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Anpfiff ohne Azzurri (4/5)
Die besten Spieler gehen weg aus Italien

Student und Amateurkicker Giuseppe Gaudino liebt den Fußball. Es schmerzt ihn, dass Italien nicht bei der WM in Russland dabei sein wird. Sein Land - abgehängt, so wie der Stadtteil Neapels, aus dem er stammt. Berufliche Chancen sehen viele junge Hochqualifizierte nur im Ausland.

Von Kirstin Hausen |
    Giuseppe Gaudino sitzt in einer Vorlesung an der Universität von Neapel
    Amateur-Fußballer Giuseppe Gaudino studiert Rechtswissenschaften an der Universität von Neapel. "Ich muss mich mehr anstrengen als jemand mit Beziehungen", sagt er (Deutschlandradio/ Kirstin Hausen)
    Acht Uhr am Morgen. Giuseppe Gaudino, der Außenverteidiger des Fußballclubs der Pfarrgemeinde von Scampia, fährt zur Universität:
    "Ich stehe um sieben Uhr auf, nehme die U-Bahn. Um viertel nach neun beginnt die erste Vorlesung. In der Mittagspause bleibe ich an der Uni, um zu lernen. Abends fahre ich nach Hause und gehe dann noch auf den Fußballplatz. Wir trainieren drei Mal in der Woche und es wird fast immer spät, weil wir noch reden und Späße machen."
    Trotzdem verpasst Giuseppe fast kein Training. Er braucht den Sport als Ausgleich, er braucht aber auch die Freunde in Scampia, um seine Herkunft nicht zu vergessen. Er ist ein Pendler zwischen zwei Welten. Zwischen der Peripherie, die sich abgehängt fühlt, als Tabellenletzter, zurückgelassen von der allgemeinen Entwicklung, und dem Zentrum. Die Universität liegt im Herzen von Neapel. Hier pulsiert das Leben.
    "Es gibt noch ein paar andere Studierende aus Scampia an meiner Fakultät, aber wir sind hier ganz klar die Ausnahme. Wir sind nicht daran gewöhnt, Träume zu haben. So trist wie wir aufwachsen, so ist auch unsere Mentalität. Von 3.000 entwickeln ein oder zwei berufliche Ambitionen, wollen etwas erreichen. Der Rest erwartet sich nichts vom Leben, gar nichts. Und das wird als natürlich empfunden."
    "Überall gibt es Vetternwirtschaft. Sogar im Fußball"
    Giuseppe Gaudino studiert Rechtswissenschaften. Er ist 21 Jahre alt und im dritten Studienjahr. Dunkles Haar, spärlicher Bartwuchs, große Brille mit schwarzem Rahmen. Ein typischer Student.
    "Ich muss mich mehr anstrengen als jemand mit Beziehungen. Das macht mich wütend. Warum muss ich mehr leisten als ein Student, dessen Vater Anwalt ist? Überall gibt es Vetternwirtschaft. Sogar im Fußball! Die Brüder der Topspieler Cannavaro und Inzaghi sind gut bezahlte Fußballprofis geworden, obwohl sie mittelmäßig sind, die könnten eher bei uns mitspielen."
    Giuseppe liebt den Fußball. Und es schmerzt ihn, dass Italien nicht bei der WM in Russland dabei sein wird. Sein Land - abgehängt, so wie Scampia.
    Die Universität von Neapel ist mehr als 700 Jahre alt und mit 78.000 Studierenden eine der größten Italiens. In der großen Aula werden heute mündliche Prüfungen abgehalten.
    "Dort steht auf Latein: Das Gesetz ist für alle gleich. So müsste es sein. Aber die italienische Justiz hat dieselben Fehler wie das ganze Land. Wer Geld hat, kommt voran."
    Giuseppe öffnet vorsichtig die Tür, Zuschauen ist erlaubt. Sein Blick fliegt über die Anwesenden. Kein bekanntes Gesicht. Er schließt die Tür. Dann kontrolliert er die Prüfungstermine am schwarzen Brett. Sie stehen auch online auf der Seite der Fakultät. Giuseppe schaut auf sein Handy. Ein Kommilitone fragt per SMS, ob sie zusammen für die Prüfung nächste Woche lernen wollen. Giuseppe Gaudino verabredet sich mit dem Freund in der Caffetteria.
    Die Schlagzeilen sind vom Wahlkampf geprägt
    Nur wenige Tische sind besetzt. In der Prüfungszeit ist hier deutlich weniger los als in der Vorlesungszeit. Giuseppe blättert in der Tageszeitung. Die Schlagzeilen sind vom Wahlkampf geprägt, Berlusconi wettert gegen die Steuern, Renzi gegen die ausländerfeindlichen Parolen der Lega Nord, der Spitzenkandidat der 5-Sterne-Bewegung gegen Renzi, Berlusconi und die Lega Nord. Die meisten Leser würden einfach dem glauben, der ihnen am sympathischsten ist, meint Giuseppe:
    "Italiens größtes Problem ist ein kulturelles. Die Leute sind nicht daran gewöhnt, sich zu informieren. Auch die jungen Leute lesen wenig. Unser Bildungsstand ist niedrig. Im Zeitalter der neuen Medien, wo falsche Nachrichten sich wie ein Lauffeuer verbreiten, braucht man ein kritisches Bewusstsein. Es geht darum, nicht alles zu glauben, sondern abzuwägen. Aber dieses kritische Bewusstsein fehlt vielen Italienern, im Vergleich zum Rest Europas hängen wir da Jahre hinterher."
    Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi nach seiner Rücktritts-Ankündigung im Palazzo Chigi in Rom
    2016 war Matteo Renzi als Ministerpräsident Italiens zurückgetreten. Jetzt will er zurück ins Amt. (AFP/ Andreas Solaro)
    Nur im Ausland eine Zukunft?
    Giuseppe Gaudino will nicht in Italien bleiben. "Natürlich tut es mir leid, wegzugehen, weil ich hier meine Familie und meine Wurzeln habe. Aber ich möchte nicht, dass meine Kinder hier aufwachsen. Sie sollen alle die Möglichkeiten haben, die jeder europäische Bürger hat und nicht all die Probleme, mit denen ich zu kämpfen habe."
    Der junge Mann ballt die Hand zur Faust. Seine Generation habe nur im Ausland eine Zukunft, das sei allen klar, die etwas aus ihrem Leben machen möchten, sagt er. "Eine ehemalige Mitschülerin von mir studiert Biotechnologie allein deshalb, um nach dem Abschluss im Ausland gute Karrierechancen zu haben. Absurd eigentlich. Aber so ist das. Viele Italiener suchen ihre Studienfächer danach aus, was im Ausland gefragt ist."
    Giuseppe Gaudino dreht den Kopf zur Tür. Sein Kommilitone steht dort und zeigt auf die Uhr. Zeit, sich über die Bücher zu beugen.