir alles aus unserem Lager hierher, wir haben ein breites Angebot, eigentlich alles, was man braucht. Aber abgesehen davon bekommt man bei uns auch menschliche Wärme. Man kennt sich, man vertraut sich, man heult sich auch mal aus."
    Filippo ist 24 Jahre alt, klein und drahtig. Er wuselt zwischen den Kartons herum, bedient die Kundschaft, fast alles Frauen aus dem Viertel. Auch Carmela kauft hier ein:
    "Hier fehlt es nie an einem Lächeln. Und die Auswahl ist groß. Die Jungs sind hilfsbereit, freundlich und ich wohne hier direkt um die Ecke. Was soll ich zum Supermarkt fahren, wenn ich hier alles bekomme?"
    "Die Jungs" sind alle miteinander verwandt. Der Älteste ist Carmine, 28 Jahre alt, helle Augen, blond-rotes Haar. Für ihn ist das Geschäft hier in der Altstadt von Neapel kein Ort verpasster Chancen, er arbeitet gerne im Verkauf – und ist stolz:
    "In diesem kleinen Laden arbeiten acht bis neun Leute und zwar alles junge Leute. Die Politik sollte sich ein Beispiel an uns nehmen. Und auch die Fußballnationalmannschaft. Es gibt genug junge Talente. Dass sich Italien nicht qualifiziert hat, ist eine Tragödie für uns. Unsere Nationalmannschaft ist Emblem für das ganze Land. Wir haben so viele Probleme, in der Politik vor allem, das zeigt sich dann auch im Fußball."
    Durchwurschteln ohne Kassenbons
    Im Laden sitzt der Onkel hinter einer altmodischen Kasse, aber der Verkauf spielt sich größtenteils auf der Straße ab. Carmine verkündet die Preise, gibt aus der Hosentasche das Restgeld heraus und vermeidet Quittungen aller Art.
    "Es gibt zu viele und zu hohe Steuern, die wir zahlen müssen. So werden wir niemals die Wirtschaftsleistung erreichen, die Länder wie Frankreich oder Deutschland erbringen. Wir müssen ganz von vorne anfangen. Das Team neu aufbauen, wenn wir bei der Metapher des Fußballs bleiben wollen."
    Vielleicht braucht Italien aber auch eine neue Spielstrategie. Das Durchwurschteln ohne Kassenbons erinnert stark an die Taktik, auf einen Fehler des Gegners zu lauern und dann hinten dicht zu machen. Handeln aus der Defensive statt das Spiel - und das Leben - offensiv anzugehen.
    "Italien fördert seine jungen Spieler nicht, aber wir Jungen sind die Zukunft dieses Landes. Wohin das führt, hat uns die Nationalmannschaft gezeigt, in der zu viele alte Spieler sind. In der Politik ist es genauso: Berlusconi ist über 80 und kandidiert wieder, das ist doch absurd."
    Wahlkampf in Sizilien: Silvio Berlusconi steht in Jubelpose vor seinen Anhängern. Hinter ihm stehen die Namen Berlusconi und Musumeci, der als Kandidat des Rechtsbündnisses bei der Regionalwahl auf Sizilien gewann
    Silvio Berlusconi bei einem Wahlkampfauftritt in Sizilien (MAXPPP)
    "Die Politiker haben uns ruiniert"
    Carmine redet sich in Rage. Die Kunden umringen ihn mit ihren Einkaufstüten, bereit zum Applaus.
    "Die Politiker haben uns ruiniert, für mich sind das alles Taugenichtse. Wir wollen endlich das, was uns Bürgern zusteht. Wir Kaufleute werden nicht geschätzt, wir bekommen keine Anerkennung für das, was wir für dieses Land leisten. Und wer repräsentiert uns im Ausland? Das ist doch eine Schande. Im europäischen Kontext sind wir eines der unwichtigen, der wirtschaftsschwachen Länder, aber dieses Bild von Italien entspricht nicht der Realität – man braucht sich ja nur anzuschauen, was in unserem Laden jeden Tag los ist."
    Zustimmendes Nicken. Eine alte, zahnlose Frau kneift Carmine zärtlich in die Wange, dann schlurft sie mit ihren Einkäufen weiter. Der Fischhändler nebenan putzt seine Muscheln in einem Bottich auf der Straße, der Metzger zerteilt ein Schwein, die Bäckersfrau steht mit mehlweißen Händen vor dem Geschäft und raucht. Szenen wie aus einer anderen Zeit.